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MODERNE FORMEN VON HIERARCHIE: FÜHRUNG IN HIERARCHIEKRITISCHEN GRUPPEN

Geschichtsschreibung als Herrschaft


1. Einleitung
2. Modern führen: Methoden für versteckte Dominanz
3. Assimilieren - die sanfte Übernahme
4. Herrschen, ohne dass es jemand merkt: Instrumentalisierung
5. Kontrolle der Außenvertretung
6. Geschichtsschreibung als Herrschaft
7. Bewegungsagenturen und -kraken
8. Aufstehen!
9. Von Staat und Bewegungsoligarchen gefürchtet: Unberechenbarer Protest
10. Links zu Alternativen ...

Wer definieren kann, wie Geschichte abgelaufen ist, beherrscht die Gegenwart.

Das ist eine wichtige Erkenntnis allgemeiner Herrschaftstheorie. Geschichtsschreibung ist eine Form diskursiver Herrschaft, also der Beherrschung der Massen über das allgemeine Denken, Sprache und Kultur. Sie ist immer und überall präsent - auch in politischer Bewegung. Die Funktions- und Deutungseliten produzieren permanent Beiträge über Abläufe der Vergangenheit und ihren Anteil daran. Vor allem geht es darum, eigene Erfolge zu kreieren. Für eine Bewegungsagentur, einen NGOs, Netzwerke oder Kampagnen, die nach Hegemonie streben, ist es wichtig, sich als erfolgreich und unterstützenswert zu inszenieren. Dafür werden Erfolge und Aktionen erfunden oder Handlungen anderer als eigene vereinnahmt. Für die Wirkung auf politischen Einfluss, Bekanntheit und/oder Spendeneinnahmen ist es völlig egal, wer wo etwas gemacht hat. Es kommt nur darauf an, von wem später angenommen wird, wer es gemacht hat.

Aus James C. Scott: "Applaus dem Anarchismus" (S. 163)
Die Verdichtung der Geschichte, unser Verlangen nach klaren sauberen Erzählungen und das Bedürfnis von Eliten und Organisationen, ein Bild der Kontrolle und der Zweckgebundenheit zu entwerfen, wirken alle zusammen, um ein falsches Bild historischer Kausalität zu vermitteln. Sie machen uns blind gegenüber der Tatsache, dass die meisten Revolutionen nicht das Werk revolutionärer Parteien sind, sondern der Niederschlag spontaner und improvisierter Aktion („Abenteurertum“ im marxistischen Lexikon), dass organisierte soziale Bewegungen für gewöhnlich das Produkt, nicht die Ursache unkoordinierter Proteste und Demonstrationen sind und dass die großen emanzipatorischen Zugewinne für die menschliche Freiheit nicht das Ergebnis ordnungsgemäßer institutioneller Vorgänge sind, sondern sich den unordentlichen, unvorhersehbaren, spontanen Aktionen verdanken, die die Sozialordnung von unten her aufgesprengt haben.

Hegemonie durch Negation der Anderen
Ein beliebtes Mittel, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken: Die anderen ausblenden. Wer über privilegierte Mittel z.B. im Kontakt zu Medien, Veranstalter*innen usw. oder durch mehr Finanzmittel zur Herstellung von Broschüren, Filmen usw. verfügt, kann politische Kämpfe so darstellen, dass andere einfach negiert werden.
Beispiele und Methoden:
  • In mehreren Rückblicken von Umwelt-NGOs zum Widerstand gegen die Agro-Gentechnik werden Feldbefreiungen und Feldbesetzungen nicht benannt, obwohl sie die spektakulärste und bekannteste Aktionsformen waren - und auch die Gentechnikfirmen diese Aktionen als Hauptgrund für die Beendigung der Freisetzungen aufführen.
  • Typisch sind Zitate-Kartelle, bei denen sich Angehörige der Apparate ständig gegenseitig als Quellen und weiterführende Literatur nennen, aber unabhängige Aktive verschweigen. Ein gutes Beispiel ist das Buch "Monsanto auf Deutsch", welches das grundlegendste Buch zu den deutschen Gentechnikseilschaften war. Aus ihm wurde viel abgeschrieben, aber die Quelle fast nie benannt.
  • Am 12. Februar 2019 verbot die Bundesregierung unter anderem den Mesopotamien-Verlag und beschlagnahmte alle Bücher - Büchervernichtung der modernen Art. Die Bücher selbst waren nicht das Problem, sondern dem Verlag wurde unterstellt, getarnt der verbotetenen PKK zu dienen. Mehrere andere Verlagen übernahmen daraufhin solidarisch das Verlagsprogramm, darunter auch der SeitenHieb-Verlag mit vier Bücher von Öcalan. Mehr Werke wurden von einer Kooperation mehrerer linker Verlage neu herausgegeben. Passend zur Frankfurter Buchmesse 2019 präsentierten sie diese. Dass auch der SeitenHieb-Verlag Bücher herausgab, wurde nirgends erwähnt - was übrigens nicht neu ist. Bei der (linken) GegenBuchMasse war er bislang noch nie erwünscht - dafür aber viele kommerzielle Verlage linker Literatur. Man muss offenbar innerhalb des kapitalistischen Systems bleiben, um als Alternative zu diesem zugelassen zu werden.
  • XR Gießen, angesichts der Vielzahl kreativer Aktionen in dieser Stadt seit Jahrzehnten eher eine unbedeutende zusätzliche Gruppe, lud am 21.10.2019 zu einem Vortrag. Unter dem Titel "Ziviler Ungehorsam in Giessen - 80er Jahre und heute" veranstaltete die Gruppen zusammen mit dem AStA der Uni Gießen, der sonst eher nie zu solchen Kooperationen zu bringen ist, einen Doppelvortrag. Ein ehemals Aktiver in der Friedens- und Umweltbewegung erzählte aus den 80er Jahren und dann eine ganz neu Aktive von XR. Die vielen kreativen Aktionen, die Gießen seit Jahrzehnte erlebt, wurde ebensowenig erwähnt wie die Akteur*innen. XR stellte sich als mehr oder weniger einzige Gruppe solcher Aktionen dar - obwohl die Gruppe speziell in Gießen eher noch keine Aktionen gemacht hat geschweige denn zu irgendeinem konkreten Thema arbeitet. Hinweise auf Besetzungsaktionen, Verkehrswendeaktionen, die laufende Waldbesetzung aufder A49-Trasse usw. kamen alle aus dem Publikum. ++ Änkündigungsseite der Veranstaltung

