DER GROSSE PROZESS GEGEN PROJEKTWERKSTÄTTLER ... REVISION UND VERFASSUNGSBESCHWERDE
Die Revisionsschriften
1. Befangenheitsantrag vor der Revision
2. Die Revisionsschriften
3. Alles unbegründet ... sagt die Staatsanwaltschaft
4. Gegenvorstellung des Angeklagten PN
5. März 2006: OLG Frankfurt verwirft Revision
6. Der OLG-Beschluss vom 29.3.2006 (Az. 2 Ss 314/05)
7. Pressereaktionen
8. Reaktionen nach Revisions-Abweisung
9. Links zur Revision
10. Verfassungsklage des zu 8 Monaten Haft Verurteilten in drei Teilen
11. Einreichung der Verfassungsklage und erste Zwischenerfolge
12. Verfassungsgericht hebt Urteile auf
13. Presse zum Verfassungsgericht
14. Ausblick auf die Prozess-Wiederholung
15. Links zur Verfassungsklage
Beide Verurteilten gingen in die Rechtsfehlerüberprüfung - aber ohne Erfolg.
Auszug aus der Revisionsschrift von Jörg B.:
a. Die Feststellung der besonderen Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen POK Walter beruht nicht auf dem Prozessverlauf. Dieser hatte eindeutige Belege für bewusste Falschaussagen und erhebliche Widersprüche ergeben. Dass selbst Walter in seiner Aussage von seiner eigenen Strafanzeige deutlich abwich, hat das Gericht gar nicht beachtet.
b. Das Plädoyer des Angeklagten wurde gar nicht beachtet.
c. Die Aussagen der Zeugen, die den Tritt definitiv ausschließen konnten, wurden im Urteil nicht oder nicht richtig gewürdigt. Ein Antrag auf Ortstermin wurde abgelehnt, dennoch wurden im Urteil Schlüsse gezogen, die nur dieser hätte ergeben können.
d. Es gab eine Vielzahl von offensichtlichen Falschaussagen zum Zwecke der Belastung des Angeklagten. Das hätte dem Gericht auffallen und in die Urteilsfindung einfließen müssen.
e. Die rechtliche Bewertung des Polizeieinsatzes durch das Gericht ist nicht haltbar. Der Übergriff der Polizei auf die Demonstration und den Angeklagten als Redner auf dieser war rechtswidrig. Damit wäre Widerstand gegen die Staatsgewalt selbst dann, wenn er stattgefunden hätte, nicht strafbar gewesen.
f. Der Hinweis des Gerichtes auf den Lärmschutz ist nicht nur rechtlich unhaltbar, weil das Demonstrationsrecht diesem entgegensteht und die Länge der Rede auch nicht unverhältnismäßig war, sondern weil der Angriff gegen die gesamte Demonstration und nicht nur das Megafon gerichtet war. Diese im Prozessverlauf bewiesene Tatsache wird im Urteil gänzlich verschwiegen.
g. Auch nach dem geltenden Polizeieinsatz ist das Vorgehen der Polizei rechtswidrig, weil sofort und ohne Begründung die weitergehende Massnahme der Freiheitsentziehung gewählt wurde, ohne dass andere Mittel probiert wurden (Untersagung, Platzverweis).
h. Das von POK Walter vorgelegte Attest entspricht nicht den Standards für Gerichtsverfahren.
i. Die Angaben der Angeklagten zu den Abläufen sind überhaupt nicht berücksichtigt worden.
zu a.)
Die Beschreibung der Abläufe am 11.1.2003 weicht zwischen allen Zeugen erheblich ab. Das Gericht ist im Urteil auf die Abweichungen einiger Entlastungszeugen eingegangen. Die Bewertung des Gerichts ist offensichtlich tendenziös, d.h. eine Befangenheit deutlich zu erkennen. Als Rechtsfehler aber muss gewertet werden, dass das Gericht auf die abweichenden Schilderungen der weiteren Polizisten neben dem als Hauptbelastungszeuge auftretenden POK Walter gar nicht bewertet hat. Diese beschreiben zum Beispiel hinsichtlich der Reaktion von POK Walter auf den vermeintlichen Tritt völlig unterschiedliche Dinge, während alle bis auf einen Tritt gar nicht gesehen haben wollen.
Noch bemerkenswerter ist, dass der Hauptbelastungszeuge Walter in seiner Strafanzeige eine in allen Details komplett abweichende Version des Trittes beschrieben hat. Die Angeklagten haben deutlich darauf hingewiesen, dass eine Erklärung dafür fehlt. Allerdings war Walters erstes Version (Strafanzeige) eine sehr auffällige Handlung, während seine zweite (im Gericht dargestellte) eher dazu geeignet war, einen Tritt vorzutäuschen, den dann aber trotzdem niemand gesehen hat.
Zum vermeintlichen Tritt ist anzumerken:
Es ist festzustellen, dass das Gericht eine nicht naheliegende Bewertung der Ergebnisse der Beweisaufnahme vornahm. Es benannte selbst die Strafanzeige des Zeugen POK Walter als wichtige Quelle: „Soweit der Angeklagte bestritt, dem Zeugen Walter mit dem Schuh eine Verletzung an der Stirn beigebracht zu haben, wurde er durch die glaubhaften Angaben des Zeugen Walter auch insoweit überführt. Der Zeuge schrieb, sobald die dienstlichen Erfordernisse es zuließen, noch am gleichen Nachmittag eine Anzeige.“ (Urteil, S. 19). Gleichzeitig nahm es den Widerspruch zwischen dem Inhalt der Strafanzeige und der Aussage des Zeugen POK Walter im Prozess nicht war. Im Urteil wird die Strafanzeige zwar sogar als wegen der zeitlichen Nähe zum Geschehen besonders glaubwürdige Quelle benannt, der Inhalt der Strafanzeige aber gar nicht mit den Aussagen des Zeugen Walter in der Verhandlung verglichen. Das geschah, obwohl der Angeklagte Bergstedt in seinem Plädoyer auf diesen Widerspruch zwischen schriftlicher Anzeige und mündlicher Aussage des Zeugen Walter deutlich hinwies.
Auf jeden Fall steht bezüglich der Frage, ob es einen Fusstritt gegeben hat oder nicht, Aussage gegen Aussage. Einerseits gibt es die Aussage des Zeugen POK Walter, andererseits die des Angeklagten Bergstedt. Es gab keinen weiteren Zeugen, der Ablauf und Zeitpunkt des Trittes benennen konnte. Nur ein Zeuge gab an, den Tritt gesehen zu haben, konnte aber die Frage, in welcher Situation und zu welchem Zeitpunkt der war, nicht benennen. Alle anderen Zeugen haben keinen Tritt gesehen. Somit steht die Aussage des Zeugen Walter gegen die des Angeklagten. Der Angeklagte wird aber in seiner Version sogar von zwei weiteren Zeugen gestützt, die das Geschehen genau verfolgen und angaben, trotz ständiger Präsenz am Ort des Geschehens keinen Tritt gesehen zu haben.
Damit gibt es nur eine Aussage eines Zeugen gegen die Aussagen eines Angeklagten und zweier anderer Zeugen. Steht aber Aussage gegen Aussage und hängt die Entscheidung ausschließlich davon ab, welcher Person (Geschädigter oder Angeklagter) Glauben zu schenken ist, ist eine umfassende Darstellung der relevanten Aussagen und des Aussageverhaltens im Laufe des Verfahrens erforderlich. Bei einer solchen Beweislage muss der Tatrichter ferner erkennen lassen, dass er alle Umstände, die seine Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. (BGH NStZ-RR 2002, 174/176).
Diesem Anspruch ist das Gericht nicht nachgekommen. Zum einen hat es die Aussagen des Angeklagten gar nicht beachtet und im Urteil auch nicht gewürdigt, obwohl diese präzise vorgetragen wurden. Zum anderen hat es nicht gewürdigt, dass der Polizeizeuge selbst von seinen eigenen schriftlichen Niederlegungen in der Akten, vor allem in der Strafanzeige stark abwich und auch sonst in fast allen Punkten solche Angaben zum Ablauf des Geschehens machte, die von anderen Zeugenaussagen und auch von der Aktenlage abwichen. Dass das Gericht trotzdem diesem einen Zeugen glaubte, ist im Urteil nicht überzeugend begründet, stattdessen sind die vielen Hinweise, dass der Zeuge Walter sich ständig widersprach oder den Ablauf der Geschehnisse offensichtlich frei erfunden hatte, nicht gewürdigt worden. Dieses hätte aber auch angesichts der schon im Verhandlungsverlauf offensichtlich werdenden Widersprüche in den Berichten der Polizeizeugen, die auch das Urteil nicht verschweigt, geschehen müssen.
zu b.)
Der Angeklagte hatte in seinem Plädoyer am 11. Verhandlungstag eine Vielzahl von Belegen gegen die Version des Belastungszeugen POK Walter angeführt und die Widersprüche innerhalb dessen Darstellung und zu denen anderer Zeugen benannt. Die rechtlich fragwürdige Prozessführung (siehe Punkt B.1) führte dazu, dass der Angeklagte zur Wiederholung seines Plädoyers am 12. Verhandlungstag aufgefordert wurde. Da er damit nicht gerechnet hatte und folglich völlig unvorbereitet war, benannte er wegen der besonderen Bedeutung dieses Widerspruchs nur noch die grundsätzlichen Abweichung der Schilderung des Zeugen POK Walter in der Verhandlung zu seiner eigenen Strafanzeige vom 11.1.2003 (Blatt 16). Zwischen Aussage und von POK Walter selbst verfasstem Anzeigetext gibt es in allen wesentlichen Details erhebliche Abweichungen.
Auf diese Tatsache ist das Gericht im Urteil nicht eingegangen. Es erwähnt zwar in einem anderen Zusammenhang gerade die zeitnah abgefasste Strafanzeige als besonders glaubwürdig, beachtet diese aber am entscheidenden Punkt gar nicht. Hier liegt nicht nur eine seltsame Abwägung der Ergebnisse der Beweiserhebung und der Aktenlage vor, sondern auch eine völlig Missachtung des Angeklagten und seiner Ausführungen.
zu c.)
Etliche Zeugen haben nach ihren Angaben sehr dicht neben der Stelle gestanden, an der der Angeklagte in das Fahrzeug gehoben wurde. Entsprechend der Ablaufbeschreibung des Zeugen POK Walter in der Verhandlung (anders als in der Strafanzeige von ihm) soll der Tritt außerhalb des Wagens geschehen sein. Dann wäre er gut sichtbar gewesen.
Zwei Zeugen (Tjark Sauer und Christian Krömker) gaben an, dass sie den gesamten Ablauf genau beobachtet hätten. Das Gericht hat deren Aussagen in der Urteilsbegründung vor allem die sehr präzisen Aussagen des Zeugen Krömkers sehr pauschal und ohne besondere Gründe abgelehnt. Eine Auseinandersetzung mit dessen günstigen Standpunkt zum Geschehen und dessen Bericht findet im Urteil gar nicht statt. Offensichtlich ist, dass hier eine Zeugenaussage gar nicht bewertet wird und auch nicht bewertet werden soll, so dass sie deshalb pauschal abgewiesen wird: „Der Aussage des Zeugen Krömker konnte die Kammer im hier in Rede stehenden Punkt keinen Glauben schenken, da der Zeuge bei seiner Aussage immer wieder seine Einschätzungen und Schlussfolgerungen so schilderte, als habe er entsprechende Beobachtungen gemacht. Es konnte insbesondere nicht festgestellt werden, inwieweit seine Aussage, einen Tritt habe es nicht gegeben, wirklich auf eigener Wahrnehmung beruhte, da er entsprechendes Randgeschehen auch auf mehrfaches, ausdrückliches Nachfragen nicht berichtete und daran also offenbar keine Erinnerung hatte.“ (Urteil, S. 21). Die Aussage des Zeugen Krömker war besonders präzise, zudem war er der einzige unabhängige Zeuge, der im Prozess auftrat – unabhängig in dem Sinne, dass er keiner der Parteien im Moment des Vorfalls bekannt war. Er hatte sich als zufällig anwesender Zeuge zur Verfügung gestellt. Er schilderte sehr genau und glaubhaft Details des „Einladevorgangs“. Dass das Gericht im unterstellt, es sei zweifelhaft, dass seine Schilderungen überhaupt auf eigener Wahrnehmung fußen, ist eine bedeutende Unterstellung, die der Substantiierung bedurft hätte. So macht das Gericht es sich bei diesem und bei den anderen Zeugen sehr einfach, auf deren Schilderungen überhaupt eingehen zu müssen. Es kommt der Verdacht auf, dass das Gericht sich nicht in der Lage sah, die Schilderungen zu widerlegen und daher mit dieser aus nichts abgeleiteten Unterstellung einen ihnen unangenehmen Zeugen aus der Würdigung herausnehmen wollte. Das aber würde nur weiter deutlich machen, dass es in dem Verfahren nicht um Beweiswürdigung, sondern um ein bestimmtes zu erreichendes Ergebnis, nämlich die Verurteilung ging. Auffällig ist dieser Umgang mit zwei sehr umfänglichen und präzisen Zeugenaussagen von Krömker und Sauer vor allem vor dem Hintergrund, dass bei den von Widersprüchen stark durchzogenen Polizeiaussagen genau gegenteilig gehandelt wurde und eine Vielzahl von Widersprüchen dort nicht dazu führte, dass das Gericht die Glaubwürdigkeit in Frage stellte.
Ebenso völlig ohne Beachtung war die übereinstimmende Aussage aller Zeugen, dass niemand den Tritt thematisierte in den vielen während und auch nach den Vorgängen laufenden Gesprächen zwischen DemonstrantInnen und Polizei, obwohl die Gründe für das Polizeiverhalten gerade Gegenstand der Gespräche waren und also die Benennung des Trittes von Seiten der Polizei naheliegend gewesen wäre. Angesichts dessen, welchen Aufwand die Polizei sonst betreibt, um die Angeklagten zu kriminalisieren, ist das Weglassen dieser Hinweise nur dadurch zu begründen, dass es den Tritt nie gegeben hat. Auf diesen mehrfach benannten Aspekt, dem von keinem Zeugen widersprochen wurde, ist das Gericht im Urteil an keiner Stelle eingegangen.
