Projektwerkstatt

IMPRESSIONEN GEGEN DEN KNAST

Teil 4: Knast-Logiken


1. Teil 1: Knastanfang und -alltag
2. Teil 2: Zahlen
3. Teil 3: Die Regeln des Gefängnisses
4. Teil 4: Knast-Logiken
5. Teil 5: Innere Disziplinierung
6. Teil 6: Steigerungen
7. Teil 7: Wem dienen Knast und Strafe?
8. Teil 8: Die Folgen des Strafvollzugs

Auswahl nicht eingerückt, Rest als eventueller zusätzlicher Text
Aus der Broschüre "Knast" und dem dortigen Bericht "8 Tage U-Haft Stammheim" (Gesamter Text, Bezug über www.aktionsversand.siehe.website)
Der Stuttgarter U-Haft-Knast ist kein unbekannter. In Stammheim saßen und starben Baader, Meinhof und andere. Bei der Einfahrt in den Knast kann ich das nicht bewundern. Weiter in Handschellen und ohne Brille, die mir schon im Polizeirevier genommen wurde ebenso wie alle Telefonnummern, Uhr usw., poltert der Gefangenentransporter in den Hof. Nochmal werde ich kontrolliert, darf duschen und muß Personalien benennen. Aus der Plastiktüte mit den Affekten, wie im Knastjargon all das heißt, weil mensch neben seiner Kleidung bei sich trägt und ihm meist komplett abgenommen wird, erhalte ich ein paar unwichtige Papiere, Taschentücher und ein Halstuch zurück. „Wo sollen wir Sie denn hinverlegen?“ fragt ein Beamti. Habe ich irgendwelche Wünsche, denke ich nach. „Wenn´s geht, zusammen mit Nichtrauchern“. „Da haben wir nur eine Zelle voll Neger“, bemerkt der Beamte – und vom Nebentisch schallt es herüber: „Stehen Sie auf schwule Neger?“ Hier wird’s nicht so lustig, denke ich, und streite mich mit den Rassistis über ihre Sprüche. Es bleibt nicht die einzige Diskriminierung, die ich in den wenigen Tagen im Knast mitbekomme. Homophobie zeigt sich, als ein Beamti auf dem Flur einen Knacki anmacht: „Bin ich ein warmer Bruder?“ Und starre Geschlechterzuweisungen finden sich in der Hausordnung: Nur „weibliche Gefangene“, die in Stammheim in einem Extra-Bau sitzen, dürfen sich Parfüm, Nagellack, Lippenstift und Make-up kaufen.

Die Beamtis wollen Fotos und manches mehr von mir, sind aber nicht sehr nachdrücklich und gehen so leer aus. Es geht weiter von Raum zu Raum, irgendwo erhalte ich einen Bestand an Wäsche, Bettwäsche, Handtüchern usw. aus der Kammer, d.h. dem Kleiderlager des Knastes. Das ist für mich alles nicht neu. Meine eigene Kleidung kann ich behalten, weil ich „nur kurz“ da sein werde.
Per Fahrstuhl bringt mit ein Beamter zu den „Negern“. In deren Zimmer soll ein Fernseher sein und dafür soll ich zusätzlich bezahlen. Im Knast hat ein Elektrohändler das Monopol. Eigene Geräte sind nicht erlaubt, aber das Anmieten bei einem kommerziellen Händler. Da greifen sie bei den Gefangenen deren Geld wieder ab, was viele bei minimalen Stundenlöhnen zu erarbeiten versuchen. Das ist nicht anders beim zweiwöchentlichen Einkauf, wenn die Knackis, so die Selbstbezeichnung der Gefangenen, vor allem nach Tabak lechzen und damit das meiste ihres angesammelten Kleingeldes dem Staat als Steuern wiedergeben.
Ich bemerke, daß mich ein Fernseher gar nicht interessiert. Da ändert der Beamte seinen Plan und bringt mich wieder nach unten ins Erdgeschoß. Dort sitzen die Neuzugänge und all die, die auf Haftplätze in anderen, überfüllten Gefängnissen warten. Sie haben keine Fernseher. Und dorthin komme ich – ganz am Ende des Erdgeschoßflures im Nordflügel von Stammheim. ...
Kurze Zeit später kamen meine Zellenkollegen nacheinander von verschiedenen Terminen, u.a. Arztbesuch, im Knast zurück. Die Begrüßung fiel eher zurückhaltend aus. Was ich nicht wußte, war der Grund: Die beiden lagen schon länger auf der Zelle. Einer wartete auf einen freien Platz in einem anderen Knast, der andere sollte in Stuttgart Zeugenaussagen machen. Neben ihnen war ein ständiges Kommen und Gehen in der Zelle. Das Erdgeschoß war, wie ich von ihnen erfuhr, der Zugangsbereich – d.h. hier wurden neu Verhaftete für die erste Nacht eingesperrt. Darunter waren immer wieder Drogenabhängige, die dann voll auf Entzug standen, die Zelle vollkotzten – Knast ist nicht nur langweilig, sondern zuweilen auch sehr anstrengend. Spontane Sozialarbeit hinter Stahltüren ...
Mir schien, die beiden waren nach kurzer Zeit auch zufrieden, daß zu erwarten war, daß ich dort bleiben würde und wir zu dritt die nächste Woche organisierten. Einer stellte schnell die Frage, die für die nächsten Tage prägend war: „Kannst Du Skat?“. Ich bejahte – das letzte Mal hatte ich vor fünf Jahren gespielt, im Knast von Gießen. Aber Skat war besser als alles andere. Langeweile und Leere, die der Knast schafft, ist das Bedrückende. ...