Beispiel Klimabewegung - wer hat die erschaffen?
Die interventionistische Linke phantasiert über "das rapide Wachstum und der inzwischen erreichte Organisierungsgrad der Klimabewegung seit den Aktionen von Ende Gelände" (so auf deren Internetseite). Tatsächlich ist Ende Gelände erst nach der großen Massenaktion überhaupt gegründet worden! Aber die Eliten wollen sich den Erfolg natürlich unter den Nagel reißen. Geschichtsschreibung ist stets eine der wichtigsten Formen von Herrschaft. Die mehreren Jahre anstrengender Aufbauarbeit, während der sich eine avantgardistisch-hierarchische Organisation wie die IL einen Dreck um das Thema scherte, werden aus der Erinnerung gelöscht. Der Widerstand soll durch die entstanden sein, die erst dazukamen, als er schon groß und wirkmächtig war. Ein paar Absätze weiter schafft es die IL dann sogar, gegen die zu hetzen, die eigentlich mal das Ganze in Gang gesetzt haben: Konkrete Aktionsgruppen, die vieles wagten und damit am Anfang ziemlich allein standen und der Staatsmacht ausgeliefert waren, während die IL in warmen Uni-Sälen Reden hielten. Zitate von der gleichen Internetseite: "Anstatt nur über eine Zuspitzung in der Aktionsform nachzudenken, sollten die Waldspaziergänge im Hambacher Forst uns doch eine Lehre dafür sein, noch niedrigschwelligere und anschlussfähigere Taktiken für Massenaktionen zu entwickeln." Mensch beachte das "anstatt". Also nicht beides, sondern niedrigschwelliger mehr, direkte Aktionen weniger.
Der Autor, Rafiki genannt, ist laut der Seite organisiert in der IL Berlin und auch aktiv bei Ende Gelände selbst, die sich nicht nur diesmal selbst als Headquarter und Erfinder der Klimabewegung inszenieren.

Ende Gelände als Erfinder von Besetzungen?
Aus einer Mail
Die Gerüchte verdichten sich, dass es am 20.9. morgens als Teil der 7:00 Uhr Aktionen eine Besetzung der Autobahnbaustelle der A-100 in Berlin in der Nähe der S-Bahn Treptower Park geben wird. Das wäre der nächste Schritt um Ende Gelände in die Städte zu tragen.

Aus "Industrie als zweite Natur", in: Junge Welt am 25.4.2022 (S. 12)
Der 15. August 2015 ist ein denkwürdiger Tag für die Klimabewegung in Deutschland. An diesem Tag besetzten mehr als tausend Menschen den Tagebau Garzweiler, eine von der RWE betriebene offene Braunkohlemine. Am frühen Morgen waren etwa 1.500 Leute aufgebrochen, und nach der Überwindung vieler Hindernisse, darunter Absperrungen und Polizeiketten, drangen einige Gruppen auf das Gelände des Tagebaus vor. Sie besetzten einen der Riesenbagger, und der gesamte Betrieb kam zum Stillstand. Damit war eine der spektakulärsten und medienwirksamsten Aktionen der letzten Jahre gelungen. ...
2010 hatte das erste Klimacamp stattgefunden, 2014 dann der erste »Großangriff«. 2018 besetzten 50.000 Menschen den Hambacher Forst unter der Parole »Hambi bleibt«. Spätestens da war klar: Die Aktivistinnen und Aktivisten von »Ende Gelände« hatten es geschafft, den Kohleausstieg auf die Tagesordnung zu setzten.

Zum letzten Zitat: Alle drei Daten sind falsch. Das erste Klimacamp fand 2008 in Hamburg statt. Welcher "Großangriff" 2014 gemeint sein soll, erschließt sich gar nicht. Der "Hambi" wurde 2012 besetzt, die erwähnten 50000 Leute kamen erst, als eine umkämpfte Räumung 2018 schon die Gemüter erhitzt und ein Gericht einen Rodungsstopp verhängt hatte. Die Organisation "Ende Gelände" ist erst nach der erfolgreichen Aktion von 2015 überhaupt erst entstanden und "klaute" den PR-trächtigen Namen der Aktion in der Kohlegrube. Aber so geht halt Geschichtsschreibung nach Gusto der Bewegungseliten.

Es gibt etliche solcher Beispiele. Der Film "Beyond the Red Lines", gedreht von einer sich anarchistisch gebenden Filmcrew aus Freiburg, wirft einen Blick auf mehrere Jahre Protest gegen den Klimawandel vor allem im Rheinischen Revier. Die bekannteste und wirksamste Aktion, der besetzte Hambacherforst, kommt im gesamten Film nicht vor.

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