Abgesehen davon, dass es nicht notwendig ist, die Unschuld eines Angeklagten zweifelsfrei zu belegen, sondern die Schuld bewiesen sein muss (was nie geschah), ist die Beurteilung des Gerichts in diesen Fallen auch deshalb formal nicht korrekt, weil gerade der diese Fragen klärende Antrag der Angeklagten auf Ortstermin (Bl. 190, Band V) vom Gericht an nicht notwendig abgelehnt wurde (Bl. 230+231, Band V). Das Gericht hat damit eine Substantiierung der im Urteil als maßgeblich bewerteten Aussagen selbst verhindert. Vor allem aber hat es mit der Nichtbeachtung der Strafanzeige beim entscheidenden Punkt genau die Quelle missachtet, die es nach Urteilsbegründung in mehreren anderen Fällen unüberprüft als glaubwürdig eingestuft hat.
Diese Abwägung ist offensichtlich willkürlich und damit rechtswidrig.
zu d.)
In den Zeugenaussagen vor Gericht sowie in den Akten befindet sich eine große Zahl von offensichtlich falschen Angaben, die ebenso offensichtlich den Versuch darstellen, die Angeklagten zu kriminalisieren. Der Angeklagte hat in seinem umfangreichen Plädoyer diese Widersprüche benannt. Allein zu den Aussagen des Zeugen POK Walter hat er eine lange Liste von Widersprüchen angeführt:
Diese anfänglichen Einlassungen von Zeuge Walter zeigen bereits, dass er auch bei den Anfangsbedingungen die tatsächlichen Abläufe falsch wiedergibt. Ebenso macht er eindeutig klar, dass der Angriff auf die Demonstration nicht seine Einschätzung war, sondern aufgrund der Anordnung des Innenministers erfolgte. Der aber war nicht in seiner Funktion als Innenminister, sondern als Wahlkämpfer anwesend, d.h. der Angriff auf die Demonstration war wahltaktisch bedingt, was bereits ausreichen würde, um den Angriff als rechtswidrig festzustellen.
Im Urteil wird der durch mehrere Zeugenaussagen klar belegte Vorgang mit der Beschlagnahme des Transparentes gar nicht erwähnt. Das ist von besonderer Bedeutung, weil das Urteil an dieser Stelle vor dem Hintergrund der zeitlich vorher liegenden Beschlagnahme des Transparentes absurd wird. Die Begründung des Lärmschutzes oder der Sicherung einer störungsfreien Wahlwerbeveranstaltung der CDU ist ohnehin keine Rechtsgrundlage für das Ende einer Demonstration, ist aber ohnehin hinfällig, wenn klar würde, dass der Angriff zunächst auf ein lautloses Teilelement der Demonstration erfolgte. Die Unterlassung, diesen bewiesenen Vorgang im Urteil überhaupt zu benennen, ist ein schwerwiegender Abwägungsfehler, wenn nicht gezielte Rechtsbeugung, da der Vorgang im Prozess eine erhebliche Rolle spielte.
Im Urteil schlussfolgert das Gericht trotz offensichtlicher Widersprüche und der klar entgegenstehenden Aussage der meisten Zeugen, dass sowohl die Herausgabe des Megaphons wie auch die Festnahme dem Angeklagten Bergstedt erklärt wurden. Es stützt sich dabei zum einen auf den vom Gericht trotz offensichtlicher Falschaussagen als glaubwürdig eingestuften Zeugen POK Walter sowie auf wilde Spekulationen hinsichtlich dessen, was der Angeklagte selbst alles gedacht haben soll. Auch hier hat keine Abwägung der Ergebnisse der Beweisaufnahme stattgefunden. Die Auffassungen des Gerichts sind durch Zeugenaussagen kaum oder gar nicht gedeckt. Zudem würde aber auch die Version des Gerichts immer noch belegen, dass der Angriff rechtswidrig war, denn eine Auflösung der Demonstration wird auch in der Urteilsbegründung ebenso nicht aufgeführt wie eine darauf zunächst notwendig folgende Aufforderung zum Verlassen des Platzes und darauf wieder folgend ein formaler Platzverweis. Stattdessen spricht auch das Gericht selbst in der Urteilsbegründung davon, dass der Angriff auf den Redner auf der Demonstration erfolgte, ohne dass vorher die Demonstration aufgelöst wurde o.ä.
Im Urteil erkennt das Gericht die Version des Angeklagten, die zudem u.a. vom Zeugen Krömker gestützt an, dass mehr als zwei Polizisten in der letzten Phase beteiligt waren: „Zuletzt zogen und trugen 3-4 Beamte den Angeklagten“ (Urteil, S. 9). Das widerspricht dem Zeugen Walter eindeutig, d.h. selbst das Gericht erkennt an, dass in sehr wesentlichen Fragen der Zeuge Walter nicht die Wahrheit gesagt oder sich geirrt hat. Das hätte das Gericht bemerken und bei der Frage der Glaubwürdigkeit des Zeugen POK Walter berücksichtigen müssen.
Das Gericht legt im Urteil diesen Punkt nicht nur als Zweifel an der Glaubwürdigkeit von POK Walter aus, sondern geradezu gegenteilig: „Eher für als gegen die Glaubhaftigkeit seiner Aussage sprach nach Auffassung der Kammer zudem, dass der Zeuge jetzt erstmals den Zeugen Dietermann erwähnte, der beim Verbringen des Angeklagten in den Transporter half, indem er den Angeklagten von hinten in das Fahrzeug hineinzog, wie der Zeuge Dietermann nun bei seiner Vernehmung bekundete. Als erfahrener Polizeibeamter muss der Zeuge Walter gewusst haben, dass er mit der (späten) Benennung eines weiteren Tatzeugen riskierte, dass man dies als bedeutsame Aussageänderung auffassen könnte, die die Glaubwürdigkeit wesentlich erschüttern kann. Dass er sich trotzdem dazu entschloss, konnte vor seinem Wissenshorizont nur als Bemühen aufgefasst werden, auch in diesem Punkt die Wahrheit zu sagen.“ (Urteil, S. 19/20). Diese Ausführung des Gerichts ist abenteuerlich. Es fällt auf, dass mehrfach gravierendste Widersprüche in den belastenden Aussagen übersehen oder sogar für die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen gewertet wurden, während umgekehrt kleinste Abweichungen der entlastenden Zeugen benutzt wurden, um diese pauschal und ganz als unglaubwürdig abzutun. In Hinblick auf den Wechsel des Namens Hinkel in Dietermann fügt das Gericht sogar noch an: „Der Zeuge Walter konnte auch plausibel erklären, weshalb er den Zeugen Dietermann bis dahin "vergessen" hatte. Wie die Vernehmung auch anderer Polizeibeamter ergab, gehörte der Zeuge Dietermann einer anderen Polizeidienststelle an, mit der gewöhnlich keine Kontakte bestanden, und es konnte ohne weiteres nachvollzogen werden, dass der Zeuge Walter - ebenso wie andere Kollegen - am Tattag nicht wusste, welche Polizisten im einzelnen vor Ort waren. Unter diesen Umständen erschien es glaubhaft, dass der Zeuge Walter den Zeugen Dietermann am Einsatzort nicht mit Bewusstsein wahrnahm und deshalb keine Recherchen anstellte, ob noch andere Kollegen bei dem Vorfall dabei waren, zumal der Zeuge Dietermann sofort, nachdem der Angeklagte im Fahrzeug war, ausstieg und andere Beamte mit dem Zeugen Walter zur Polizeistation fuhren.“ Das ist in beiden Teilen unsinnig. Der Zeuge Dietermann hatte in der Verhandlung klar formuliert, den Zeugen POK Walter gut zu kennen. Daher war er diesem also auch bekannt. Dass Dietermann aus dem Fahrzeug wieder ausstieg, führte gegenteilig zu der absurden Schlussfolgerung des Gericht ja gerade dazu, dass er sich weiterhin neben POK Walter befand. Denn anders als die Urteilsbegründung suggeriert, fuhr POK Walter nach seinen eigenen Angaben und auch nach Aktenlage ebenfalls nicht mit im Fahrzeug, sondern blieb vor Ort.
Die Zeugenaussagen ergaben eindeutig, dass es mehr als zwei Personen waren – zumal bereits drei der beteiligten Polizeibeamten (Walter, Ernst, Dietermann) vernommen wurden. Die Skizze von PK Ernst zeigt eindeutig, dass er direkt am Wagen mitwirkte (Blatt 166). Auch dieses Detail muss angesichts der direkten Verbindung mit der Situation, in der POK Walter den Tritt schilderte, als wesentlich betrachtet werden. Das Gericht aber ging auf diesen Widerspruch im Bericht von POK Walter nicht mehr im Besonderen ein.
Die Menge an Abweichungen und offensichtlichen Widersprüchen auch für die entscheidende Phase des Trittes ist bemerkenswert. Sie ist auch dem Gericht nicht entgangen, dass in seiner Urteilsbegründung mit einer pauschalen Formulierung alle Widersprüche zu heilen versuchte: „Da alle Zeugen während des Gesamtgeschehens, teilweise mehrfach unterschiedliche Aufgaben wahrnahmen, waren ihre Aussagen nicht deckungsgleich, sie ergänzten sich jedoch zwanglos und ohne nennenswerte Widersprüche zu einem folgerichtigen Geschehen.“ (Urteil, S. 20) Das ist kein sorgsamer Umgang mit fatalen und umfangreichen Widersprüchen, sondern eine gezielte Umdeutung des Geschehens in der Beweisaufnahme. Für eine Verurteilung kann ein Gericht nicht einfach Widersprüche in dieser pauschalen Form abtun oder sogar umdeuten. Erst recht kann das Gericht das nicht machen, wenn von Seiten der Angeklagten mehrfach darauf hingewiesen und zu beweisen versucht wurde, dass Polizeikräfte in Gießen immer wieder Vorwürfe erfunden hätten. Das Gericht folgte dieser Sichtweise sogar teilweise: „Dem Zeugen Walter und den übrigen als Zeugen aufgetretenen Polizeibeamten warf der Angeklagte vor, sie machten allesamt gemeinsame Sache, damit er bestraft werde. Zum Beleg führte er eine lange Reihe von Umständen an, die teilweise nicht von der Hand zu weisen waren,“ allerdings fügte es – dann ohne jegliche Begründung – an: „aber vorliegend nach Überzeugung der Kammer jedenfalls keinen Einfluss auf die Aussagen der Polizeibeamten in Richtung unbewusster oder gar bewusster Falschbelastungen hatten.“ (Urteil, Seite 12)
Auch hinsichtlich der Abläufe nach der Festnahme machte Zeuge Walter weitere Aussagen, die zu denen anderer Zeugen und zu Vermerken in der Akte in einem grotesken Widerspruch stehen. Es ist aus dem Zusammenhang heraus völlig unbegreiflich, wieso das Gericht gerade den Zeugen Walter als glaubwürdig einstufte und seine Aussagen höher bewertete als mehrere eindeutige Zeugenaussagen, die Walter widerlegten.
zu e.)
Das Urteil enthält ebenso wie das Vorgehen von POK Walter am 11.1.2003 eine falsche Rechtsbewertung der Frage, ob das Polizeihandeln rechtsgemäß war. Das Versammlungsrecht ist eindeutig:
All das ist zweifelsfrei erwiesen im vorliegenden Fall nicht geschehen. Kein einziger Zeuge, auch der Polizei-Einsatzleiter nicht, berichteten von solchen Vorgängen.
Sowohl der Polizeiübergriff am 11.1.2003 wie auch das Urteil des Landgerichts Gießen missachten das geltende Versammlungsrecht, das ein Grundrecht ist. Die Verurteilung würde daher, sollte sie Rechtskraft erhalten, nachfolgend Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Überprüfung sein.
Das die von der Polizei angegriffene Veranstaltung eine Demonstration war, hatte auch die Polizei erkannt:
Es gibt eindeutige Urteile, dass, wer sich wie die CDU in der Öffentlichkeit präsentiert, damit rechnen muss, dass KritikerInnen diese Öffentlichkeit ebenso nutzen, um ihre Meinung kund zu tun. Es sei ausdrücklich auf ein Urteil des VG Berlins (20. Juli 1998) ins Bezug auf eine Versammlung, die sich gegen ein öffentliches Bundeswehr-Gelöbnis richtete: Die Versammlungsbehörde wollte die Gegendemonstration in einen durch einen Gebäudekomplex vom Platz der Vereidigung getrennten Bereich abdrängen. Das VG Berlin aber hat die Veranstaltung auf einem Platz zugelassen, von dem aus der Protest bei Verwendung von Lautsprechern auf der Vereidigung zu hören war. Die Entscheidung wurde unter Berufung auf das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) damit begründet, die Bundeswehr müsse, wenn sie die Öffentlichkeit für eine wirkungsvolle Darstellung nutzen will, damit rechnen, daß Kritiker ihre Einwände am selben Ort öffentlich zu erkennen geben. Die Bundeswehr könne nicht beanspruchen, das Gelöbnis auf einem öffentlichen Platz vor einem ihr wohlgesonnenen Publikum durchzuführen. Kritische Äußerungen seien zu ertragen, solange nicht der Ablauf der Veranstaltung konkret beeinträchtigt wird; gewisse Beeinträchtigungen der angestrebten Würde und Feierlichkeit seien hinzunehmen.
Zudem ist die Festnahme des Angeklagten Bergstedt rechtswidrig und unverhältnismäßig selbst dann, wenn man nicht akzeptiert, dass es eine legale Demonstration war. POK Walter hat in seiner Vernehmung zugegeben, dass er das niedrigschwelligere Mittel „Platzverweis“ nicht angewendet hat, weil er davon ausging, dass „sich eh niemand dran halten würde“. So kann die Polizei nicht vorgehen. Die Polizeigesetze sind ohne eine Katastrophe und geben der Polizei unglaubliche Macht. Aber sie muss sich daran halten und kann nicht selbst entscheiden, ob sich jemand an einen Platzverweis halten würde. Darum ist die Festnahme rechtswidrig, weil ein Platzverweis dem Ziel der Ruhe für den CDU-Stand auch gereicht hätte.
All diese Punkte sind vom Angeklagten im Verfahren auch angeführt worden. Zu all dem führt das Gericht nur aus: „Die Tat zum Nachteil des Zeugen Walter ist rechtlich als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 StGB in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2, 52 StGB zu bewerten. Die vom Zeugen Walter vorgenommene Diensthandlung war im Sinne von § 113 Abs. 3 StGB rechtmäßig. Der Zeuge Walter war zuständig für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung im Bereich der von der Stadt Gießen genehmigten CDU-Wahlwerbung mit einem Stand. Bei der gegebenen Sachlage entschied er sich angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zu Recht zum Einschreiten. Ob dabei die Wünsche des Innenministers und des Polizeipräsidenten eine Rolle spielten, war daher ohne Belang. Sein Verlangen, das Megaphon herauszugeben, war nach der nicht zu beanstandenden Einschätzung der Lage durch den Zeugen Walter auch notwendig, um weitere Durchsagen zu unterbinden. Da sich der Angeklagte allem widersetzte, waren auch seine Festnahme und der Abtransport zum Transportfahrzeug rechtmäßig.“ (Urteil, S. 27). Auf die Kernpunkte der Rechtswidrigkeit geht das Urteil damit gar nicht ein. Das Versammlungsrecht ist vom Gericht schlicht nicht beachtet worden.