Zentrales Merkmal im Knast ist der Faktor Zeit. Sie rumzukriegen und ständig auf der Hatz zu sein, irgendeine kleinste Verbesserung der Lebensbedingungen zu erreichen, ist alles, was im Knast abläuft. Der Tagesablauf ist eintönig und absurd. Um 5.45 Uhr wurde per Piepston aus dem Zellenlautsprecher geweckt. Um 6 Uhr ging die Tür auf und Frühstück wurde gereicht. Wer da wieder eingeschlafen war, ging leer aus. Zu dritt teilten wir uns den Morgendienst aber so ein, daß wir es nie verpaßten. Wer noch nicht richtig angezogen war, bekam auch nichts – aber irgendwie fand ich beim Nachdenken immer, daß es falsch ist, die einzelnen Absurditäten aufzuzählen, weil dahinter verborgen wird, daß alles absurd ist. Um 9.15 Uhr begann der einstündige Hofgang für unseren Trakt, ca. 30 Menschen lagen in der Sonne, die meist schien, oder gingen im Kreis. Einige spielten Schach oder joggten. Ich fand nur zögerlich Kontakte zu den Menschen, dann aber konnte ich intensive Gespräche über Knastalltag und die „Knastkarrieren“ führen.
Um 11 Uhr gab es Mittag, immer konnte mensch vegetarisch bestellen – und das war meist auch das relativ beste. Fleischkost hieß hier „Normalkost“, Standardisierungen, das Erklären von „normal“ und nicht normal gehört zu den Herrschaftsmustern dieser Welt. Zwischen 14 und 15 Uhr folgte das Abendessen. Mehr als diese viermal öffnete sich die Zellentür nicht, es sei denn, ein Neuzugang kam für eine Nacht in die Zelle oder jemand bestellte eine Kopfschmerztablette – weil der Kopf dröhnte oder die Langeweile nicht mehr auszuhalten war.


Am Sonntag war dann alles gaaaaaaanz anders. Frühstück um 7 Uhr, Hofgang erst nach dem Mittag. Am Samstag gab es für den fernseherlosen Erdgeschoßbereich einen Videofilm auf dem Gang – passend ein platter Ballerfilm von einigen Knastausbrechern, die einen Zug kapern. Sonst in Stammheim nichts Neues. ...
Der Alltag im Knast stellte für mich als jemanden, der feindlich jeder Verregelung und fremdbestimmten Arbeit gegenübersteht, einen totalen Bruch dar. Mit der Aussicht auf maximal eine Woche Aufenthalt konnte ich mich vor einem mentalen Loch retten, auch wenn immer wieder stumpfsinnige Stunden den Tag prägten. Wir spielten bis zu 8 Stunden Skat am Tag, ab dem dritten wurden zwei von uns, auch ich, immer müder davon und am letzten Tag waren es nur noch zwei Stunden. ...


