Antirepression

ANGST ESSEN FREIHEIT AUF: KONTROLLWAHN IN ANARCHISTISCHER THEORIEN UND PRAXIS

Gegenentwürfe: Herrschaftskritische Positionen


1. Anarch@s für Kontrolle
2. Anarchismus von Polizei bis Knast
3. Spätestens in der Krise: Demokratisierung von Entscheidungsprozessen
4. Naives Machtverständnis: Hierarchien schöngeredet
5. Gegenentwürfe: Herrschaftskritische Positionen
6. Links

So ernüchternd diese Bilanz klingt, so bleibt sie doch uneinheitlich. Mitunter treten die Widersprüchlichkeiten innerhalb der anarchistischen Texte selbst auf und zeigen damit, dass auch die einzelnen AutorInnen von Zweifeln geplagt werden, ob der schnelle Ruf nach Regeln und Kontrolle wirklich die Lösung sein könne - zumindest aus dem Blickwinkel der Anarchie. Oft stehen Anspruch und dann die Wirklichkeit des eigenen Konzeptes in einem bizarren Missverhältnis zueinander und es scheinen vor allem Mut und Kreativität zu fehlen, das Praktische aus dem Ziel abzuleiten. Dann würde nicht wie im Strafgesetzbuch die Was-wäre-wenn-Frage in Form quantifizierbarer Sanktionsgewalt beantwortet, sondern auf den Wert kommunikativer Prozesse und gesellschaftlicher Entwicklung gesetzt.

Im Original: Innere Zweifel an autoritären Konzepten
Aus Stehn, Jan: "Anarchismus und Recht" in der sich als anarchistisch bezeichnenden GWR, Nr. 216, Februar 1997
Der Gedanke, daß Menschen, die die Freiheit anderer verletzen und mißachten, selber keinen Anspruch mehr auf ihre Freiheitsrechte haben, hat eine überzeugende Logik. Viele AnarchistInnen werden etwa einem Faschisten kaum Freiheitsrechte zuerkennen wollen. Ich bin da allerdings anderer Meinung. Wenn wir anderen Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht aberkennen, dann stellen wir uns über sie – was der Idee des Anarchismus widerspricht. Wir haben das Recht, unsere Freiheitsrechte zu verteidigen und ungerechte Macht anderer zurückzuweisen. Aber das anarchistische Recht legitimiert niemanden, die Freiheitsrechte anderer zu verletzen. Strafjustiz ist unvereinbar mit dem Anarchismus.
Verteidigung der Freiheit kann nicht bedeuten, den Gegner meiner Freiheit zu vernichten oder mir zu unterwerfen, sondern seine Macht zu begrenzen und ihn zu zwingen, die Grundsätze friedlichen Nebeneinanders einzuhalten. Die Mittel des anarchistischen Freiheitskampfes sind an diesem Ziel orientiert. Der Widerstand gegen maßlose Machtansprüche erfolgt vor allem mit Kampfmethoden die im Selbstbestimmungsrecht wurzeln: Das Recht, die Zusammenarbeit aufzukündigen und zu verweigern, also Boykott, Streik, Ziviler Ungehorsam. Weitergehend sind 'Direkte Aktionen', mit denen durch Besetzung, Blockade und Sabotage in ungerechtfertigte Eigentumsansprüche anderer eingegriffen wird. Gibt es in einer Gesellschaft einen breiten anarchistischen Grundkonsens ist gewaltfreier Widerstand wirksam genug, um das Selbstbestimmungsrecht selbst gegen Gewalt zu verteidigen.


Erich Mühsam, zitiert nach: Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 11 f.)
Die Verneinung der Macht in der gesellschaftlichen Organisation ist das maßgebliche Wesensmerkmal der Anarchie, oder, um dieser verneinenden Erklärung die bejahende Form zu geben: der Anarchismus kämpft anstatt für irgendeine Form der Macht für die gesellschaftlich organisierte Selbstverfügung und Selbstentschließung der Menschen. Unter Macht ist jede Inanspruchnahme oder Einräumung von Hoheitsbefugnissen zu verstehen, durch die die Menschen in regierende und regierte Gruppen getrennt werden.