Das Gericht unterstellte dem Angeklagten sogar, er hätte selbst die Rechtswidrigkeit erkannt: „Aufgrund der äußeren Tatumstände gab es keinen Zweifel, dass sich der Angeklagte bewusst und gewollt den Polizeimaßnahmen widersetzte. Dies geschah nach Überzeugung der Kammer auch in dem Bewusstsein der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns. Es lag nämlich auf der Hand, dass eine genehmigte Wahlveranstaltung, zumindest nach allgemeinem Polizeirecht nicht minutenlang mit Lautsprecherdurchsagen aus kurzer Entfernung beeinträchtigt werden darf. Die rechtlichen Bewertungen des Angeklagten in diesem Zusammenhang waren daher als Schutzbehauptungen einzustufen.“ (Urteil, S. 19). Während des gesamten Prozessverlaufes hatte der Angeklagte deutlich die Rechtswidrigkeit des Polizeihandelns zu belegen versucht und dafür umfangreiche Quellen, andere Urteile und Vernehmungen eingefordert. Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, wie das Gericht auf die Idee kommt, das alles sei nur eine Schutzbehauptung gewesen und der Angeklagte sei selbst sogar der Auffassung, die Polizeimassnahme sei rechtmäßig. Das ist nicht nur reine Spekulation des Gerichts, sondern eine ziemlich unverschämte Behauptung, da sie den Angeklagten sichtbar nicht ernst nimmt und seine vorgebrachten Argumente nicht mehr in der erforderlichen Art würdigt. Der Hinweis auf das Versammlungsrecht ist ein ernstzunehmender und intensiv in der Verhandlung begründeter Tatbestand, der vom Gericht in der Urteilsfindung zu würdigen und nicht als Schutzbehauptung abzutun ist.
Auch die Verweis des Gerichtes auf das „allgemeine Polizeirecht“ (Urteil, S. 19) weist selbst einen Rechtsfehler auf, weil eine Versammlung nach Versammlungsrecht zu bewerten ist und durch dieses die dargestellte Form der Megaphon-Durchsagen gedeckt sind, selbst wenn der CDU-Stand dadurch überhaupt beeinträchtigt worden sein sollte.
zu f.)
Völlig verschwiegen wird im Urteil die in der Verhandlung zweifelsfrei nachgewiesene Tatsache, dass die Polizei und auch Zeuge POK Walter persönlich zunächst nicht das Megaphon angriff, sondern eine Personengruppe, die ein Transparent hielt. Es ist auffällig, dass dieser Angriff nicht mit Lärmschutz begründet werden könnte. Überhaupt konnte im Gerichtsverfahren von niemandem ein Grund genannt werden, warum das Transparent angegriffen wurde. Unstrittig aber war auch aus mehreren Polizistenaussagen, dass zunächst das Transparent beschlagnahmt wurde. Da es dafür keinen Grund gab, konnte auch keiner benannt werden, d.h. der Zugriff war auf mehreren Gründen und erwiesenermaßen rechtswidrig. Allein schon deshalb ist bewiesen, dass der Angriff auf die Demonstration rechtswidrig war, denn der Beschlagnahmeversuch des Megaphons ereignete sich zeitlich danach. Selbst wenn das Gericht dazu eine andere Position gehabt haben sollte, wäre die Würdigung dieses Umstands im Urteil absolut notwendig gewesen, da die Frage der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen von Bedeutung für diesen Anklagepunkt ist.
Es ist völlig unklar, wieso das Gericht diesen wichtigen Aspekt im Urteil völlig verschweigt und behauptet, dass POK Walter nach der Aufforderung des Innenministers, gegen die Versammlung vorzugehen, sich gleich dem Megaphon zuwendete: „Als kurz darauf etwa 8 - 9 weitere Beamte eingetroffen waren, wollte der Zeuge Walter das Tun des Angeklagten und seiner Begleiter beenden. Er trat deshalb zusammen mit weiteren Polizeibeamten an den Angeklagten Bergstedt heran.“ (Urteil, S. 9).
Das Gericht hat entweder die übereinstimmenden Aussagen aller Zeugen zum Ablauf unterschlagen oder sogar bewusst den Ablauf verdreht, um eine Verurteilung zu ermöglichen. Das aber wäre ein klarer Fall von Rechtsbeugung – nicht der einzige in diesem Urteil.
zu g.)
Zudem ist auch jenseits des besonderen Schutzes von Versammlungen die Massnahme rechtswidrig und unverhältnismäßig:
· In der Berufungsverhandlung hatte der Polizei-Einsatzleiter angegeben, dass er gar nicht versucht hätte, niedrigschwelligere Anordnungen zu treffen. So habe er keine Platzverweise statt einer Gewahrsamnahme erteilt, weil er annahm, dass die Angeklagten sich daran ohnehin nicht halten würden. Solches Polizeihandeln ist nach HSOG nicht rechtgemäß. Das HSOG sieht im § 4 eine Stufigkeit vor, Gewahrsamnahmen sind nur zulässig, wenn andere Massnahmen nicht das gewünschte Ziel erreichen oder eine z.B. mit einem Platzverweis belegte Person sich an diesen nicht hält. Nichts davon war gegeben, daher war der Zugriff auch außerhalb des Versammlungsrechts rechtswidrig. Das HSOG sagt klar: „Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen haben die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden diejenigen Maßnahmen zu treffen, die die einzelne Person und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen.“ (§ 4, Abs. 1 HSOG)
Unabhängig davon ist eine Gewahrsamnahme auch nach dem Polizeirecht selbst (§ 32 HSOG, Abs. 1) an bestimmte Voraussetzungen gebunden, von denen keine zutraf:
„Die Polizeibehörden können eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies
1. zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet,
2. unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern,
3. unerläßlich ist, um Maßnahmen nach § 31 durchzusetzen, oder
4. unerläßlich ist, um private Rechte zu schützen und eine Festnahme und Vorführung der Person nach den §§ 229, 230 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches ohne polizeiliches Einschreiten zulässig wäre.“
Keiner dieser Gründe traf zu:
Schließlich ist auch bedenklich, dass eine als Privatperson im Wahlkampf anwesende Person, die im Beruf Innenminister ist, den Polizeieinsatz angewiesen hat. Wie die Polizeizeugen darstellten, hat der Innenminister, der am CDU-Wahlstand anwesend war, zunächst über den Polizeipräsidenten, dann aber auch direkt gegenüber der anwesenden Gruppe der Polizei deutlich eingefordert, die Demonstration zu beenden.
zu h.)
Das von POK Walter vorgelegte Attest ist nach Auskunft der Universitätsklinik nicht das für Strafverfahren übliche ärztliche Informationsschreiben. Dieses sei wesentlich präziser und umfangreicher als ein kleiner Attestzettel, der als Unterlage für z.B. Abwesenheit vom Dienst ausreicht, nicht aber bei Strafverfahren. Diese Auskunft gab die Universitätsklinik, Bereich Mund-/Kiefer-/Gesichtschirurgie, am 6. Juni 2005, als der Angeklagte Bergstedt selbst eine solche Bescheinigung in einem Fall auf Bitten der Polizei einholen wollte, wo er selbst Betroffener war. Es ist also reiner Zufall, dass diese Information an ihn gelang, obwohl sie eindeutig hätte im Gerichtsverfahren genannt bzw. ein solches Informationsschreiben seitens der Ermittlungsbehörden hätte eingefordert werden müssen. Am 3.6.2005 hatte die Staatsschutzbeamtin Cofsky vom Polizeipräsidium Gießen vom Angeklagten in einem anderen Fall, wo er eben Betroffener war, dieses Informationsschreiben verlangt. Warum bei einem sehr ähnlichen Strafverfahren (vermeintlicher Tritt mit beschuhtem Fuss in Gesicht) in einem Fall dieses eingefordert, im anderen aber nicht einmal vor Gericht als nötig erachtet wird, bleibt unklar. In jedem Fall ist das von POK Walter vorgelegte Attest nach Auskunft der Universitätsklinik NICHT geeignet, um eine Verletzung in einem für ein Strafverfahren ausreichend präzisem Maße zu beschreiben.
zu i.)
Das Gericht muss nicht nur die Aussagen der ZeugInnen würdigen, sondern auch die der Angeklagten. Vorsitzende Richterin Brühl hatte am 21.4.2005 während des Verhandlungsverlaufs dieses selbst mit folgenden Worten ausgedrückt: „Alles was plausibel vorgetragen wird von den Angeklagten, muss widerlegt werden“. Die Abläufe sind vom Angeklagten widerspruchsfrei dargestellt worden. Das stand in einem bemerkenswerten Gegensatz zu den von Widersprüchen und offensichtlichen Erfindungen geprägten Aussagen des Zeugen Walter und anderer Polizeizeugen. Von einem Widerlegen der Schilderungen des Angeklagten zum Ablauf des Geschehens kann an keinem Punkt die Rede sein. Im Urteil werden die Schilderungen der Angeklagten aber gar nicht erwähnt. Sie sind folglich auch nicht widerlegt oder auch nur angemessen gewürdigt worden. Die Version des Angeklagten stützende Aussagen weiterer Zeugen sind pauschal abgewiesen, also auch nicht angemessen gewürdigt worden.
Im Kommentar zur Strafprozeßordnung von L. Meyer-Goßner heißt es zum § 260, Randnr. 2: „Der Richter muss sich mit allen wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umständen auseinandersetzen“ sowie Randnr. 6: „... verpflichtet § 261, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu würdigen und dem Urteil zugrunde zu legen, sofern nicht im Einzelfall ausnahmsweise ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht (BGH 29, 109, 110; MDR 88, 101 [H]; Einl 55; 12, 33 zu § 267). Auch die Äußerungen des Angeklagten sind zu würdigen“. Dieses ist vorliegend nicht geschehen.
- Extraseiten mit der Revisionsschrift von Patrick N.
- Revisionsschrift von Jörg B. (Stichworte ... tatsächlich im Gericht zu Protokoll gegeben)
Auszug aus der Revisionsschrift von Jörg B.:
Materielle und sachliche Fehler zum Anklagepunkt 11 (gefährliche Körperverletzung)
Übersicht:a. Die Feststellung der besonderen Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen POK Walter beruht nicht auf dem Prozessverlauf. Dieser hatte eindeutige Belege für bewusste Falschaussagen und erhebliche Widersprüche ergeben. Dass selbst Walter in seiner Aussage von seiner eigenen Strafanzeige deutlich abwich, hat das Gericht gar nicht beachtet.
b. Das Plädoyer des Angeklagten wurde gar nicht beachtet.
c. Die Aussagen der Zeugen, die den Tritt definitiv ausschließen konnten, wurden im Urteil nicht oder nicht richtig gewürdigt. Ein Antrag auf Ortstermin wurde abgelehnt, dennoch wurden im Urteil Schlüsse gezogen, die nur dieser hätte ergeben können.
d. Es gab eine Vielzahl von offensichtlichen Falschaussagen zum Zwecke der Belastung des Angeklagten. Das hätte dem Gericht auffallen und in die Urteilsfindung einfließen müssen.
e. Die rechtliche Bewertung des Polizeieinsatzes durch das Gericht ist nicht haltbar. Der Übergriff der Polizei auf die Demonstration und den Angeklagten als Redner auf dieser war rechtswidrig. Damit wäre Widerstand gegen die Staatsgewalt selbst dann, wenn er stattgefunden hätte, nicht strafbar gewesen.
f. Der Hinweis des Gerichtes auf den Lärmschutz ist nicht nur rechtlich unhaltbar, weil das Demonstrationsrecht diesem entgegensteht und die Länge der Rede auch nicht unverhältnismäßig war, sondern weil der Angriff gegen die gesamte Demonstration und nicht nur das Megafon gerichtet war. Diese im Prozessverlauf bewiesene Tatsache wird im Urteil gänzlich verschwiegen.
g. Auch nach dem geltenden Polizeieinsatz ist das Vorgehen der Polizei rechtswidrig, weil sofort und ohne Begründung die weitergehende Massnahme der Freiheitsentziehung gewählt wurde, ohne dass andere Mittel probiert wurden (Untersagung, Platzverweis).
h. Das von POK Walter vorgelegte Attest entspricht nicht den Standards für Gerichtsverfahren.
i. Die Angaben der Angeklagten zu den Abläufen sind überhaupt nicht berücksichtigt worden.
Antrag: Soweit nicht Sachentscheidung beantragt ist und der Angeklagte freigesprochen wird (siehe Punkt F.e in Verbindung mit F.f und F.g), beantrage ich die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung an eine andere Strafkammer aus den folgenden Gründen.
zu a.)
Die Beschreibung der Abläufe am 11.1.2003 weicht zwischen allen Zeugen erheblich ab. Das Gericht ist im Urteil auf die Abweichungen einiger Entlastungszeugen eingegangen. Die Bewertung des Gerichts ist offensichtlich tendenziös, d.h. eine Befangenheit deutlich zu erkennen. Als Rechtsfehler aber muss gewertet werden, dass das Gericht auf die abweichenden Schilderungen der weiteren Polizisten neben dem als Hauptbelastungszeuge auftretenden POK Walter gar nicht bewertet hat. Diese beschreiben zum Beispiel hinsichtlich der Reaktion von POK Walter auf den vermeintlichen Tritt völlig unterschiedliche Dinge, während alle bis auf einen Tritt gar nicht gesehen haben wollen.
Noch bemerkenswerter ist, dass der Hauptbelastungszeuge Walter in seiner Strafanzeige eine in allen Details komplett abweichende Version des Trittes beschrieben hat. Die Angeklagten haben deutlich darauf hingewiesen, dass eine Erklärung dafür fehlt. Allerdings war Walters erstes Version (Strafanzeige) eine sehr auffällige Handlung, während seine zweite (im Gericht dargestellte) eher dazu geeignet war, einen Tritt vorzutäuschen, den dann aber trotzdem niemand gesehen hat.