Ich lernte nur eine Person kennen, die das erste Mal im Knast war. Alle anderen kehrten immer zurück, einer im Anfang-30er-Alter schon das 18. Mal, ein anderer, ganz alter Mann, das 16. Mal mit insgesamt 29 Knastjahren. Er kam als Zugang auf unsere Zelle, verbrachte dort eine Nacht und berichtete, daß er vor 11 Tagen entlassen wurde und nun wegen gefährlicher Körperverletzung nach einer Kneipenschlägerei wieder einige Jahre zu erwarten hat. Aber er nahm das recht gleichgültig hin. Der Knast war sein Leben geworden. Viele von denen, die ich sprach, hatten draußen kein soziales Umfeld mehr.

Aber sie kannten die Menschen im Knast, ihre Gewohnheiten. Manche kannten noch die Zeit der Terrorismus-Prozesse und berichteten von den Vorgängen, wie andere aus ihrer Verwandtschaft erzählen. Der Knast war ihre Heimat geworden, die Menschen dort ihre Familie. Die Trennung von der Außenwelt hatte ihr soziales Umfeld abbrechen lassen. Es gab nichts mehr, warum sie klar die knastfreie Zeit als sinnvoller für sich empfinden würden. Knast schürt bei ihnen keine Angst mehr, es ist das Gewohnte – fast wehte ein Hauch von Geborgenheit gegenüber der Fremde da draußen. Knast macht sog. „Kriminelle“, indem er den Menschen sozial entwurzelt und das Wechseln von Knast und strafbaren Handlungen in der relativen Freiheit draußen zur Alltagsroutine werden läßt.
Nur wenige träumten vom Leben draußen, hatte Pläne oder vielleicht eine Liebe, auf die sie warteten und von der sie hofften, daß sie auch auf sie warten würde. Fotos halfen über die Tage, die Hoffnung auf Briefe füllte ihre Gedanken. ...
Wer im Knast lebt, wird aus allen Beziehungen gerissen. Angesichts der dominanten Heterosexualität und der im Knast verbreiteten Homophobie, die schwule Knackis lieber schweigen läßt, findet nur das Gespräch über Frauen statt. Mein erster Knastaufenthalt vor fünf Jahren hatte mich zunächst schockiert. Frauen waren Objekt der Begierde und der Reduzierung auf ihren Körper. Von ihnen, selbst von einer Freundin, die draußen wartete, wurde nur mit dem Begriff „Fotze“ gesprochen. Das widerte mich an, ich protestierte. Ich wollte aber genauer hinsehen und auch reden mit denen, die so dachten und sprachen. Das hat einiges offenbart. Das schnelle Urteil dessen, der seine Beziehungen selbst organisieren kann oder, wie ich, aus freiem Entschluß bzw. den Ängsten, daß alles so wird wie ich bei anderen beobachte und selbst hinter mir habe, auf Distanz bleibt, paßt nicht auf die Situation im Knast. Hier herrscht eine Mischung aus Sehnsucht und Sexismus, die verschmolzen sind. Wenn ein Knacki eine Halsschmerztablette anfordert, um durch die kleine Klappe in der Zellentür einmal am Tag auf das Gesicht der Ärztin gucken zu können, so fällt es mir inzwischen schwer, das als Sexismus zu begreifen. Und wenn sich Gefangene über eine Beamtin unterhalten, die sie als attraktiv empfinden, so denke ich da ähnlich drüber.
Ich war erleichtert, daß in meiner Zelle Pornos usw. fehlten. Frauen hießen trotzdem „Fotzen“, aber ich konnte darüber reden und wir waren uns einig, daß nicht mehr zu tun. Doch die Träume und Sehnsüchte konnte und wollte ich niemandem nehmen – und sie als Sexismus zu verteufeln, wäre die Arroganz von Mittelstandslinken, die solche Lebensbedingungen wie im Knast nicht kennen.
Was man wohl kaum erwähnen muß ist, daß die Knäste fein säuberlich nach Männern und Frauen getrennt sind. Wer da nicht reinpaßt, hat Pech gehabt. Nur in den Frauenabteilungen gibt es die Möglichkeit, „eigene“ Kinder mitzunehmen – eine deutliche Aussage über die patriarchale Rollenzuweisung in dieser Welt. ...
Wer Knacki ist, ist ganz unten. Nur noch die anderen Knackies bleiben als mögliche Opfer fortgesetzter Unterdrückung, also der bekannten Radfahri-Figur: Nach oben buckeln, nach unten treten. ... In den Arbeiti-Gruppen aber gab es sogar oft formale Hierarchien, modernes Knastmanagement schafft Unsolidarität und läßt die Knackis sich selbst kontrollieren. Wenn die Knacki-Chefs die anderen zum Arbeiten bringen, bekommen sie Vergünstigungen. Wenn die Knacki-Arbeitis viel schaffen, meldet das der Knacki-Chef und es gibt Vergünstigungen für die Arbeitis. So läuft das Knastsystem wie geschmiert. ...


