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WIE KANN ES WEITERGEHEN? KONKRETE VORSCHLÄGE FÜR DIE PRAKTISCHE ANARCHIE

Was Hoffnung macht: Blicke über die Grenzen


1. Einleitung
2. Anarchie für alle: Herrschaftsfreies Leben und Überleben im Alltag
3. Anarchie für Gruppen: Organisierung ohne Hierarchien
4. Anarchie für Betriebe: Produktion und Verteilung
5. Anarchie in Aktion: Intervention ins Hier & Jetzt
6. Anarchie für Träume und TräumerInnen: Theorieentwicklung und Utopiedebatte
7. Was Hoffnung macht: Blicke über die Grenzen

Damit ist diese Textsammlung über anarchistische Theorie und Praxis im deutschsprachigen Raum zuende. Es gibt keine Gründe, sich die Sache schön zu reden. Die Schwächen in allen Bereichen sind ebenso offensichtlich wie das Interesse, dass bei vielen an Hierarchien, Steuerung oder Positionen besteht - und zwar sowohl denen, die in den Apparaten die Ressourcen akkumulieren (Spenden, Wissen, Kontakte und Materialien) und Aktionen steuern, als auch bei denen, die gerne als MitläuferInnen und SpenderInnen ihr durch weitgehendes Versagen im eigenen Alltag und Leben lädiertes Gewissen beruhigen.

Haben emanzipatorische und damit auch anarchistische Ideen überhaupt eine Chance? Ja - und das zeigt sogar der hinsichtlich emanzipatorischer Politikideen und -praxis schwächliche deutschsprachige Raum. Es klappt sogar gerade dann besser, wenn Menschen mit anarchistischen Ideen, intensiv und offensiv auftreten. Es kommt dabei nicht darauf an, die eigenen Label in den Mittelpunkt zu stellen, um dann, wie es die FAU 1999 in Köln machte, im Nachhinein zu feiern, auf einer Großdemo die meisten Fahnen gezeigt zu haben. Das ist peinlicher Schwanzvergleich und mit keiner anarchistischen Idee verbindbar. Wahrscheinlich ist es eher sogar schlau, neben den Labeln auch auf das Wort Anarchie zu verzichten, handelt es sich doch um einen mit allerhand seltsamen Assoziationen aufgeladenen Begriff, quasi einen Container an Deutungen.
Stattdessen kommt es auf tatsächliche Umgestaltung und die konkrete Benennung der anderen Formen der gesellschaftlichen Gestaltung an. Beides kann überall beginnen.
  • Brechen wir konkrete Stücke aus dem Alltag heraus und organisieren sie neu!
  • Organisieren wir Ressourcen und den Zugang zu ihnen neu!
  • Starten wir Projekte der Gegenkultur, um die Sozialisierung auf Hierarchien und eigenes Rädchendasein im System zu knacken.
  • Zeigen wir die Stärke horizontaler Organisierung auf, wo sie schon besteht: Das Streckenkonzept im Castor-Widerstand ist ein schönes Beispiel, aber es ist kaum Menschen klar, dass der Erfolg dieser Widerstandskonzeption genau darin liegt, dass hier weder eine zentralistische noch eine demokratische Kontrolle stattfinden. Es sind die Abwesenheit von gemeinsamer Entscheidung und kreative Kommunikationswege, die eine Welt schaffen, in der viele Welten Platz haben. Fordern wir, dass das auch für andere Organisierungen gelten soll: Platzhirsche, KontrolleurInnen politischer Bewegung und ewiger SucherInnen nach WählerInnen, SpenderInnen und Mitglieder - bitte abtreten!

Der Blick über die Grenzen kann dabei Mut machen, aber auch Gefahrenpunkte zeigen. Es gibt eine Menge Projekte, Debatten und Aufstände in dieser Welt, die explizit anarchistische Ideen beinhalten oder Forderungen erheben, die zum Inhalt emanzipatorischer Umgestaltung gehören, deren radikalste Form ja die Anarchie ist. Beeindruckend ist vor allem die Zahl kleiner Projekte mit Selbstorganisierung, sei es der Austausch von Gütern auf lokaler Ebene, die Besetzung von Land zur kooperativen Erzeugung von Lebensmitteln oder kleine Produktionsgenossenschaften. Zudem gibt es größere Projekte und Aufstände, die auch durch überregionale Medien oder via Internet verbreitet wurden. Besonders heraus stachen dabei die zunächst als "Antiglobalisierung" bezeichneten Proteste, bekannt geworden seit Seattle 1999, wo anarchistische Gruppen eine große Rolle spielten und vor allem die Aktionsorganisierung stark von der Idee einer horizontalen Vernetzung in einer Aktion, in der viele Aktionen Platz hatten, geprägt war. Schon einige Jahre vorher begann der Aufstand der Zapatistas in Chiapas (Mexiko), die Slogans wie "Fragend schreiten wir voran" oder für eine "Welt, in der viele Welten Platz haben" prägten.
Neben solchen interessanten Beispielen wachsen in der Vielfalt von Gruppen auch seltsame Orientierungen heran oder extreme Fokussierungen auf Einzelthemen, die dann der Ableitung aller weiteren Theorien oder Forderungen dienen. Mitunter verschmelzen anarchistische Attitüden mit herrschaftsförmigen Gebilden, z.B. in Form des Nationalanarchismus oder des Anarchokapitalismus. In beiden Fällen werden krasse Gegensätze, d.h. extreme Herrschaftsgebilde, mit Ideen des Anarchismus zusammengebracht. Einer skeptischen Analyse halten solche Gedankengebäude allerdings regelmäßig nicht stand. Meist leiden sie daran, dass sie nicht die Menschen, sondern identitäre Kollektive wie Nationen, Völker oder Firmen zum Gegenstand der Befreiung machen wollen. Davor haben die Menschen nichts. Eher schaden sie, weil solche Konstrukte regelmäßig mit massiven Unterdrückungserscheinungen im Inneren verbunden sind. Ein ähnliches Problem trägt der Anarchoprimitivismus in sich, der den Menschen abspricht, via Aneignung neuer Fähigkeiten die eigenen Handlungsmöglichkeiten auszudehnen.

