Antirepression

PERSPEKTIVEN ZUR GEWALTFRAGE JENSEITS VON HEGEMONIALKÄMPFEN

Für eine Protestkultur emanzipatorischer Vielfalt und deren Aneignung


1. Vorschläge und Positionen
2. Für eine Protestkultur emanzipatorischer Vielfalt und deren Aneignung
3. Fazit: Mehr Hirn!
4. Die wichtigen Fragen stellen
5. Diskussionsbeiträge
6. Links

Wirksame Aktionsstrategien sind oft Mangelware - zumal wirksam ein relativer Begriff ist, d.h. er hängt von der diskutierten Zielsetzung ab. Dummer- und unverständlicherweise ist aber selbst diese oft ziemlich unklar. Eine entsprechende Analyse der Qualität von Aktionsformen im Nachgang einer Handlung fällt dann schwer oder unterbleibt einfach. Dieser Mangel politischer Bewegung muss überwunden, d.h. über Aktionsformen und -strategien künftig mehr und intensiver diskutiert werden. Das ist wichtig für alle folgenden Aktionen. Protest ist Prozess, Selbstentfaltung und Entwickung von Handlungsmöglichkeiten. Streit und Kritik dienen dabei der Verbesserung von Inhalt und Strategie, nicht der Ausgrenzung.
Die meisten der in jüngster Zeit gelaufenen Aktionen und Kampagnen zeigen ein enormes Defizit politischer Strategie. Es gilt, die eigenen Aktivitäten wieder intensiver zu hinterfragen und weiter zu entwickeln. Besonderes Ziel wird sein, vielfältige Aktionsansätze zu schaffen, d.h. das Mit- und Nebeneinander verschiedener Aktionsformen, darunter auch gewaltfreier und militanter. Sie sind nicht die einzigen Unterschiede, deren Mosaik das unberechenbare, vermittlungsreiche Ganze ergibt. Es wird noch vieles entworfen und ausprobiert werden müssen, damit sich Unterschiedlichkeit zu einer Stärke entwickelt, sich die einzelnen Aktionen gegenseitig stärken, unterstützen und insgesamt wirkungsvolle, vielfältige Strategien hervorbringen. Ein Nebeneinander von Militanz und gewaltfreier Aktion ist möglich und fördert die öffentliche Debatte - das beweisen die Castor-Auseinandersetzungen, die mit ihrem Streckenkonzept seit Jahren die große Ausnahme bilden, weil hier die Eigenarten verschiedener Strömungen nicht nur zugelassen sind, sondern sich auf mannigfaltige Art aufeinander beziehen und unterstützen. Das bedeutet, von den durchorganisierten Zentralveranstaltungen zu einer Kooperation der vielen handlungsfähigen Teile zu kommen - Bürger_innen-Initiativen, Basisgruppen, revolutionäre Zellen, was auch immer.

Reinhard Jessel, "Über Gewalt" in: Junge Welt, 7.2.2009 (S. 7)
Warum sich auf Rechte berufen, die nutzlos sind, oder die man sich nicht leisten kann? Politische Phantomrechte in Anspruch zu nehmen, wie z.B. sich als Stimmvieh von einer Horde größenwahnsinniger Staubsaugervertreter verarschen zu lassen oder demonstrierend am Demokratiefasching teilzunehmen und sich damit zu begnügen, zeugt unserer Meinung nicht gerade für einen kritischen Intellekt, der die Mächtigen schlecht schlafen lassen muß. Denn wie bereits Carl von Clausewitz bemerkte, besteht in einer kriegerischen Auseinandersetzung ein entscheidender Vorteil darin, sich das Schlachtfeld selbst auszusuchen, und damit dem Gegner die Bedingungen seiner Reaktionen aufzuzwingen.
Statt aufwendige Show-Veranstaltungen wie am Heiligendamm zu besuchen, wo Sitzblockaden aus den bürgerbewegten 80er Jahren nachgestellt werden, die anscheinend den Zweck erfüllen, einerseits Polizeieinheiten ein Gratistraining für den Bürgerkrieg zu spendieren, den wir in 20 Jahren haben werden, wenn sich nichts ändert, andererseits den Protestierern eine Stärke vorzugaukeln, die sich freilich gar nicht haben, sollte man sich eher wieder darauf konzentrieren, gezielte Aktionen an neuralgischen Punkten durchzuführen, für die es wiederum keine hunderttauschend Demonstranten braucht, sondern ein paar glückliche gut Organisierte.