Die Regeln, Machtverhältnisse, der Zwang des Knastes, 23 Stunden auf der Zelle, ein verregelter Tagesablauf und der ständige Krampf um die kleinen Vergnügungen, die der Knast zuläßt – echter Kaffee, Tabak, schwarzer Tee - darum rankt sich das Leben.

Ein Blick in die Hausordnung zeigt, was Knast bedeutet: Verregelung bis ins Kleinste. Der Umgang mit Wäsche oder die Besuchsbedingungen. Wer in Untersuchungshaft ist, kann Besuch nur nach richterlicher Erlaubnis und jeweils nur für kurze Zeit empfangen. Die Wartezeit vom Antrag bis zum Besuch betrug, als ich da war, 4 bis 6 Wochen. Sonstiger Kontakt nach draußen ging auch nur mit richterlicher Genehmigung – also Brief schreiben, ans Amtsgericht geschicken (offen!) und die entscheiden dann, ob sie ihn weiterschicken. Woher die Briefmarke kommt? Problem der Gefangenen ... einkaufen. Aber Einkauf ist nur alle 14 Tage und wer weniger als 14 Tage da ist, bekommt gar kein Taschengeld. ...
Wer in eine Freizeitgruppe wollte, mußte sich der folgenden Anweisung unterwerfen, die im Schaukasten auf dem Hof aushing: „Mit dem Antrag auf Zuteilung einer Freizeitgruppe erkennen die Antragsteller folgende Zuteilungskriterien an: Jederzeit widerrufbar ... Weisung gebundenes Verhalten ... regelmäßige Teilnahme ... Einhaltung der allgemein gültigen Vorschriften“. Unterschrieben war diese Anweisung von der gewählten Gefangenenvertretung, nicht von der Anstaltsleitung.


Peter Feraru
Die letzte Führung
Wieder die Führung im Knast
Zuschauer kamen
Damen in leichten Sommerkleidern
Herren im Anzug
einen richtigen Verbrecher zu sehen

Sie sahen mich
kein stechender Blick
keine würgende Hand
nicht mal ein Messer in der Faust
manche schienen
regelrecht enttäuscht


Aus: Fesselballon
Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene
edition villon im Daedalus-Verlag

Eventuell weitere Texte:
Aus "Nachwort" in: "Knacken und Brechen"
Das gesellschaftliche Konfliktpotential wächst. Ein Rückgang sozialstaatlichen Handelns ist zu beobachten. Das verleitet dazu, die Krise mit ordnungspolitischen Mitteln lösen zu wollen: „Zu den bevorzugten Objekten der Diskriminierungskampagnen zählen neben Flüchtlingen und Migranten jene sozialen Klassen, die aus dem vorherrschenden Produktivitäts- und Leistungsmodell herausfallen.“ (Jahn et al. 2000, S.10). ...
Im Umgang mit den Außenseitern und den Herausgefallenen zeigt sich das Gesicht einer Gesellschaft. Grenzen wir aus, grenzen wir auch immer uns selber aus, sperren wir ein, sperren wir immer auch einen Teil unsere kollektiven Möglichkeiten ein.


