Antirepression

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

Von Sündenböcken und fragwürdigen Ursachen


1. Eine gewaltfreie Welt ... und wie man das nicht erreicht
2. Von Gewalt, Kriminalität und was davor geschieht
3. Von Schuld und Verantwortung
4. Von Verbrechen und wie man sie verarbeitet
5. Von Sündenböcken und fragwürdigen Ursachen
6. Das Recht – wessen Recht?
7. Ich will nur das Beste für dich!
8. Von Rache und Gerechtigkeit
9. Die alles entscheidende Frage
10. Von Reformen und wie es sein sollte

In einer solchen Situation, wo man plötzlich nach Ursachen suchen musste, weil die Strafjustiz das Erklärungsbedürfnis der Bevölkerung nicht mehr abdecken konnte, war man nach dieser Vergewaltigungsserie an Schweizer Schulen. Aber selbstverständlich hatte man auch dort ein Interesse, mit der Ursachenforschung nicht zu tief zu gehen und nach Möglichkeit an der Oberfläche zu bleiben. Diese Oberfläche war dann auch gefunden, nach dem die Schweizerische Volkspartei die Gräueltaten den Jugendlichen ausländischer Herkunft zugeschrieben hat und somit eine propagandatechnisch geschickte Ursache für Verbrechen fand: Ausländer. Dass dies keine eigentliche Ursache sein kann, da Ausländer nicht per se kriminell sind, sondern lediglich häufiger als Schweizer in einem sozialen Umfeld leben, welches Kriminalität geradezu produziert, bedarf wohl keiner weiteren Erklärung.

Ein weiteres äusserst interessantes Beispiel für dieses „Sündebock-Prinzip“ bei der Erklärung von Verbrechen bietet der Amoklauf des 18-Jährigen deutschen Realschülers Sebastian Bosse. Am 20. November 2006 verletzte der bekannte Aussenseiter in Emsdetten (Nordrhein-Westfalen) an seiner alten Schule fünf Menschen durch Schüsse, bevor er sich selbst richtete. Er war „ausgestattet mit zwei Gewehren, zwei weiteren Waffen, einem Messer am Hosenbein, drei Rohrbomben am Körper, zehn weiteren und einem Molotowcocktail im Rucksack – vermummt mit Handschuhen und Gasmaske.“[1] Der Amoklauf war lange im Voraus geplant und schockierte ganz Deutschland. Es war nach dem Amoklauf von Erfurt (2002), wo 16 Menschen ums Leben kamen, das zweite Ereignis in dieser Art.

Als Motiv für die Tat nannte die Staatsanwaltschaft einen „allgemeinen Lebensfrust“[2], und nachdem die ersten Einzelheiten über den Täter an die Öffentlichkeit gelangten war, der Sündebock bei den Politikern erkannt: Killerspiele. Das Onlinemagazin TELEPOLIS titelt bereits einen Tag nach der Tat:

Die politischen Schnellschüsse nach dem erfreulicherweise eigentlich misslungenen Selbstmordattentat des 18-Jährigen in Emsdetten waren zu erwarten und sind ebenso vorhersagbar wie die Reaktionen, die auf jeden erfolgten oder geplanten Terroranschlag folgen. Nachdem der Schüler, der sich als Loser empfand, [...] wohl Gefallen an Computerspielen wie Counterstrike oder Doom fand, sollen nun wieder einmal die "Killerspiele" verboten werden.

Für die Bevölkerung ist somit der Erklärungsbedarf gedeckt – und damit keine Zweifel an der Killerspiel-These entstehen, werden umgehend alle Websites und Foreneinträge des Amokläufers durch die Ermittlungsbehörden aus dem Netz entfernt, auf denen er über die Vorgeschichte seiner Tat berichtete. Der Abschiedsbrief des „Bastian B.“ gelangte aber über TELEPOLIS dennoch an die Öffentlichkeit und wurde sogar durch den Deutschen Fernsehsender RTL veröffentlicht – allerdings stark zensuriert. So wurden gesellschaftskritische Abschnitte weggelassen oder sinnverfälscht.[3] Ebenso erging es der Veröffentlichung in der Bild-Zeitung.[4] TELEPOLIS kommentiert den Entscheid, als erstes Magazin den Abschiedsbrief abzudrucken mit folgenden Worten:

Unverständlich ist, warum nicht nur die Videos, sondern auch der Abschiedsbrief des Amokläufers schnell aus dem Web beseitigt wurde. Es ist ein Dokument, das die Motive und die Verzweiflung des 18-Jährigen deutlich werden lässt, vor allem auch, dass es nicht wirklich um Killerspiele geht, wie manche Politiker dies meinen. Der Brief schildert sicherlich die Erfahrungen eines Jugendlichen, wie sie nicht nur er macht. Er zeigt die gesellschaftlichen Hintergründe und Zwänge, an denen manche Jugendliche – nicht unbedingt die Schlechtesten – verzweifeln, weil sie keinen aufrechten Ausgang aus der Situation finden und ihnen nirgendwo einer angeboten wird. [...] Anstatt selbst argumentativ und erklärend loszuschießen, sollte man auch einmal kurz zuhören.[5]

Aus diesem Grund sollen auch hier einige Auszüge aus dem Abschiedsbrief zitiert werden:

„Man hat mir gesagt ich muss zur Schule gehen, um für mein leben zu lernen, um später ein schönes Leben führen zu können. Aber was bringt einem das dickste Auto, das grösste Haus, die schönste Frau, wenn es letztendlich sowieso für'n Arsch ist. Wenn deine Frau beginnt dich zu hassen, wenn dein Auto Benzin verbraucht das du nicht zahlen kannst, und wenn du niemanden hast der dich in deinem scheiss Haus besuchen kommt!