Zum vermeintlichen Tritt ist anzumerken:
- Trotz der Vernehmung sehr vieler Zeugen hat das Gericht seine Verurteilung auf die Aussagen nur eines Zeugen gestützt. Das war notwendig, weil selbst die anderen Polizeizeugen dem Hauptzeugen und sich untereinander in fast allen Punkten widersprachen. Diese Entscheidung, nur einen Zeugen trotz vieler Vernehmungen zugrundezulegen, ist vor allem auch deshalb überraschend, weil in mehreren Punkten dieser Zeuge nicht nur von anderen Zeugen widerlegt wurde, sondern auch durch eigene Aktenvermerke und sonstige Akten. Angeführt sei seine Lüge, nach dem vermeintlichen Tritt in der Polizeistation auf einen Arzt gewartet zu haben, was in der Vernehmung eindeutig widerlegt wurde. Daraufhin hat der Zeuge eine neue Schilderung der Abläufe gegeben, die sich wiederum in der Vernehmung anderer Polizeizeugen als falsch herausstellte. Dass eine in einer Vernehmung mehrfach der Falschaussage klar überführte Person als einziger Zeuge vom Gericht berücksichtigt wird, lässt auf Willkür schließen. Aus der Sach- und Rechtslage ergibt sich dass nicht.
- Das Gericht hat die dramatischen Abweichungen bei den Aussagen der Polizeizeugen überhaupt nicht bewertet, zumindest sich im Urteil dazu gar nicht geäußert.
- Noch schwerwiegender ist, dass das Gericht trotz mehrfacher Nennung dieses Widerspruchs durch die Angeklagten in der Vernehmung der Polizeizeugen wie auch im Plädoyer den Aktenvermerk des Hauptzeugen nicht beachtete. Der Hauptzeuge hatte in seiner Strafanzeige eine andere, in allen Details des vermeintlichen Trittes gegenteilige Beschreibung der Abläufe gegeben. Im Urteil stützte sich das Gericht auf die Aussagen des Polizisten im Prozess, die auch dem Urteil zugrundeliegen. Danach sei der Tritt außerhalb des Wagens in der Anfangssituation des Hineinschiebens erfolgt. In der Strafanzeige unmittelbar nicht dem vermeintlichen Tritt schrieb der Polizeibeamte aber noch: „Schon fast gänzlich ins Fahrzeuginnere verbracht, kam es zur aktiven und heftigen Gegenwehr des Beschuldigten. Es gelang ihm, seine Beine aus dem Griff / Umklammerung durch den Unterzeichner zu entziehen. Durch einen seiner plötzlichen gezielten Tritte mit beiden Stiefeln (Kampfstiefel mit aufgenageltem Metallbesatz an der Schuhspitze) in Richtung des Unterzeichners, der sich –situationsbedingt- in leicht gebückter Haltung befand, wurde dieser durch einen dieser Tritte an der Stirn getroffen und verletzt.“ (Strafanzeige von POK Walter am 11.1.2003, Blatt 16). Hinweise auf diesen offensichtlichen Widerspruch hat das Gerichte komplett übergangen.
- Ebenso hat das Gericht das Argument der Angeklagten, dass die Polizei dann, wenn es diesen Tritt gegeben hätte, die vermeintliche Waffe für die gefährliche Körperverletzung hatte, aber weder untersuchte noch fotografierte noch irgendeine andere Beweissicherung durchführte. Das stützt die These des Angeklagten, dass es den Tritt gar nicht gab. Zumindest kann nicht gegen ihn ausgelegt werden, dass die Polizei keinerlei Beweissicherung durchführte, obwohl das möglich gewesen wäre.
- Weitere Indizien, dass es den Tritt gar nicht gab, beachtete das Gericht ebenfalls nicht: Der Polizeibeamte Walter hat nach eigenen Aussagen niemandem vor Ort berichtet. Es gibt keine Fotos der Verletzung. In dem Vermerk zur Gewahrsamnahme hat PK Ernst keinen Tritt oder eine Verletzung erwähnt, obwohl er als Zeuge vor Gericht aussage, davon mitbekommen zu haben (wenn auch in einer anderen Version als der Hauptzeuge Walter).
Es ist festzustellen, dass das Gericht eine nicht naheliegende Bewertung der Ergebnisse der Beweisaufnahme vornahm. Es benannte selbst die Strafanzeige des Zeugen POK Walter als wichtige Quelle: „Soweit der Angeklagte bestritt, dem Zeugen Walter mit dem Schuh eine Verletzung an der Stirn beigebracht zu haben, wurde er durch die glaubhaften Angaben des Zeugen Walter auch insoweit überführt. Der Zeuge schrieb, sobald die dienstlichen Erfordernisse es zuließen, noch am gleichen Nachmittag eine Anzeige.“ (Urteil, S. 19). Gleichzeitig nahm es den Widerspruch zwischen dem Inhalt der Strafanzeige und der Aussage des Zeugen POK Walter im Prozess nicht war. Im Urteil wird die Strafanzeige zwar sogar als wegen der zeitlichen Nähe zum Geschehen besonders glaubwürdige Quelle benannt, der Inhalt der Strafanzeige aber gar nicht mit den Aussagen des Zeugen Walter in der Verhandlung verglichen. Das geschah, obwohl der Angeklagte Bergstedt in seinem Plädoyer auf diesen Widerspruch zwischen schriftlicher Anzeige und mündlicher Aussage des Zeugen Walter deutlich hinwies.
Auf jeden Fall steht bezüglich der Frage, ob es einen Fusstritt gegeben hat oder nicht, Aussage gegen Aussage. Einerseits gibt es die Aussage des Zeugen POK Walter, andererseits die des Angeklagten Bergstedt. Es gab keinen weiteren Zeugen, der Ablauf und Zeitpunkt des Trittes benennen konnte. Nur ein Zeuge gab an, den Tritt gesehen zu haben, konnte aber die Frage, in welcher Situation und zu welchem Zeitpunkt der war, nicht benennen. Alle anderen Zeugen haben keinen Tritt gesehen. Somit steht die Aussage des Zeugen Walter gegen die des Angeklagten. Der Angeklagte wird aber in seiner Version sogar von zwei weiteren Zeugen gestützt, die das Geschehen genau verfolgen und angaben, trotz ständiger Präsenz am Ort des Geschehens keinen Tritt gesehen zu haben.
Damit gibt es nur eine Aussage eines Zeugen gegen die Aussagen eines Angeklagten und zweier anderer Zeugen. Steht aber Aussage gegen Aussage und hängt die Entscheidung ausschließlich davon ab, welcher Person (Geschädigter oder Angeklagter) Glauben zu schenken ist, ist eine umfassende Darstellung der relevanten Aussagen und des Aussageverhaltens im Laufe des Verfahrens erforderlich. Bei einer solchen Beweislage muss der Tatrichter ferner erkennen lassen, dass er alle Umstände, die seine Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. (BGH NStZ-RR 2002, 174/176).
Diesem Anspruch ist das Gericht nicht nachgekommen. Zum einen hat es die Aussagen des Angeklagten gar nicht beachtet und im Urteil auch nicht gewürdigt, obwohl diese präzise vorgetragen wurden. Zum anderen hat es nicht gewürdigt, dass der Polizeizeuge selbst von seinen eigenen schriftlichen Niederlegungen in der Akten, vor allem in der Strafanzeige stark abwich und auch sonst in fast allen Punkten solche Angaben zum Ablauf des Geschehens machte, die von anderen Zeugenaussagen und auch von der Aktenlage abwichen. Dass das Gericht trotzdem diesem einen Zeugen glaubte, ist im Urteil nicht überzeugend begründet, stattdessen sind die vielen Hinweise, dass der Zeuge Walter sich ständig widersprach oder den Ablauf der Geschehnisse offensichtlich frei erfunden hatte, nicht gewürdigt worden. Dieses hätte aber auch angesichts der schon im Verhandlungsverlauf offensichtlich werdenden Widersprüche in den Berichten der Polizeizeugen, die auch das Urteil nicht verschweigt, geschehen müssen.
zu b.)
Der Angeklagte hatte in seinem Plädoyer am 11. Verhandlungstag eine Vielzahl von Belegen gegen die Version des Belastungszeugen POK Walter angeführt und die Widersprüche innerhalb dessen Darstellung und zu denen anderer Zeugen benannt. Die rechtlich fragwürdige Prozessführung (siehe Punkt B.1) führte dazu, dass der Angeklagte zur Wiederholung seines Plädoyers am 12. Verhandlungstag aufgefordert wurde. Da er damit nicht gerechnet hatte und folglich völlig unvorbereitet war, benannte er wegen der besonderen Bedeutung dieses Widerspruchs nur noch die grundsätzlichen Abweichung der Schilderung des Zeugen POK Walter in der Verhandlung zu seiner eigenen Strafanzeige vom 11.1.2003 (Blatt 16). Zwischen Aussage und von POK Walter selbst verfasstem Anzeigetext gibt es in allen wesentlichen Details erhebliche Abweichungen.
Auf diese Tatsache ist das Gericht im Urteil nicht eingegangen. Es erwähnt zwar in einem anderen Zusammenhang gerade die zeitnah abgefasste Strafanzeige als besonders glaubwürdig, beachtet diese aber am entscheidenden Punkt gar nicht. Hier liegt nicht nur eine seltsame Abwägung der Ergebnisse der Beweiserhebung und der Aktenlage vor, sondern auch eine völlig Missachtung des Angeklagten und seiner Ausführungen.
zu c.)
Etliche Zeugen haben nach ihren Angaben sehr dicht neben der Stelle gestanden, an der der Angeklagte in das Fahrzeug gehoben wurde. Entsprechend der Ablaufbeschreibung des Zeugen POK Walter in der Verhandlung (anders als in der Strafanzeige von ihm) soll der Tritt außerhalb des Wagens geschehen sein. Dann wäre er gut sichtbar gewesen.
Zwei Zeugen (Tjark Sauer und Christian Krömker) gaben an, dass sie den gesamten Ablauf genau beobachtet hätten. Das Gericht hat deren Aussagen in der Urteilsbegründung vor allem die sehr präzisen Aussagen des Zeugen Krömkers sehr pauschal und ohne besondere Gründe abgelehnt. Eine Auseinandersetzung mit dessen günstigen Standpunkt zum Geschehen und dessen Bericht findet im Urteil gar nicht statt. Offensichtlich ist, dass hier eine Zeugenaussage gar nicht bewertet wird und auch nicht bewertet werden soll, so dass sie deshalb pauschal abgewiesen wird: „Der Aussage des Zeugen Krömker konnte die Kammer im hier in Rede stehenden Punkt keinen Glauben schenken, da der Zeuge bei seiner Aussage immer wieder seine Einschätzungen und Schlussfolgerungen so schilderte, als habe er entsprechende Beobachtungen gemacht. Es konnte insbesondere nicht festgestellt werden, inwieweit seine Aussage, einen Tritt habe es nicht gegeben, wirklich auf eigener Wahrnehmung beruhte, da er entsprechendes Randgeschehen auch auf mehrfaches, ausdrückliches Nachfragen nicht berichtete und daran also offenbar keine Erinnerung hatte.“ (Urteil, S. 21). Die Aussage des Zeugen Krömker war besonders präzise, zudem war er der einzige unabhängige Zeuge, der im Prozess auftrat – unabhängig in dem Sinne, dass er keiner der Parteien im Moment des Vorfalls bekannt war. Er hatte sich als zufällig anwesender Zeuge zur Verfügung gestellt. Er schilderte sehr genau und glaubhaft Details des „Einladevorgangs“. Dass das Gericht im unterstellt, es sei zweifelhaft, dass seine Schilderungen überhaupt auf eigener Wahrnehmung fußen, ist eine bedeutende Unterstellung, die der Substantiierung bedurft hätte. So macht das Gericht es sich bei diesem und bei den anderen Zeugen sehr einfach, auf deren Schilderungen überhaupt eingehen zu müssen. Es kommt der Verdacht auf, dass das Gericht sich nicht in der Lage sah, die Schilderungen zu widerlegen und daher mit dieser aus nichts abgeleiteten Unterstellung einen ihnen unangenehmen Zeugen aus der Würdigung herausnehmen wollte. Das aber würde nur weiter deutlich machen, dass es in dem Verfahren nicht um Beweiswürdigung, sondern um ein bestimmtes zu erreichendes Ergebnis, nämlich die Verurteilung ging. Auffällig ist dieser Umgang mit zwei sehr umfänglichen und präzisen Zeugenaussagen von Krömker und Sauer vor allem vor dem Hintergrund, dass bei den von Widersprüchen stark durchzogenen Polizeiaussagen genau gegenteilig gehandelt wurde und eine Vielzahl von Widersprüchen dort nicht dazu führte, dass das Gericht die Glaubwürdigkeit in Frage stellte.
Ebenso völlig ohne Beachtung war die übereinstimmende Aussage aller Zeugen, dass niemand den Tritt thematisierte in den vielen während und auch nach den Vorgängen laufenden Gesprächen zwischen DemonstrantInnen und Polizei, obwohl die Gründe für das Polizeiverhalten gerade Gegenstand der Gespräche waren und also die Benennung des Trittes von Seiten der Polizei naheliegend gewesen wäre. Angesichts dessen, welchen Aufwand die Polizei sonst betreibt, um die Angeklagten zu kriminalisieren, ist das Weglassen dieser Hinweise nur dadurch zu begründen, dass es den Tritt nie gegeben hat. Auf diesen mehrfach benannten Aspekt, dem von keinem Zeugen widersprochen wurde, ist das Gericht im Urteil an keiner Stelle eingegangen.
Abgesehen davon, dass es nicht notwendig ist, die Unschuld eines Angeklagten zweifelsfrei zu belegen, sondern die Schuld bewiesen sein muss (was nie geschah), ist die Beurteilung des Gerichts in diesen Fallen auch deshalb formal nicht korrekt, weil gerade der diese Fragen klärende Antrag der Angeklagten auf Ortstermin (Bl. 190, Band V) vom Gericht an nicht notwendig abgelehnt wurde (Bl. 230+231, Band V). Das Gericht hat damit eine Substantiierung der im Urteil als maßgeblich bewerteten Aussagen selbst verhindert. Vor allem aber hat es mit der Nichtbeachtung der Strafanzeige beim entscheidenden Punkt genau die Quelle missachtet, die es nach Urteilsbegründung in mehreren anderen Fällen unüberprüft als glaubwürdig eingestuft hat.
Diese Abwägung ist offensichtlich willkürlich und damit rechtswidrig.
zu d.)