Prolog im Buch "Nie war ich furchtloser" von Inge Viett
Das Charakteristische des Gefängnisses sind nicht allein die Gitter vor dem Fenster, nicht die Mauem, die uns umschließen, auch wenn dies für die Außenlebenden so scheinen mag, weil sie das Offensichtlichste sind. Sie sind nur die äußeren Markierungen der Gefangenschaft, zeigen ihre räumliche Dimension.
Das Wesen des Gefängnisses ist seine Verfügungsmacht über uns. Wir sind ihm unentrinnbar und in Permanenz unterworfen. Es hockt auf uns drauf, klebt immerzu hautnah wie eine Schmutzkruste auf unserem Körper, es enteignet uns bis auf die Knochen, tritt uns so nahe, wie es ihm beliebt, ignoriert uns, wie es ihm beliebt, kommt uns dumm und selbstgerecht, teilt uns Lebensnotwendiges in funktionalen Dosierungen zu. Es trachtet ununterbrochen danach, uns zu reglementieren und zu kontrollieren. Jedes Handeln an uns, jede nötige Hinwendung zu uns, gleich ob es ein Verbot oder eine Gestattung ist, ist eine vollzogene Vorschrift, eine Verfügung.
Unser Leben wird in den lächerlichen Bahnen absurder Regeln und Formen von einem Tag zum nächsten geführt. Wir sind Häftlingsobjekte, die sicherheitsmäßig und verwaltungstechnisch handhabbar gemacht werden. Wir sind Nichtmenschen. Unsere eigene Vernunft und Persönlichkeit stört und muß abgewürgt werden, wir haben zu akzeptieren, was auch immer an Unvernunft, Zumutung und Entmündigung daherkommt und sich Vorschrift nennt.
Das Gefängnis sieht Gehorsamkeit als Tugend und jeden Schimmer von Selbstbehauptung als Aufsässigkeit. Das Unmenschliche am Gefängnis ist nicht, daß wir aus der allgemeinen Gesellschaft herausgetrennt und in ein abgesondertes Terrain gesperrt werden, sondern daß wir in allem fremdbesetzt und unterworfen werden. Jeden Tag, jede Stunde. Unsere Existenz ist ein Überlebenskampf gegen den Kreislauf der Verblödung, gegen die schleichende soziale, emotionale und geistige Verkrüppelung.
Trotzdem haben wir ein Leben hier drinnen. Trotzdem suchen und finden wir immer wieder Lücken und Gelegenheiten, unseren Bedürfnissen Recht zu verschaffen. Der Selbsterhaltungstrieb ist mächtig, bricht Verbote und Regeln. Er bewegt sich in eigenen katakombischen Systemen. ...
Ich schreibe, um hinter den Mauern lebendig zu bleiben. Das Gefängnis ist nicht gerade der beste Ort, um unbekümmert über mich selbst und die Verhältnisse meiner Zeit zu reden. Das unbeirrbare Gefangnissystem übt unaufhörlichen Druck aus und untergräbt das Selbstbewußtsein mit seiner bürokratischen Gewalt. Es stiehlt mir die Zeit. Sein stählerner Rhythmus zerstückelt den Tag, Iäßt mir nur kleine Zeithäppchen für die Konzentration auf mich selbst. Es zwingt mir seine Logik auf. Der große Teil aller Tage vergeht in Abwehr und Streß gegen diese Maschine, diesen üblen unumstößlichen Apparat, in dem ich stecke, der mich Tag und Nacht belegt und bekämpft mit seinem gnadenlosen Funktionieren, der meine Bewegungen bremst, meine Schritte bemißt, meine Gedanken und Blicke verkürzt, mir die Lust auf den nächsten Tag raubt, der mit seinem Räderwerk aus Maßregeln, Verfügungen, Kontrollen, sinnentleerten Verordnungen und Bewachung Anerkennung erzwingt, kurz: der mich mit seiner autoritären Macht über mich als Gefangene erdrückt.
Schreiben braucht Freiheit, und die gibt es hier nicht. Das Wenige, was von mir bleibt, muß ich zusammenhalten und vor Bitterkeit und Wut schützen, um den Zusammenhang mit den mir verbundenen Menschen nicht zu verlieren. Ich muß die Vergangenheit schreibend lebendig halten, um nicht unterzugehen, weil nur aus ihr noch zu erfahren ist, welche Lebenskräfte durch revolutionäre Visionen und Handlungen erwachen können.
Im Gefängnis ist jeder Empörungsakt ein Akt des Lebens und der Poesie. Aber auch diese Glut der ersten Jahre verlischt an den kalten Steinen. Das Einerlei der Gefangniswelt rieselt wie Asche zwischen alle aufbäumenden und tiefgehenden Gefühle, macht die innere Bewegung eintönig, lau, sich verlierend, macht die Gedanken schwerfällig und zäh. Dies Einerlei legt sich wie eine graue Decke über alle Erinnerungen und saugt die Dimensionen aus ihnen heraus. Die nötigen Hilfsmittel, Informationen, Fakten, Daten, Zeitlichkeiten sind nicht frei zugänglich, sind zensurabhängig, wer den gestattet oder nicht gestattet. Gedanken kann ich nicht äußern, nicht tauschen. Kommunikation ist ein Ausnahmezustand. Trotz dieser Hemmnisse will ich meine und unsere Geschichte niederschreiben. Es ist meine Verteidigung gegen die drohende Selbstauslöschung in den leeren Jahren der Gefangenschaft.


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