Das einzigste was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe war, das ich ein Verlierer bin. Für die ersten Jahre an der GSS stimmt das sogar, ich war der Konsumgeilheit verfallen, habe danach gestrebt Freunde zu bekommen, Menschen die dich nicht als Person, sondern als Statussymbol sehen.

Aber dann bin ich aufgewacht! Ich erkannte das die Welt wie sie mir erschien nicht existiert, das sie eine Illusion war, die hauptsächlich von den Medien erzeugt wurde. Ich merkte mehr und mehr in was für einer Welt ich mich befand. Eine Welt in der Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten, und die richtigen "Freunde".

[...]Ich habe in den 18 Jahren meines Lebens erfahren müssen, das man nur Glücklich werden kann, wenn man sich der Masse fügt, der Gesellschaft anpasst. Aber das konnte und wollte ich nicht. Ich bin frei! Niemand darf in mein Leben eingreifen, und tut er es doch hat er die Konsequenzen zu tragen! Kein Politiker hat das Recht Gesetze zu erlassen, die mir Dinge verbieten, Kein Bulle hat das Recht mir meine Waffe wegzunehmen, schon gar nicht während er seine am Gürtel trägt.

Wozu das alles? Wozu soll ich arbeiten? Damit ich mich kaputtmaloche um mit 65 in den Ruhestand zugehen und 5 Jahre später abzukratzen? [...] Was hat denn das Leben bitte für einen Sinn? Keinen! Also muss man seinem Leben einen Sinn geben, und das mache ich nicht indem ich einem überbezahlten Chef im Arsch rumkrieche oder mich von Faschisten verarschen lasse die mir erzählen wollen wir leben in einer Volksherrschaft.

Nein, es gibt für mich jetzt noch eine Möglichkeit meinem Leben einen Sinn zu geben, und die werde ich nicht wie alle anderen zuvor verschwenden! Vielleicht hätte mein Leben komplett anders verlaufen können. Aber die Gesellschaft hat nun mal keinen Platz für Individualisten. Ich meine richtige Individualisten, Leute die selbst denken, und nicht solche "Ich trage ein Nietenarmband und bin alternativ" Idioten!

Ihr habt diese Schlacht begonnen, nicht ich. Meine Handlungen sind ein Resultat eurer Welt, eine Welt die mich nicht sein lassen will wie ich bin. Ihr habt euch über mich lustig gemacht, dasselbe habe ich nun mit euch getan, ich hatte nur einen ganz anderen Humor!

Von 1994 bis 2003/2004 war es auch mein Bestreben, Freunde zu haben, Spass zu haben. Als ich dann 1998 auf die GSS kam, fing es an mit den Statussymbolen, Kleidung, Freunde, Handy usw.. Dann bin ich wach geworden. Mir wurde bewusst das ich mein Leben lang der Dumme für andere war, und man sich über mich lustig machte. Und ich habe mir Rache geschworen!

Diese Rache wird so brutal und rücksichtslos ausgeführt werden, dass euch das Blut in den Adern gefriert. Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich nie wieder ein Mensch vergisst!

Ich will das ihr erkennt, das niemand das Recht hat unter einem faschistischen Deckmantel aus Gesetz und Religion in fremdes Leben einzugreifen!

[...]

Das Leben wie es heute täglich stattfindet ist wohl das armseligste was die Welt zu bieten hat! S.A.A.R.T. – Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod Das ist der Lebenslauf eines "normalen" Menschen heutzutage. S.A.A.R.T. beginnt mit dem 6. Lebensjahr hier in Deutschland, mit der Einschulung. Das Kind begibt sich auf seine persönliche Sozialisationsstrecke, und wird in den darauffolgenden Jahren gezwungen sich der Allgemeinheit, der Mehrheit anzupassen. Lehnt es dies ab, schalten sich Lehrer, Eltern, und nicht zuletzt die Polizei ein. Schulpflicht ist die Schönrede von Schulzwang, denn man wird ja gezwungen zur Schule zu gehen. [...]“[6]

Soviel zur Situation des Sebastian Bosse – Amokläufer in Emsdetten. Jetzt zur Art, wie das Verbrechen durch die Gesellschaft verarbeitet wird. Diese ist für unsere Analyse nämlich äusserst interessant. So wird der Täter in den Medien als verwirrt, verzweifelt und gewaltverherrlichend charakterisiert. Die Tat wird auf die persönliche Unfähigkeit des Täters zurückgeführt, sich sozial verhalten zu können. Als primärer Auslöser der Tat nannte man schliesslich die Killerspiele[7] – womit man politische Aufmerksamkeit erregen konnte, weil es darum ging, etwas „Schlechtes“ zu verbieten.

[1] Spiegel Online, 21. November 2006 [www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,449738,00.html]

[2] Der Tagesspiegel, 21. November 2006, S. 1

[3] Ein Vergleich der beiden Fassungen auf: renephoenix.de/?bid=1501

[4] www.bild.t-online.de/BTO/news/aktuell/2006/11/21/amoklauf-schule-emsdetten/hg-abschiedsbrief.html

[5] www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24032/1.html

[6] Der Vollständige Abschiedsbrief (hier sind nur die relevanten Äusserungen in Bezug auf die Gesellschaft abgedruckt) findet sich auf www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24032/1.html

[7] Spiegel Online, 21. November 2006, „Politiker streiten sich über den Umgang mit PC-Killerspielen“ (www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,449729,00.html)

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