Ebenso finden sich in einigen Schriften Zweifel, ob Metastrukturen mit Machtmitteln helfen können. Offensiv formulierte das Christoph Spehr in seinen Grundlegungen zur freien Kooperation. Das wäre eigentlich ein interessantes Theoriewerk für AnarchistInnen. Diskutiert wurde es aber in herrschaftskritischen Kreisen marxistischer bis bürgerlicher Herkunft. Das mag damit zusammenhängen und/oder dazu beigetragen haben, dass Spehr Funktionär der Partei "Die Linke" wurde und heute selbst nötig hätte, seine eigenen Bücher zu lesen. Denn längst ist er, um bei seinen Bildern zu bleiben, "Alien unter uns". Das sein Buch wenig LeserInnen in anarchistischen Zusammenhängen fand dürfte allerdings vornehmlich an deren Theoriefeindlichkeit oder -ferne liegen.

Im Original: Kontrollierenden Überbau hilft nicht
Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin
Aufgrund der Komplexität von Herrschaftsinstrumenten ist das Gewaltmonopol übergeordneter Strukturen keine Lösung; es dient denen, die auf den anderen Ebenen (denen außer der "militärischen") Vorteile haben und zur Anwendung bringen. Auch auf den anderen Ebenen von Herrschaftsinstrumenten bringt eine Politik, die der des Gewaltmonopols entspricht, keine Lösung – wir wissen heute, dass die Verstaatlichung von produktivem Eigentum und ökonomischer Verfügung an sich keineswegs bewirkt, dass strukturelle Unterordnung verschwindet. ... Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten bildet daher einen wesentlichen Bereich linker Politik, einer, die auf das Ziel von Freiheit und Gleichheit abzielt bzw. auf das Ziel freier Kooperation. Dies kann bereits festgehalten werden, auch wenn Abwicklung keineswegs ausreicht. ... (S. 35f.)
Eine Freiheit aber, deren Grenzen von einer übergeordneten Instanz "erkannt" und gesetzt würden, wäre totale Unfreiheit
dieser Instanz gegenüber.
(S. 43)
Die Theorie der freien Kooperation ... rät, das Recht zu verhandeln keinesfalls an irgendwelche Strukturen formalisierter Entscheidungsfindung, an irgendwelche übergeordnete Instanzen, an irgendwelche Chef- und Vordenker abzugeben. ... (S. 57)
Wenn wir also fragen: Wer entscheidet denn, was ein vergleichbarer und vertretbarer Preis für alle Beteiligten ist, eine Kooperation zu verlassen oder Kooperationsleistungen einzuschränken?, dann lautet die Antwort: Die Menschen selbst, und sie können sich dabei irren. Niemand kann ihnen diese Entscheidung abnehmen. Es gibt keine Instanz, die mit absoluter Verbindlichkeit und Sicherheit an ihrer Stelle entscheiden könnte. Es gibt kein Monopol, weder auf die Theorie noch auf korrekte Schlussfolgerungen daraus. ... (S. 65)

Monika Grosche schrieb 2003 in"Anarchismus und Revolution" (Syndikat A in Moers, S. 20), dass "eine anarchistische Gesellschaft ... nur auf der Basis von Freiwilligkeit beruhen" kann. "Niemand wird gezwungen, sich ihr anzuschließen, sich zu förderieren, vielmehr geht der Anarchismus von der Macht des Beispiels aus." Mit vielen ihrer konkreten Vorschläge vertreten AnarchistInnen jedoch andere Theorien, z.B für Rätesysteme (hierarchisch), Basisdemokratie oder Demokratie als System oder für Kontrolle und Sanktion als Methode. Nur wenige deutschsprachige AutorInnen haben in der Vergangenheit gewagt, einmal Entwürfe für eine Welt jenseits von Norm und Überwachung zu entwerfen. Dazu gehört bolo'bolo von P.M., der auch in anderen Werken offensiv seine Vorliebe für dynamische und unverregelte Gesellschaften benannte, und mit Abstrichen Horst Stowasser, der in einigen seiner Veröffentlichungen über die spießigen AnarchistInnen lästert, die sich immer wieder von ihrer eigenen Angst fangen lassen und dann rückwärtsgewandte Theorien und Konzepte vertreten.

Zum nächsten Text über den Militanz und Gewaltfreiheit, dem fünften im Kapitel über Strategien.

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