In den Zeugenaussagen vor Gericht sowie in den Akten befindet sich eine große Zahl von offensichtlich falschen Angaben, die ebenso offensichtlich den Versuch darstellen, die Angeklagten zu kriminalisieren. Der Angeklagte hat in seinem umfangreichen Plädoyer diese Widersprüche benannt. Allein zu den Aussagen des Zeugen POK Walter hat er eine lange Liste von Widersprüchen angeführt:
- POK Walter will erst gekommen sein, als die Demo schon lief. Sein Fahrer PK Fett berichtet das völlig anders: Sie seien schon länger vorher da gewesen. Erst lange nichts los, deutlich später kamen Demonstranten.
- Walter gibt an, sie seien zunächst nur zu zweit gewesen – er und Herr Fett. Herr Fett sagte eindeutig aus, dass sie drei Beamte waren – Walter, er und Herr Neumann von der Wachpolizei, der mal „reinschnuppern“ wollte.
- Obwohl Walter angibt, dass sie zunächst zu zweit vor Ort waren und erst nach einiger Zeit Verstärkung riefen, will POK Walter nichts vom „Hasenkrug“-Vorgang mitbekommen haben. Dieser wird aber nicht nur übereinstimmend von den Zeugen Schmidt, Janitzki und Sauer erwähnt, sondern auch von einem Beamten und in der Giessener Allgemeinen (Artikel von Bernd Altmeppen vom 13. Januar). Dieser Vorgang belegt auch, dass sogar die Polizei von einer zu schützenden Demonstration ausging. Nur POK Walter, obwohl anwesend und Einsatzleiter, will nichts mitbekommen haben.
- Walter sagte aus, der Angeklagte Bergstedt hätte über das Megaphon polizeiliche Maßnahmen abgeprangert, auch eine „angeblich willkürliche Hausdurchsuchung der Projektwerkstatt“. Diese Aussage wird von dem Angeklagten sowie dem Zeugen Sauer bestätigt. Damit hat Walter zum zweiten Mal den Charakter einer Demonstration selbst beschrieben und auch selbst mitgeteilt, dass die Demonstration aus einem Anlass war, der erst wenige Stunden (eine Nacht) zurücklag. Also eine legale Spontandemonstration.
- POK Walter sagte während seiner Vernehmung in der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Giessen: „Innenminister Bouffier ließ über den Polizeipräsidenten Meise mitteilen, dass die Versammlung aufzulösen sei.“ Diese Aussage deckt sich mit seinen Angaben aus der ersten Instanz und ist eine der wenigen, die als glaubwürdig zu betrachten ist.
- Sie deckt sich mit der Aussage des Beamten Fett, der etwas flapsig formuliert hatte, dass Polizeipräsident Meise ihnen gesagt hätte, das mit dem Transparent sei nicht in Ordnung, da müsste mal was gemacht werden. Er erwähnt zudem, dass auch Bouffier persönlich sie aufgefordert hätte, in der Sache aktiv zu werden.
Diese anfänglichen Einlassungen von Zeuge Walter zeigen bereits, dass er auch bei den Anfangsbedingungen die tatsächlichen Abläufe falsch wiedergibt. Ebenso macht er eindeutig klar, dass der Angriff auf die Demonstration nicht seine Einschätzung war, sondern aufgrund der Anordnung des Innenministers erfolgte. Der aber war nicht in seiner Funktion als Innenminister, sondern als Wahlkämpfer anwesend, d.h. der Angriff auf die Demonstration war wahltaktisch bedingt, was bereits ausreichen würde, um den Angriff als rechtswidrig festzustellen.
- Zeuge Walter behauptete, bei der Attacke auf das Transparent gar nicht dabei gewesen zu sein, weil diese Massnahme und die Attacke auf das Megaphon gleichzeitig gewesen wären. Das entspricht nicht einmal seinen eigenen Vermerken in den Akten und ist auch unwahrscheinlich, da es nur wenige Beamte waren, die sich nicht mehr aufteilen konnten.
- Die Zeugen Braun, Janitzki und Sauer beschrieben auch klar und übereinstimmend, dass es zuerst einen Zugriff auf das Transparent gegeben hat.
- Der Polizeibeamte Ernst sagte ebenfalls aus, dass erst das Transparent sichergestellt wurde, d.h. auch er widerspricht POK Walter.
- Wo die rechtswidrige und absurde Idee herkam, ein Stück Stoff störend zu finden und deshalb eine Demonstration zu attackieren, berichtet der Beamte Fett. Er erklärte, dass Polizeipräsident Meise, der neben Innenminister Volker Bouffier stand, ihnen mitgeteilt hätte, „dass mit dem Transparent sei nicht in Ordnung, da müsse was gemacht werden“.
- In seiner Strafanzeige vom 11.01.2003 (Blatt 2 - 5) beschreibt aber sogar auch POK Walter selbst, dass erst das Transparent sichergestellt und in einen „Funkwagen“ verbracht wurde. In der Anzeige heißt es: „Bei deren Eintreffen (eine Streife der Pst. Gießen-Nord, -drei Kollegen-, eine Streife der Pst. Gießen-Süd und eine weitere Streife des KDD) sollte zunächst das Transparent sichergestellt werden.“ (Blatt 3)
- In der hiesigen Hauptverhandlung behauptete Walter nun, die Sachen mit Transparent und Megaphon seien „zeitgleich passiert“. Zudem gab Walter an: „Ich weiß nicht, warum das Transparent beschlagnahmt wurde.“ (Widerspruch zum Anzeigentext)
- Die Aussage eines Kollegen zeigt, dass Walter an dieser Stelle noch mehr gelogen hat: Der Beamte Ernst gab an, Walter hätte selbst angeordnet, dass das Transparent zu beschlagnahmen sei. 5-6 Beamte seien daraufhin zu der Transparent-Gruppe gegangen. Und eben POK Walter habe dort die Leute aufgefordert, das „Tuch“ abzugeben. Als das nicht passierte, hätten seine Kollegen das Transparent ergriffen und gewaltsam weg gezogen
- Der Zeuge Janitzki sagte dazu aus, es habe keine Nennung von Gründen gegeben – das Transparent sei einfach mit Gewalt und ohne Angabe von Gründen entfernt worden.
Im Urteil wird der durch mehrere Zeugenaussagen klar belegte Vorgang mit der Beschlagnahme des Transparentes gar nicht erwähnt. Das ist von besonderer Bedeutung, weil das Urteil an dieser Stelle vor dem Hintergrund der zeitlich vorher liegenden Beschlagnahme des Transparentes absurd wird. Die Begründung des Lärmschutzes oder der Sicherung einer störungsfreien Wahlwerbeveranstaltung der CDU ist ohnehin keine Rechtsgrundlage für das Ende einer Demonstration, ist aber ohnehin hinfällig, wenn klar würde, dass der Angriff zunächst auf ein lautloses Teilelement der Demonstration erfolgte. Die Unterlassung, diesen bewiesenen Vorgang im Urteil überhaupt zu benennen, ist ein schwerwiegender Abwägungsfehler, wenn nicht gezielte Rechtsbeugung, da der Vorgang im Prozess eine erhebliche Rolle spielte.
- Zur Frage der Gründe des Eingreifens der Polizei bot POK Walter von sich aus mehrere Varianten seiner Märchenstunde an. Die erste Version stand im Anzeigentext von Walter (Blatt 3): „Da davon ausgegangen werden mußte, dass der Beschuldigte keine behördliche Erlaubnis zur Benutzung eines Megaphons hatte, sollte dieses sichergestellt werden.“ An dieser Stelle zeigt sich bereits die obrigkeitsstaatliche Denkweise Walter’s, die wenig mit dem Versammlungsrecht gemein hat. In seinem Denken müssen sich BürgerInnen ihre Meinungsäußerung von Behörden erlauben lassen. Das Versammlungsrecht sagt eindeutig: Versammlungen müssen nicht genehmigt, nur angemeldet werden. Die Versammlungsbehörde sollte in Kenntnis gesetzt werden, um sich auf die Versammlung einzustellen – eine Erlaubnis für Demonstrationen ist jedoch nicht vorgesehen.
- Eine andere Version benannte Zeuge Walter in der Hauptverhandlung: „Damit die Wahlkundgebung der CDU nicht weiter gestört werden konnte.“ Das ist wohl der eher wahrscheinliche Hintergrund des (auch nach dem Urteil, siehe Seite 8 des Urteils) vom Wahlkämpfer Bouffier veranlassten illegalen Angriffs auf die Demonstration, er dürfte allerdings als rechtliche Grundlage wenig taugen. Viel mehr entstand der deutliche Verdacht, dass hier Übereifer angesichts der Anwesenheit des obersten Dienstherrn und dessen unmissverständlichem, aber rechtswidrigen Wunsch nach Ruhe vor dem CDU-Stand der Auslöser dafür war, dass POK Walter jenseits jeglicher Rechtmäßigkeit möglichst schnell die Demonstration beenden wollte. Zusätzlich, quasi als dritte Variante, führte Walter an: Nach „Gefahrenabwehrlärmverordnung“ habe der Angeklagte Bergstedt mit dem Megaphon die Ruhe gestört. Eine solche Verordnung gibt es schlicht gar nicht. Ein Polizist, der sich das Gesetz, nach dem er handelt, nicht nur vom Inhalt, sondern bei dieser im Gerichtssaal benannten Variante sogar ganz komplett selbst erfindet, handelt vielleicht wunschgemäß dem Innenminister, aber sicher nicht rechtmäßig.
- Walter behauptet, er habe Bergstedt aufgefordert, dass Megaphon abzugeben. Bergstedt hat sich daraufhin „versteift“, anschließend ging er in eine gebückte Haltung. Walter weiter: „Daraufhin habe ich erklärt, dass er in Gewahrsam genommen würde.“
- Diese Aussage steht deutlich im Widerspruch zu der Beschreibung, die andere Zeugen abgeben. Am deutlichsten beschreibt der Zeuge Janitzki die Situation: „Urplötzlich“ hätten sich mehrere Beamte auf Bergstedt „gestürzt“, es sei „überfallartig“ abgelaufen und die Beamten seien „eher von der Seite“ auf Bergstedt zu gekommen. Sein Gesamteindruck: „Es hat mich ein bisschen an Footballspiele erinnert.“
- Staatsanwalt Vaupel hielt Janitzki vor, dass der sich getreten fühlende POK Walter angegeben hatte, dass er Bergstedt mehrfach aufgefordert habe, das Megaphon heraus zu rücken. Das schloss Zeuge Janitzki klar aus: „Dann hat er von einem anderen Vorfall berichtet“, spottete er in deutlicher Form.
- Auch der Beamte Hinkel sagte aus, dass Bergstedt aufgefordert worden sei, dass er das Megaphon abgeben sollte. Dass sei nicht geschehen. Da die Situation vor Ort nicht mehr zu klären war, sei versucht worden, Bergstedt aus dem Tumult zu entfernen. Hinkel sagte wörtlich: „Es ging in erster Linie darum, dass Megaphon weg zu nehmen.“ An keiner Stelle erwähnt er, dass es eine Erklärung der Festnahme gegeben habe. Und die Frage von Demonstrationsrecht gibt es auch längst nicht mehr, als die Polizei sich auf das Megaphon stürzt unter den Augen ihres Polizeipräsidenten und des Innenministers ...
Im Urteil schlussfolgert das Gericht trotz offensichtlicher Widersprüche und der klar entgegenstehenden Aussage der meisten Zeugen, dass sowohl die Herausgabe des Megaphons wie auch die Festnahme dem Angeklagten Bergstedt erklärt wurden. Es stützt sich dabei zum einen auf den vom Gericht trotz offensichtlicher Falschaussagen als glaubwürdig eingestuften Zeugen POK Walter sowie auf wilde Spekulationen hinsichtlich dessen, was der Angeklagte selbst alles gedacht haben soll. Auch hier hat keine Abwägung der Ergebnisse der Beweisaufnahme stattgefunden. Die Auffassungen des Gerichts sind durch Zeugenaussagen kaum oder gar nicht gedeckt. Zudem würde aber auch die Version des Gerichts immer noch belegen, dass der Angriff rechtswidrig war, denn eine Auflösung der Demonstration wird auch in der Urteilsbegründung ebenso nicht aufgeführt wie eine darauf zunächst notwendig folgende Aufforderung zum Verlassen des Platzes und darauf wieder folgend ein formaler Platzverweis. Stattdessen spricht auch das Gericht selbst in der Urteilsbegründung davon, dass der Angriff auf den Redner auf der Demonstration erfolgte, ohne dass vorher die Demonstration aufgelöst wurde o.ä.
- POK Walter will den Angeklagten Bergstedt alleine mit Herrn Ernst getragen haben.
- Der Zeuge Krömker sagte dazu, dass je ein Beamter pro Gliedmaße eingesetzt wurde, um B. zu tragen. Auf den Vorhalt der abweichenden Aussage Walter’s reagierte Krömker mit: „Es waren definitiv 4, die B. getragen haben.“
- Ähnlich deutlich äußerte sich auch der Zeuge Braun - wörtlich: „Es waren immer 4 – 5 Beamte an seinem Körper.“
- Auch der Zeuge Schmidt sagte aus, dass vier Personen Bergstedt getragen hätten. Er beschrieb zudem, dass ein weiterer Beamte Bergstedt von hinten getreten habe. Auch nach dem Hinweis, dass Bergstedt dieses nicht geschildert habe, hielt Schmidt an seiner Beobachtung fest: „Ich habe das gesehen, auch wenn Herr Bergstedt davon nichts mitbekommen hat.“
- Das belegt die Glaubwürdigkeit des Zeugen, was die Beschreibung der Abläufe anbelangt. Auf den Bildern zu dem Zugriff auf Bergstedt sind deutlich mehr, wenigstens fünf Beamte zu sehen.
- Der nachnominierte Beamte Hinkel bestätigte die Version, nach der mehr als zwei Beamte Bergstedt abtransportierten: So sagte Hinkel aus, dass zwei oder drei Bergstedt gezogen hätten. Er sei dabei an Armen und Beinen erfasst worden. Die beschriebene „Trage-Technik“ deckt sich mit den Beschreibungen des Angeklagten sowie der bereits genannten Zeugen.
- Auch in einem direkt nach dem Vorfall erschienen Artikel in der Giessener Allgemeinen vom 13. Januar 2003 schreibt Autor Bernd Altmeppen, der bekannt für seine ablehnende Haltung gegenüber Bergstedt und der Projektwerkstatt ist: „Bergstedt musste schließlich von vier Beamten zu einem Polizeiwagen geschleift und wegtransportiert werden.“
Im Urteil erkennt das Gericht die Version des Angeklagten, die zudem u.a. vom Zeugen Krömker gestützt an, dass mehr als zwei Polizisten in der letzten Phase beteiligt waren: „Zuletzt zogen und trugen 3-4 Beamte den Angeklagten“ (Urteil, S. 9). Das widerspricht dem Zeugen Walter eindeutig, d.h. selbst das Gericht erkennt an, dass in sehr wesentlichen Fragen der Zeuge Walter nicht die Wahrheit gesagt oder sich geirrt hat. Das hätte das Gericht bemerken und bei der Frage der Glaubwürdigkeit des Zeugen POK Walter berücksichtigen müssen.