Die Größe scheint hingegen, gefördert durch grenzenüberschreitende Kommunikation per Telefon und Internet, keiner Kooperation mehr grundsätzlich im Wege zu stehen. So sind auch globale Bündnisse mit Verzicht auf zentrale Apparate nicht ausgeschlossen. In einem Netzwerk selbstorganisierter Aktionsgruppen wurde in den globalisierungskritischen Protesten versucht, die Ansprüche an eine selbstorganisierte Widerständigkeit in einigen Leitgedanken zu verfassen. Auch wenn immer wieder an der einen oder anderen Formulierung Kritik entstand, sind sie doch ein beachtliches Ergebnis eines gemeinsamen Diskussionsprozesses und einer Kooperation von Aktionsgruppen, die etliche Jahre unter dem Begriff "People's Global Action" (PGA) lief.

Im Original: PGA-Hallmarks (Quelle)
1. Eine Ablehnung von Kapitalismus, Imperialismus und Feudalismus, sowie aller Handelsabkommen, Institutionen und Regierungen, die zerstörerische Globalisierung vorantreiben.
2. Eine Ablehnung aller Formen und Systemen von Herrschaft und Diskriminierung, einschließlich (aber nicht ausschließlich) Patriarchat, Rassismus und religiösen Fundamentalismus aller Art. Wir erkennen die vollständige Würde aller Menschen an.
3. Eine konfrontative Haltung, da wir nicht glauben, dass Lobbyarbeit einen nennenswerten Einfluss haben kann auf undemokratische Organisationen, die maßgeblich vom transnationalen Kapital beeinflusst sind;
4. Ein Aufruf zu direkter Aktion und zivilem Ungehorsam, Unterstützung für die Kämpfe sozialer Bewegungen, die Respekt für das Leben und die Rechte der unterdrückten Menschen maximieren, wie auch den Aufbau von lokalen Alternativen zum Kapitalismus.
5. Eine Organisationsphilosophie, die auf Dezentralisierung und Autonomie aufgebaut ist. Die PGA stellt ein Koordinationswerkzeug dar, keine Organisation. Sie hat keine Mitglieder und ist nicht juristisch repräsentiert. Keine Organisation oder Person kann die PGA repräsentieren.


Ein wenig aber zeigt PGA durch sein geräuschloses Verschwinden von der Bühne wichtiger AkteurInnen die Probleme, die das Ringen um emanzipatorische Veränderungen und den Anarchismus offensichtlich weltweit hat: Er kann Begeisterung erzielen, unmittelbar überzeugen, auch interessante Impulse setzen, aber es fehlt die Fähigkeit, sich als kontiniuerlicher Prozess zu stabilisieren. Entweder folgt ein Ausbluten, der Wechsel der Beteiligten in die eigene Privatheit, in die erstarrten Organisationen, die gesellschaftliche Normierungen auch im Inneren spiegeln, oder das Mitmischen an den Hebeln der Macht.

Es ist eines der großen Dilemmata des Anarchismus, immer wieder nur eine Art Durchlauferhitzer für (meist junge) Menschen zu sein, die dann - mitunter mit einigen interessanten, angeeigneten Fähigkeiten - an andere Orte wechseln, wo sie höchstens noch mit Appellen an die Mächtigen zur Behebung konkreter Missstände "Gutes" im Detail tun, aber im Gesamten oft die Lage verschlimmern, weil sie Herrschaftsverhältnisse legitimieren oder sogar auszubauen helfen. Die Anarchie hat eine bessere Zukunft, wenn es gelingt, sie zu einer Lebensalternative von Menschen zu machen und nicht nur zu einer Sturm-und-Drang-Phase, in der (junge) Menschen sich ausprobieren, aber nicht wirklich Alternativen und starke Überzeugungen aufbauen. Oder in der Unzufriedene die ärgsten Bedrohungen abzuschütteln versuchen, um nach einigen Anfangserfolgen schlapp zu machen und sich mit der leicht verbesserten Lage gleich wieder zufrieden zu geben.

Zum nächsten Text über aktuelle Projekte im Anhang des Buches "Anarchie"

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