- Bemerkenswert ist, dass POK Walter nach zwei Jahren „bemerkt“, dass der ihm angeblich beim einladen helfende Beamte nicht mehr Hinkel, sondern Dietermann heißt
- Dietermann gab an, dass er und Walter sich auch vor dem Einsatz schon kannten
- Auch Hinkel gab an, er und Walter würden sich kennen
- Da sich die Beamten offenbar kannten, wirkt es eher unglaubwürdig, dass Walter zwei ihm persönlich bekannte Polizisten grundlos verwechselt und das nicht einmal über eine Gerichtsverhandlung hinweg bemerkt – denn wir befinden uns ja in der Berufung, während Walter in der ersten Instanz bei der alten Version blieb. Somit bleibt ein Verdacht, dass Walter bewusst eine Person „eingewechselt“ hat, die seine Version deckt. Was allerdings nicht gelang, denn nach einigen auswendig klingenden Passagen weicht auch Dietermann von den Geschichten des POK Walter ab.
Das Gericht legt im Urteil diesen Punkt nicht nur als Zweifel an der Glaubwürdigkeit von POK Walter aus, sondern geradezu gegenteilig: „Eher für als gegen die Glaubhaftigkeit seiner Aussage sprach nach Auffassung der Kammer zudem, dass der Zeuge jetzt erstmals den Zeugen Dietermann erwähnte, der beim Verbringen des Angeklagten in den Transporter half, indem er den Angeklagten von hinten in das Fahrzeug hineinzog, wie der Zeuge Dietermann nun bei seiner Vernehmung bekundete. Als erfahrener Polizeibeamter muss der Zeuge Walter gewusst haben, dass er mit der (späten) Benennung eines weiteren Tatzeugen riskierte, dass man dies als bedeutsame Aussageänderung auffassen könnte, die die Glaubwürdigkeit wesentlich erschüttern kann. Dass er sich trotzdem dazu entschloss, konnte vor seinem Wissenshorizont nur als Bemühen aufgefasst werden, auch in diesem Punkt die Wahrheit zu sagen.“ (Urteil, S. 19/20). Diese Ausführung des Gerichts ist abenteuerlich. Es fällt auf, dass mehrfach gravierendste Widersprüche in den belastenden Aussagen übersehen oder sogar für die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen gewertet wurden, während umgekehrt kleinste Abweichungen der entlastenden Zeugen benutzt wurden, um diese pauschal und ganz als unglaubwürdig abzutun. In Hinblick auf den Wechsel des Namens Hinkel in Dietermann fügt das Gericht sogar noch an: „Der Zeuge Walter konnte auch plausibel erklären, weshalb er den Zeugen Dietermann bis dahin "vergessen" hatte. Wie die Vernehmung auch anderer Polizeibeamter ergab, gehörte der Zeuge Dietermann einer anderen Polizeidienststelle an, mit der gewöhnlich keine Kontakte bestanden, und es konnte ohne weiteres nachvollzogen werden, dass der Zeuge Walter - ebenso wie andere Kollegen - am Tattag nicht wusste, welche Polizisten im einzelnen vor Ort waren. Unter diesen Umständen erschien es glaubhaft, dass der Zeuge Walter den Zeugen Dietermann am Einsatzort nicht mit Bewusstsein wahrnahm und deshalb keine Recherchen anstellte, ob noch andere Kollegen bei dem Vorfall dabei waren, zumal der Zeuge Dietermann sofort, nachdem der Angeklagte im Fahrzeug war, ausstieg und andere Beamte mit dem Zeugen Walter zur Polizeistation fuhren.“ Das ist in beiden Teilen unsinnig. Der Zeuge Dietermann hatte in der Verhandlung klar formuliert, den Zeugen POK Walter gut zu kennen. Daher war er diesem also auch bekannt. Dass Dietermann aus dem Fahrzeug wieder ausstieg, führte gegenteilig zu der absurden Schlussfolgerung des Gericht ja gerade dazu, dass er sich weiterhin neben POK Walter befand. Denn anders als die Urteilsbegründung suggeriert, fuhr POK Walter nach seinen eigenen Angaben und auch nach Aktenlage ebenfalls nicht mit im Fahrzeug, sondern blieb vor Ort.
- POK Walter sagte aus, nur er und Dietermann hätten Bergstedt in den Wagen eingeladen
- Dietermann konnte nicht ausschließen, ob weitere Kollegen beim Einladen dabei waren
- Der Zeuge Krömker gab an, dass 3-4 Personen Bergstedt ins Auto gehoben hätten. Zwei Beamte hätten versucht, die Beine von B. von außen in den Wagen zu bekommen. Bergstedt habe sich in dieser Phase mit der linken Hand an der offenen Seitentür des Wagens fest gehalten. Krömker sagte aus, das Bugsieren in den Wagen hätte den Beamten erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Es habe so ausgesehen, als versuche man, einen Eichenschrank durch eine zwei Meter zu kleine Öffnung zu schieben. Die Beschreibung von Krömker weist viele Details auf, die für eine genaue Beobachtung, gute Erinnerung und eine hohe Glaubwürdigkeit sprechen
Die Zeugenaussagen ergaben eindeutig, dass es mehr als zwei Personen waren – zumal bereits drei der beteiligten Polizeibeamten (Walter, Ernst, Dietermann) vernommen wurden. Die Skizze von PK Ernst zeigt eindeutig, dass er direkt am Wagen mitwirkte (Blatt 166). Auch dieses Detail muss angesichts der direkten Verbindung mit der Situation, in der POK Walter den Tritt schilderte, als wesentlich betrachtet werden. Das Gericht aber ging auf diesen Widerspruch im Bericht von POK Walter nicht mehr im Besonderen ein.
- Es ist keine Körperverletzung im ersten Bericht von PK Ernst erwähnt (Blatt 8). Das ist seltsam, denn in der Verhandlung selbst hat er gesagt, von dem Tritt und der Verletzung etwas mitbekommen zu haben. Das reiht sich ein in eine Vielzahl offensichtlicher Widersprüche aller beteiligten Polizeibeamten.
- Die Version aus der Akte von Seiten des POK Walter lautete dann zunächst so: „Schon fast gänzlich ins Fahrzeuginnere verbracht, kam es zur aktiven und heftigen Gegenwehr des Beschuldigten. Es gelang ihm, seine Beine aus dem Griff / Umklammerung durch den Unterzeichner zu entziehen. Durch einen seiner plötzlichen gezielten Tritte mit beiden Stiefeln (Kampfstiefel mit aufgenageltem Metallbesatz an der Schuhspitze) in Richtung des Unterzeichners, der sich –situationsbedingt- in leicht gebückter Haltung befand, wurde dieser durch einen dieser Tritte an der Stirn getroffen und verletzt.“ (Strafanzeige von Walter, Blatt 4)
- In der Hauptverhandlung war es dann nur noch ein Tritt mit einem Fuß. Beim Einladen, und zwar ganz am Anfang, habe Bergstedt „seinen Fuß lösen“ können. Zitat von Walter: „Es gab einen Tritt gegen meine Stirn.“ Das ist an der entscheidenden Stelle eine groteske Abweichung. Allein dieser seltsame Wandel von „gezielte Tritte mit beiden Stiefeln“ zu „ein Tritt mit einem Fuß“ und von „schon fast gänzlich ins Fahrzeuginnere verbracht“ zu „beim Anheben“ wäre.
- Der genaue Zeitpunkt des Trittes konnte in der Verhandlung von Zeuge Dietermann nicht benannt werden obwohl auch letzterer behauptete, den Tritt gesehen zu haben.
- Eine athletische Erklärung für den Tritt hatte POK Walter nicht – wörtlich antwortete er auf die Frage, wie der Tritt athletisch vorstellbar sei: „Dass habe ich mich auch gefragt“. D.h. er kann sich gar nicht erklären, wie das passiert sein soll. Wenn alles so ablief, wie er es beschrieb, war der Tritt in der Tat nicht möglich. Walter fand auch keine Erklärung
- An dieser Stelle schaltete sich das Gericht ein und bot Walter eine Erklärung an: Nämlich dass der Angeklagte vielleicht unbemerkt kurzzeitig mit dem Gesäß auf der Eingangsstufe des Transporters zum Sitzen kam. Diese Version stammt aus keinem Aktenvermerk und aus keiner Vernehmung. Es ist eine freie Überlegung des Gerichts, mit der es dem offensichtlich in Widersprüche verhedderten Polizeibeamten an der entscheidenden Stelle half, eine wenigstens für dieses Detail noch schlüssige Story zu schreiben. Die Zeugenaussage ist aber wegen dieser auch die Unabhängigkeit des Gerichts in Frage stellenden Hilfeleistung beim Erfindungen von Abläufen deutlich abgewertet. Ohne Hilfe der Vorsitzenden Richterin hätte POK Walter offensichtlich seinen Widerspruch, eine athletisch unmögliche Handlung zu beschreiben, nicht auflösen können.
- Walter behauptete, keine körperliche Reaktion auf den Tritt gezeigt zu haben. Er habe auch nicht darüber geredet.
- Der angeblich beim in den Wagen heben unmittelbar beteiligte Beamte Dietermann sagte aus, Walter habe sich an die Stirn gegriffen. Das ist ein offensichtlicher Widerspruch zu Walters Aussage.
- Der Beamte Ernst sagte aus hingegen, Walter sei aufgestanden und habe sich an den Kopf gegriffen. Das steht in auffälligem Kontrast zur Aussage Walters und der des Zeugen Dietermann. Offensichtlich ist, dass alle eine eigene „Version“ haben, um Walter zu stützen.
- Der beim Einladen angeblich beteiligte Beamte Dietermann sagte, es habe einen Moment „Überraschung“ bzw. Bestürzung bei ihnen gegeben wegen des Tritts. Das muss, wenn nicht erfunden, auch für Außenstehende erkennbar gewesen sein
- Zwei Zeugen, die den gesamten Einladevorgang aus nächster Nähe verfolgt haben, sagten aus, dass es keinen Tritt gegeben habe: Der Zeuge Sauer sagte aus, beim Einladen 2 m von dem Wagen entfernt gestanden zu haben. Er habe die Situation die ganze Zeit im Auge gehabt. Einen Tritt hätte er bemerkt. Es habe nie eine ruckartige, gegenläufige Bewegung entgegen der eingeschlagenen Bewegungsrichtung gegeben. Einen Tritt außerhalb des Wagens könne er ausschließen
- Der Zeuge Krömker gab an, auf 5 Meter Entfernung bis zum Auto vorgegangen zu sein, als Bergstedt vor dem Wagen abgesetzt wurde. Den Einladevorgang beschreibt er sehr präzise. Einen Tritt schließt Krömker aus – nicht jedoch, dass POK Walter gelogen haben könnte.
Die Menge an Abweichungen und offensichtlichen Widersprüchen auch für die entscheidende Phase des Trittes ist bemerkenswert. Sie ist auch dem Gericht nicht entgangen, dass in seiner Urteilsbegründung mit einer pauschalen Formulierung alle Widersprüche zu heilen versuchte: „Da alle Zeugen während des Gesamtgeschehens, teilweise mehrfach unterschiedliche Aufgaben wahrnahmen, waren ihre Aussagen nicht deckungsgleich, sie ergänzten sich jedoch zwanglos und ohne nennenswerte Widersprüche zu einem folgerichtigen Geschehen.“ (Urteil, S. 20) Das ist kein sorgsamer Umgang mit fatalen und umfangreichen Widersprüchen, sondern eine gezielte Umdeutung des Geschehens in der Beweisaufnahme. Für eine Verurteilung kann ein Gericht nicht einfach Widersprüche in dieser pauschalen Form abtun oder sogar umdeuten. Erst recht kann das Gericht das nicht machen, wenn von Seiten der Angeklagten mehrfach darauf hingewiesen und zu beweisen versucht wurde, dass Polizeikräfte in Gießen immer wieder Vorwürfe erfunden hätten. Das Gericht folgte dieser Sichtweise sogar teilweise: „Dem Zeugen Walter und den übrigen als Zeugen aufgetretenen Polizeibeamten warf der Angeklagte vor, sie machten allesamt gemeinsame Sache, damit er bestraft werde. Zum Beleg führte er eine lange Reihe von Umständen an, die teilweise nicht von der Hand zu weisen waren,“ allerdings fügte es – dann ohne jegliche Begründung – an: „aber vorliegend nach Überzeugung der Kammer jedenfalls keinen Einfluss auf die Aussagen der Polizeibeamten in Richtung unbewusster oder gar bewusster Falschbelastungen hatten.“ (Urteil, Seite 12)
- Walter gab zuerst an, er sei nach dem Vorfall auf die Dienststelle gefahren, dort geblieben, habe den Arzt verständigt und eine Anzeige geschrieben
- Die Festnahme von Bergstedt war um 13.10, das Attest entstand erst um 17.55.
- Erst auf mehrmalige Nachfrage gab er an, dass es einen Anruf von Meise gab, der noch mal eine Streife anforderte. Daraufhin sei er wieder zum CDU-Stand gefahren
- Er sei also auf den Anruf von Polizeipräsident Meise noch mal zum CDU-Stand gefahren. Dort sei aber keiner mehr gewesen, er sei dann zurück gefahren.
- Einer von POK Walter selbst unterzeichneten Meldung (Blatt 13) vom 11.01.2003 ist zu entnehmen, dass die Streife mit der Besatzung „Walter-Fett-Neumann“ um 13:25 angefordert wurde. Der Grund – wörtliches Zitat: „Herr Polizeipräsident Meise braucht dringend Unterstützung im Seltersweg.“ Dort steht wörtlich: „Bis zum Abbau gg. 15.00 verblieb die Streife an diesem Infostand.“
- Walter reagierte auf diesen Vorhalt mit der Lüge, es seien zwei Streifenwagen da gewesen, die andere sei am Ort verblieben. Sein Kollege Fett aber gab während der Vernehmung an, nach dem Einsatz hätte Meise sie noch mal zum CDU-Stand angefordert, weil sich dort noch nicht alles beruhigt hätte. Sie seien dort bis zum Ende des Abbaus des Standes geblieben. Er sagte auch aus, dass sie die einzige Streife vor Ort waren. Damit bestätigte er die von Walter unterzeichnete Meldung – nämlich die, dass Fett, Neumann und Walter mindestens bis 15h weiterhin im Dienst waren.
Auch hinsichtlich der Abläufe nach der Festnahme machte Zeuge Walter weitere Aussagen, die zu denen anderer Zeugen und zu Vermerken in der Akte in einem grotesken Widerspruch stehen. Es ist aus dem Zusammenhang heraus völlig unbegreiflich, wieso das Gericht gerade den Zeugen Walter als glaubwürdig einstufte und seine Aussagen höher bewertete als mehrere eindeutige Zeugenaussagen, die Walter widerlegten.
zu e.)
Das Urteil enthält ebenso wie das Vorgehen von POK Walter am 11.1.2003 eine falsche Rechtsbewertung der Frage, ob das Polizeihandeln rechtsgemäß war. Das Versammlungsrecht ist eindeutig:
- Die Polizei darf eine Demonstration nicht willkürlich angreifen. Solch eine Willkürmassnahme stellt aber dar, wenn eine Demonstration auf Wunsch der kritisierten Politiker attackiert wird.
- Zudem ist der Angriff rechtswidrig, wenn er die notwendigen Vorschriften und Regeln bei der Auflösung einer Demonstration nicht einhält.. Danach hätte die Polizei die Einstellung bestimmter verbotener Tätigkeiten (wenn es sie denn gegeben hätte) fordern und bei Nichtbefolgung die Auflösung der Demonstration androhen und dann zunächst verkünden müssen.
All das ist zweifelsfrei erwiesen im vorliegenden Fall nicht geschehen. Kein einziger Zeuge, auch der Polizei-Einsatzleiter nicht, berichteten von solchen Vorgängen.
- Die Bewertung des Gerichts, dass Redebeiträge auf der Demonstration eine Lärmbelästigung dargestellt hätten, ist vom geltenden Versammlungsrecht her eine unhaltbare Rechtsposition. Das Versammlungsrecht steht über Lärmschutzverordnungen. Eine Unverhältnismäßigkeit der Redebeiträge oder Lautstärke des Megaphons wurden weder belegt noch überhaupt behauptet.
- Die Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes zeigt sich zudem in der Behauptung des Polizei-Einsatzleiters, er hätte eine Ruhestörung nach Gefahrenabwehrlärmverordnung ahnden müssen. Eine solche Verordnung würde erstens nur Ordnungswidrigkeiten beschreiben und erfordert daher nicht einen Einsatz der Polizei, zweitens gibt es eine solche Verordnung gar nicht. Der Polizei-Einsatzleiter hat sie sich schlicht ausgedacht. Darauf ist von Seiten der Angeklagten im Prozessverlauf auch hingewiesen worden.
- Dass der Bezug auf eine vermeintliche Ruhestörung ohnehin nur eine Schutzbehauptung ist und es tatsächlich um die illegale, gewaltsame Auflösung der unerwünschten Demonstration ging, zeigt sich deutlich darin, dass zunächst gewaltsam ein Transparent entfernt wurde – ebenfalls ohne jegliche Aufforderung und ohne Auflösung der Demonstration u.ä. Lärmschutz kann hier wohl nicht angeführt werden. Der Zugriff auf das Transparent erfolgte vor dem auf das Megaphon. Da der Angriff auf das Megaphon danach erfolgte und nach übereinstimmenden ZeugInnenaussagen der Angeklagte durch das Megaphon zu diesem Zeitpunkt auch den rechtswidrigen Angriff auf das Transparent thematisierte, sind seine Redebeiträge sogar in doppelter Weise durch das Demonstrationsrecht geschützt, da zum ohnehin vorhandenen Grund einer Spontandemonstration (rechtswidrige Hausdurchsuchung in der Projektwerkstatt am Tag davor) ein weiterer hinzukam, nämlich der rechtswidrige Angriff auf die Demonstration.
- Rechtsfehlerhaft ist, wie bereits genannt, dass das Gericht den Angriff auf die Demonstration als rechtmäßig einstufte, weil vom Megaphon Lärm ausging, denn das Demonstrationsrecht deckt die Nutzung eines Megaphons. Es ist aber auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil der Angriff auf die Demonstration überhaupt nicht gezielt gegen die Lärmquelle gerichtet war, sondern zunächst das eindeutig lautlose Transparent attackiert wurde. Der rechtswidrige Angriff auf die Demonstration lief also schon, der Zugriff auf das Megaphon ist nur die Fortsetzung rechtswidriger Angriffe und kann daher nicht als Begründung des gesamten Angriffs auf die Demonstration herhalten, wie es das Gericht im Urteil aber tut.
- Alle Zeugen, auch die Zeugen der Polizei, beschrieben in ihren Aussagen das Geschehen eindeutig als Versammlung. Der Polizei-Einsatzleiter behauptete ja gerade, dass es eine illegale, weil nicht genehmigte Versammlung gewesen sei. Damit irrt er, denn Versammlungen müssen nicht genehmigt werden. Aber er gibt klar zu erkennen, das Geschehen auch selbst als Versammlung einzustufen.
- Dass die Demonstration begründet war und sogar Rechtsauffassungen vertrat, die inzwischen in vollem Umfang vom Landgericht Gießen geteilt werden, ist mit dem Urteilsspruch auch klar. Die Demonstration bezog sich auf die direkt vorhergehende Hausdurchsuchung in der Ludwigstr. 11 in Saasen und auf die Festnahme am 9.1.2003 in Grünberg sowie die Inhaftierung vom 9.-10.1.2003. Die Hausdurchsuchung ist kurz danach vom Landgericht für rechtswidrig erklärt worden, die Festnahme ist im Urteil des Landgerichts im laufenden Prozess als rechtswidrig erklärt worden. Insofern hat die Demonstration am 11.1.2003 nicht nur einen offensichtlichen Grund, der direkt davor liegt, sondern das Landgericht hat selbst zweimal anerkannt, dass es selbst die Position, die in der Demonstration gegen die Polizei sowie das Amtsgericht Gießen benannt wurde, teilt. Umso absurder erscheint, dass dasselbe Gericht dann einen deutlich rechtswidrigen und gewalttätigen Angriff auf genau diesen Protest für rechtmäßig hält.
Sowohl der Polizeiübergriff am 11.1.2003 wie auch das Urteil des Landgerichts Gießen missachten das geltende Versammlungsrecht, das ein Grundrecht ist. Die Verurteilung würde daher, sollte sie Rechtskraft erhalten, nachfolgend Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Überprüfung sein.
Das die von der Polizei angegriffene Veranstaltung eine Demonstration war, hatte auch die Polizei erkannt:
- POK Walter schilderte den Ablauf als offensichtlich erkennbare Demonstration mit inhaltlichem Bezug zum Vortag, er nannte u.a. die Hausdurchsuchung in der Projektwerkstatt als Inhalt der von B. gehaltenen Reden.
- Die Polizei selbst hat das Demonstrationsrecht anerkannt. Der vom Angeklagten und mehreren Zeugen (u.a. Janitzki, Schmidt und Sauer) beschriebene „Glühwein“-Vorgang, bei dem die Polizei den Bergstedt anmachenden und störenden Stadtparlamentarier Hasenkrug zur Seite drängte, hatte dies deutlich untermauert. Die TeilnehmerInnen der Versammlung inklusive dem Angeklagten wurden berechtigterweise in ihrer Überzeugung gestärkt, dass ihr vom Grundrecht garantiertes Versammlungsrecht gegen Störungen verteidigt wird.
- Kein einziger Polizist berichtete davon, dass der Demonstration als solcher die Auflösung der Versammlung erklärt wurde. Damit bestand sie weiter als legale Versammlung auch in der Sekunde, wo die Polizei das Megaphon entwenden wollte.
- Walter bestätigte auch in der zweiten Instanz, dass Innenminister Bouffier den Angriff auf die Demo wünschte. Es war also keine polizeiliche Einschätzung, sondern Wunsch eines Wahlkämpferns. Ein anderer Beamter sagte sogar, Bouffier hätte ein zweites Mal nachgefragt und gedrängelt. Das ist ein rechtswidriger Befehl, nämlich von einem Wahlkämpfer, für einen rechtswidrigen Angriff.
- „Da die Versammlung nicht angemeldet war, sollte sie aufgelöst werden, das forderten sowohl Herr Bouffier und auch Herr Meise“. So stand es im Protokoll der ersten Instanz, S. 14, 3. Absatz, wurde von den Zeugen in der Berufungsverhandlung bestätigt und findet sich auch im jetzigen Urteil: „Währenddessen meinten sowohl der Innenminister als auch der Polizeipräsident Meise gegenüber dem Zeugen Walter, der als Einsatzleiter der Polizei für Sicherheit und Ordnung vor Ort verantwortlich war, dass man sich "das", gemeint war die Aktion des Angeklagten Bergstedt, nicht bieten lassen wolle.“ (Urteil, S. 8). Inhaltlich übereinstimmend sagte es POK Walter auch selbst in der Verhandlung. Die Rechtsauffassung von POK Walter war irrig, aber auch er zweifelte gar nicht daran, dass es sich hier um eine Versammlung handelte.
- Der Angriff auf Transparent und Megaphon dagegen war insgesamt und in allen Details unrechtmäßig, da eine spontane Demonstration angegriffen wurde, ohne sie aufzulösen. Dafür hätte auch kein Grund bestanden. Es wurden während des Verfahrens von keinem Zeugen stichhaltige Gründe genannt, die eine Auflösung einer Versammlung gerechtfertigt hätten – wie z.B. Aufrufe zu Gewalt oder von der Versammlung ausgehende Straftaten. Die genannten Begründungen von POK Walter („verbotene Demonstration“, „Ruhestörung“) bieten keine Rechtsgrundlage für eine Auflösung einer Demonstration. Insbesondere die erwähnte „Ruhestörung“ kann nicht als Begründung für den Zugriff dienen. Zum Wesen von öffentlichen Demonstrationen gehört, dass dabei der Protest in einer Form kundgetan wird, die über den Kreis der VersammlungsteilnehmerInnen wahrnehmbar ist – z.B. mit Hilfe eines Megaphons.
Es gibt eindeutige Urteile, dass, wer sich wie die CDU in der Öffentlichkeit präsentiert, damit rechnen muss, dass KritikerInnen diese Öffentlichkeit ebenso nutzen, um ihre Meinung kund zu tun. Es sei ausdrücklich auf ein Urteil des VG Berlins (20. Juli 1998) ins Bezug auf eine Versammlung, die sich gegen ein öffentliches Bundeswehr-Gelöbnis richtete: Die Versammlungsbehörde wollte die Gegendemonstration in einen durch einen Gebäudekomplex vom Platz der Vereidigung getrennten Bereich abdrängen. Das VG Berlin aber hat die Veranstaltung auf einem Platz zugelassen, von dem aus der Protest bei Verwendung von Lautsprechern auf der Vereidigung zu hören war. Die Entscheidung wurde unter Berufung auf das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) damit begründet, die Bundeswehr müsse, wenn sie die Öffentlichkeit für eine wirkungsvolle Darstellung nutzen will, damit rechnen, daß Kritiker ihre Einwände am selben Ort öffentlich zu erkennen geben. Die Bundeswehr könne nicht beanspruchen, das Gelöbnis auf einem öffentlichen Platz vor einem ihr wohlgesonnenen Publikum durchzuführen. Kritische Äußerungen seien zu ertragen, solange nicht der Ablauf der Veranstaltung konkret beeinträchtigt wird; gewisse Beeinträchtigungen der angestrebten Würde und Feierlichkeit seien hinzunehmen.
- Eine Ruhestörung liegt nur dann vor, wenn aus der Demonstration heraus zielgerichtet und dauerhaft nur der CDU-Stand beschallt worden wäre, eine solche Behauptung hat aber weder Walter, noch ein anderer Beamter gemacht, der die Maßnahmen gegen B. durchgeführt hat. Die Megaphon-Ansprachen haben nach Aussage von POK Walter (Seite 1 der Strafanzeige, Blatt 3) wenige Minuten gedauert und seien nach einer kurzen Pause wiederholt worden. Ähnlich beschreibt der Zeuge Janitzki die Abläufe. Ausführungen zur Zielrichtung der Beschallung sind seinen Aktenvermerken und Aussagen vor Gericht nicht zu entnehmen. Das Gericht stellte selbst fest: „Er redete mit Unterbrechungen mehrfach hintereinander, insgesamt mindestens 10 Minuten lang.“ (Urteil, S. 8). Eine 10-minütige Rede ist vom Versammlungsrecht in jedem Fall abgedeckt und stellt auch keine Unverhältnismäßigkeit dar.
- Hinzu kommt, dass das Benennung des Lärms als Grund ohnehin eine nachträglich vorgeschobene Begründung ist, denn damit ist der zeitlich vorhergehende Angriff auf das Transparent gar nicht zu rechtfertigen. Dieser stellt aber bereits den Beginn der rechtswidrigen Handlungen dar, in dessen Verlauf dann auch das Megaphon attackiert wurde.
- Dass kein Grund für den Eingriff benannt wurde, lässt sich ebenfalls aus dem Angriff mit dem Transparent ableiten. Denn für dessen Beschlagnahme wurde auch im Prozessverlauf von keinem Polizisten ein Grund genannt. Auch aus den Akten ist keiner ersichtlich. Folglich kann auch keiner Ort genannt worden sein, denn es gab schlicht keinen.
- Formal bedeutet dass: Der Angriff war rechtswidrig – aus vielen Gründen, die schon allein reichen würden. Es liegt auch daher kein Widerstand vor, da die Verhaftung rechtswidrig war (siehe dazu: Urteil des Amtsgericht Frankfurt 31.3.2004) und § 113, Abs. 3 des StGB.
- Der Angriff ist nicht nur rechtswidrig, sondern selbst eine Straftat nach Versammlungsgesetz! Dort heißt es im § 21: „Wer in der Absicht, nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Zudem ist die Festnahme des Angeklagten Bergstedt rechtswidrig und unverhältnismäßig selbst dann, wenn man nicht akzeptiert, dass es eine legale Demonstration war. POK Walter hat in seiner Vernehmung zugegeben, dass er das niedrigschwelligere Mittel „Platzverweis“ nicht angewendet hat, weil er davon ausging, dass „sich eh niemand dran halten würde“. So kann die Polizei nicht vorgehen. Die Polizeigesetze sind ohne eine Katastrophe und geben der Polizei unglaubliche Macht. Aber sie muss sich daran halten und kann nicht selbst entscheiden, ob sich jemand an einen Platzverweis halten würde. Darum ist die Festnahme rechtswidrig, weil ein Platzverweis dem Ziel der Ruhe für den CDU-Stand auch gereicht hätte.
All diese Punkte sind vom Angeklagten im Verfahren auch angeführt worden. Zu all dem führt das Gericht nur aus: „Die Tat zum Nachteil des Zeugen Walter ist rechtlich als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 StGB in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2, 52 StGB zu bewerten. Die vom Zeugen Walter vorgenommene Diensthandlung war im Sinne von § 113 Abs. 3 StGB rechtmäßig. Der Zeuge Walter war zuständig für die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung im Bereich der von der Stadt Gießen genehmigten CDU-Wahlwerbung mit einem Stand. Bei der gegebenen Sachlage entschied er sich angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zu Recht zum Einschreiten. Ob dabei die Wünsche des Innenministers und des Polizeipräsidenten eine Rolle spielten, war daher ohne Belang. Sein Verlangen, das Megaphon herauszugeben, war nach der nicht zu beanstandenden Einschätzung der Lage durch den Zeugen Walter auch notwendig, um weitere Durchsagen zu unterbinden. Da sich der Angeklagte allem widersetzte, waren auch seine Festnahme und der Abtransport zum Transportfahrzeug rechtmäßig.“ (Urteil, S. 27). Auf die Kernpunkte der Rechtswidrigkeit geht das Urteil damit gar nicht ein. Das Versammlungsrecht ist vom Gericht schlicht nicht beachtet worden.
Das Gericht unterstellte dem Angeklagten sogar, er hätte selbst die Rechtswidrigkeit erkannt: „Aufgrund der äußeren Tatumstände gab es keinen Zweifel, dass sich der Angeklagte bewusst und gewollt den Polizeimaßnahmen widersetzte. Dies geschah nach Überzeugung der Kammer auch in dem Bewusstsein der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns. Es lag nämlich auf der Hand, dass eine genehmigte Wahlveranstaltung, zumindest nach allgemeinem Polizeirecht nicht minutenlang mit Lautsprecherdurchsagen aus kurzer Entfernung beeinträchtigt werden darf. Die rechtlichen Bewertungen des Angeklagten in diesem Zusammenhang waren daher als Schutzbehauptungen einzustufen.“ (Urteil, S. 19). Während des gesamten Prozessverlaufes hatte der Angeklagte deutlich die Rechtswidrigkeit des Polizeihandelns zu belegen versucht und dafür umfangreiche Quellen, andere Urteile und Vernehmungen eingefordert. Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, wie das Gericht auf die Idee kommt, das alles sei nur eine Schutzbehauptung gewesen und der Angeklagte sei selbst sogar der Auffassung, die Polizeimassnahme sei rechtmäßig. Das ist nicht nur reine Spekulation des Gerichts, sondern eine ziemlich unverschämte Behauptung, da sie den Angeklagten sichtbar nicht ernst nimmt und seine vorgebrachten Argumente nicht mehr in der erforderlichen Art würdigt. Der Hinweis auf das Versammlungsrecht ist ein ernstzunehmender und intensiv in der Verhandlung begründeter Tatbestand, der vom Gericht in der Urteilsfindung zu würdigen und nicht als Schutzbehauptung abzutun ist.
Auch die Verweis des Gerichtes auf das „allgemeine Polizeirecht“ (Urteil, S. 19) weist selbst einen Rechtsfehler auf, weil eine Versammlung nach Versammlungsrecht zu bewerten ist und durch dieses die dargestellte Form der Megaphon-Durchsagen gedeckt sind, selbst wenn der CDU-Stand dadurch überhaupt beeinträchtigt worden sein sollte.
Rüge nach materiellem Recht: Der Zugriff der Polizei widerspricht dem geltenden Versammlungsrecht (GG, Art. 8). Er ist daher rechtswidrig. Folglich ist das Verhalten des Angeklagten Bergstedt selbst für den Fall, dass Widerstandshandlungen gegen die Festnahme als festgestellt gelten, nicht strafbar (StGB § 113, Abs. 3).
Antrag auf Sachentscheidung: Ich beantrage, das Urteil zu diesem Punkt aufzuheben und den Angeklagten freizusprechen. Die Verurteilung im Anklagepunkt „Widerstand mit gefährlicher Körperverletzung“ erfolgte, obwohl die Beweiserhebung eindeutig erbrachte, dass der Angeklagte als Redner auf einer Demonstration tätig war. Die Festnahme der Polizei war daher ein Verstoss gegen das geltende Versammlungsrecht. Die Polizei hat alle Formvorschriften im Umgang mit einer Versammlung missachtet, sie hat zudem das geltende Polizeirecht missachtet. Daher ist eine Strafbarkeit etwaiger Widerstandshandlungen nicht gegeben. Das Urteil basiert auf mehrfachen materiellen Mängeln, nämlich der Nichtbeachtung des Versammlungs- und Polizeirechts.
zu f.)
Völlig verschwiegen wird im Urteil die in der Verhandlung zweifelsfrei nachgewiesene Tatsache, dass die Polizei und auch Zeuge POK Walter persönlich zunächst nicht das Megaphon angriff, sondern eine Personengruppe, die ein Transparent hielt. Es ist auffällig, dass dieser Angriff nicht mit Lärmschutz begründet werden könnte. Überhaupt konnte im Gerichtsverfahren von niemandem ein Grund genannt werden, warum das Transparent angegriffen wurde. Unstrittig aber war auch aus mehreren Polizistenaussagen, dass zunächst das Transparent beschlagnahmt wurde. Da es dafür keinen Grund gab, konnte auch keiner benannt werden, d.h. der Zugriff war auf mehreren Gründen und erwiesenermaßen rechtswidrig. Allein schon deshalb ist bewiesen, dass der Angriff auf die Demonstration rechtswidrig war, denn der Beschlagnahmeversuch des Megaphons ereignete sich zeitlich danach. Selbst wenn das Gericht dazu eine andere Position gehabt haben sollte, wäre die Würdigung dieses Umstands im Urteil absolut notwendig gewesen, da die Frage der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahmen von Bedeutung für diesen Anklagepunkt ist.
Es ist völlig unklar, wieso das Gericht diesen wichtigen Aspekt im Urteil völlig verschweigt und behauptet, dass POK Walter nach der Aufforderung des Innenministers, gegen die Versammlung vorzugehen, sich gleich dem Megaphon zuwendete: „Als kurz darauf etwa 8 - 9 weitere Beamte eingetroffen waren, wollte der Zeuge Walter das Tun des Angeklagten und seiner Begleiter beenden. Er trat deshalb zusammen mit weiteren Polizeibeamten an den Angeklagten Bergstedt heran.“ (Urteil, S. 9).
Das Gericht hat entweder die übereinstimmenden Aussagen aller Zeugen zum Ablauf unterschlagen oder sogar bewusst den Ablauf verdreht, um eine Verurteilung zu ermöglichen. Das aber wäre ein klarer Fall von Rechtsbeugung – nicht der einzige in diesem Urteil.
Rüge nach materiellem Recht und Antrag auf Sachentscheidung wie unter Punkt F.e.
zu g.)
Zudem ist auch jenseits des besonderen Schutzes von Versammlungen die Massnahme rechtswidrig und unverhältnismäßig:
· In der Berufungsverhandlung hatte der Polizei-Einsatzleiter angegeben, dass er gar nicht versucht hätte, niedrigschwelligere Anordnungen zu treffen. So habe er keine Platzverweise statt einer Gewahrsamnahme erteilt, weil er annahm, dass die Angeklagten sich daran ohnehin nicht halten würden. Solches Polizeihandeln ist nach HSOG nicht rechtgemäß. Das HSOG sieht im § 4 eine Stufigkeit vor, Gewahrsamnahmen sind nur zulässig, wenn andere Massnahmen nicht das gewünschte Ziel erreichen oder eine z.B. mit einem Platzverweis belegte Person sich an diesen nicht hält. Nichts davon war gegeben, daher war der Zugriff auch außerhalb des Versammlungsrechts rechtswidrig. Das HSOG sagt klar: „Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen haben die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden diejenigen Maßnahmen zu treffen, die die einzelne Person und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigen.“ (§ 4, Abs. 1 HSOG)
Unabhängig davon ist eine Gewahrsamnahme auch nach dem Polizeirecht selbst (§ 32 HSOG, Abs. 1) an bestimmte Voraussetzungen gebunden, von denen keine zutraf:
„Die Polizeibehörden können eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies
1. zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet,
2. unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern,
3. unerläßlich ist, um Maßnahmen nach § 31 durchzusetzen, oder
4. unerläßlich ist, um private Rechte zu schützen und eine Festnahme und Vorführung der Person nach den §§ 229, 230 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches ohne polizeiliches Einschreiten zulässig wäre.“
Keiner dieser Gründe traf zu:
- Eine Gefahr im Verzuge oder ähnliche Legitimation zum sofortigen Einschreiten bestand nicht. Auch nach Aussagen der Zeugen von der Polizei ging keine unmittelbare Gefährdung irgendeiner Art von der Demonstration aus. Es wurde ausschließlich die Ruhestörung benannt.
- Die Festnahme ist auch unabhängig davon unverhältnismäßig, weil eine Festnahme, d.h. Freiheitsberaubung durch die Geschehnisse nicht legitimiert ist.
- Zweifelhaft blieb, ob überhaupt eine Anordnung auf Herausgabe des Megaphons erging – jenseits der offensichtlichen Tatsache, dass diese nicht rechtmäßig gewesen wäre. Weitgehend unstrittig aber blieb unter den Zeugen, dass die Festnahme nicht erklärt wurde. Sogar mehrere der Polizeizeugen berichteten nur davon, dass das Megaphon sichergestellt werden sollte. Von einer Festnahme wussten nicht einmal alle am Gerangel um das Megaphon beteiligte Polizisten. Das Gericht folgte einseitig für den gesamten Verlauf der Schilderung eines einzigen Zeugen, während die meisten anderen Zeugen dem klar widersprachen, darunter auch Polizeizeugen selbst.
Schließlich ist auch bedenklich, dass eine als Privatperson im Wahlkampf anwesende Person, die im Beruf Innenminister ist, den Polizeieinsatz angewiesen hat. Wie die Polizeizeugen darstellten, hat der Innenminister, der am CDU-Wahlstand anwesend war, zunächst über den Polizeipräsidenten, dann aber auch direkt gegenüber der anwesenden Gruppe der Polizei deutlich eingefordert, die Demonstration zu beenden.
Rüge nach materiellem Recht: Der Zugriff der Polizei widerspricht dem geltenden Polizeirecht (Verstoß gegen HSOG §32, Abs. 1 und HSOG, § 4, Abs. 1). Er ist daher rechtswidrig. Folglich ist das Verhalten des Angeklagten Bergstedt selbst für den Fall, dass Widerstandshandlungen gegen die Festnahme als festgestellt gelten, nicht strafbar (StGB § 113, Abs. 3).
Antrag auf Sachentscheidung wie unter Punkt F.e.
zu h.)
Das von POK Walter vorgelegte Attest ist nach Auskunft der Universitätsklinik nicht das für Strafverfahren übliche ärztliche Informationsschreiben. Dieses sei wesentlich präziser und umfangreicher als ein kleiner Attestzettel, der als Unterlage für z.B. Abwesenheit vom Dienst ausreicht, nicht aber bei Strafverfahren. Diese Auskunft gab die Universitätsklinik, Bereich Mund-/Kiefer-/Gesichtschirurgie, am 6. Juni 2005, als der Angeklagte Bergstedt selbst eine solche Bescheinigung in einem Fall auf Bitten der Polizei einholen wollte, wo er selbst Betroffener war. Es ist also reiner Zufall, dass diese Information an ihn gelang, obwohl sie eindeutig hätte im Gerichtsverfahren genannt bzw. ein solches Informationsschreiben seitens der Ermittlungsbehörden hätte eingefordert werden müssen. Am 3.6.2005 hatte die Staatsschutzbeamtin Cofsky vom Polizeipräsidium Gießen vom Angeklagten in einem anderen Fall, wo er eben Betroffener war, dieses Informationsschreiben verlangt. Warum bei einem sehr ähnlichen Strafverfahren (vermeintlicher Tritt mit beschuhtem Fuss in Gesicht) in einem Fall dieses eingefordert, im anderen aber nicht einmal vor Gericht als nötig erachtet wird, bleibt unklar. In jedem Fall ist das von POK Walter vorgelegte Attest nach Auskunft der Universitätsklinik NICHT geeignet, um eine Verletzung in einem für ein Strafverfahren ausreichend präzisem Maße zu beschreiben.
zu i.)
Das Gericht muss nicht nur die Aussagen der ZeugInnen würdigen, sondern auch die der Angeklagten. Vorsitzende Richterin Brühl hatte am 21.4.2005 während des Verhandlungsverlaufs dieses selbst mit folgenden Worten ausgedrückt: „Alles was plausibel vorgetragen wird von den Angeklagten, muss widerlegt werden“. Die Abläufe sind vom Angeklagten widerspruchsfrei dargestellt worden. Das stand in einem bemerkenswerten Gegensatz zu den von Widersprüchen und offensichtlichen Erfindungen geprägten Aussagen des Zeugen Walter und anderer Polizeizeugen. Von einem Widerlegen der Schilderungen des Angeklagten zum Ablauf des Geschehens kann an keinem Punkt die Rede sein. Im Urteil werden die Schilderungen der Angeklagten aber gar nicht erwähnt. Sie sind folglich auch nicht widerlegt oder auch nur angemessen gewürdigt worden. Die Version des Angeklagten stützende Aussagen weiterer Zeugen sind pauschal abgewiesen, also auch nicht angemessen gewürdigt worden.
Im Kommentar zur Strafprozeßordnung von L. Meyer-Goßner heißt es zum § 260, Randnr. 2: „Der Richter muss sich mit allen wesentlichen für und gegen den Angeklagten sprechenden Umständen auseinandersetzen“ sowie Randnr. 6: „... verpflichtet § 261, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu würdigen und dem Urteil zugrunde zu legen, sofern nicht im Einzelfall ausnahmsweise ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht (BGH 29, 109, 110; MDR 88, 101 [H]; Einl 55; 12, 33 zu § 267). Auch die Äußerungen des Angeklagten sind zu würdigen“. Dieses ist vorliegend nicht geschehen.
Formale Rüge: Die Nichtbeachtung der Äußerungen des Angeklagten im Urteil beeinträchtigen die Beweiswürdigung (Verstoß gegen § 261, Abs. 1 StPO).
Daher erfolgt der Antrag, das Urteil aufzuheben und an eine andere Kammer zurückzuverweisen.