Sich auf Strategien festlegen, ohne die Situation zu kennen, ist nicht nur unsinnig, sondern wird von Hegemonialinteressen einzelner Strömungen geprägt. Sie wollen, dass alle nach ihren Vorstellungen ticken.

Heinz von Förster/Bernhard Pörksen (8. Auflage 2008), „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, Carl Auer Verlag in Wiesbaden (S. 154)
Worauf es ankommt ist, daß ethische Fragen nicht zurückgelehnt im Lehnstuhl besprochen werden können; sie ergeben sich in einer konkreten Situation, sie sind nicht abgehoben und losgelöst debattierbar. Natürlich bin ich auch ein Erkenntnistheoretiker und war Mitglied einer Universität, aber wenn Sie nach einer ethischen Dimension fragen, dann geht es um die Praxis, um Down-to-earth-Probleme und nicht um jene Kategorien und Begriffssysteme, die akademische Clubs und ihre Spezialisten so sehr faszinieren.

Es geht also nicht um Gewalt als solche, sondern um die Qualität. Damit gilt für die Gewaltfrage nichts anderes als für andere strategischen Fragen und alle Protestformen: Für jede Aktion und jedes politische Ziel, passend zu den Rahmenbedingungen und den aktionstragenden Gruppen, muss neu diskutiert werden, welche Aktionsformen jeweils sinnvoll sind.

Der Frage einer Anwendung von Gewalt bzw. der Akzeptanz auch militanter Vorgehensweisen kommt dabei keine besondere Dominanz zu. Sie ist eine der vielen zu diskutierenden Punkte, wenn es um Aktionsformen geht - neben anderen Fragen wie der nach politischen Grundaussagen (Motto oder der Titel einer Aktion), Zeitpunkt, Ort usw. Im Allgemeinen gehört die Gewaltfrage aber nicht zu den Fragen, bei denen eine Einigung auf eine einengende Strategie nötig ist, weil ohne Probleme verschiedene Stile neben- und miteinander möglich sind. Wie das jeweils erfolgen kann, welchen Abstand (zeitlich und/oder räumlich) sie - wenn nötig - zueinander halten sollten, ist eine Frage strategischer Absprachen innerhalb vielfältiger Aktionskultur. Diese Form der Vielfalt gilt für die Frage der Militanz genauso wie für viele weitere Fragen, in denen nebeneinander verschiedene Positionen bestehen können. Gruppen können diese Unterschiedlichkeit sogar benennen - wie das z.B. bei Castor-Aktionen auch gemacht wird. Dort gibt es offen dargestellt die Vielfalt mit unterschiedlichen Ansätzen in der Militanzfrage: Gruppen wie X-tausendmal quer mit ihrer dogmatischen Gewaltlosigkeit neben aggressiv-militanten Gruppen und solchen, die beide Positionen akzeptieren. „Gewaltfrei oder militant - wichtig ist der Widerstand" ist hier Tradition (wenn auch selbst eine Verkürzung auf diese Frage). Vielfalt gibt es im Castorprotest auch bei anderen Fragen, z.B. bei den Zielen. Die einen beschränken ihre Aussage auf den Castortransport, andere wollen eine komplett andere Welt.
Der dritte Clip im Hirnstupser spezial greift die Frage der Organisierung auf: Was sind die Stärken, die durch die Vielfalt und die unterschiedlichen Aktionsformen entstehen? Was gefährdet sie? Der Hirnstupser analysiert die Vorteile der großen Breite in der Protestbewegung, zeigt aber auch die Punkte auf, an denen sie schnell gefährdet wird, wenn der Wert dieser Vielfalt den Beteiligten nicht klar ist. Distanzierung und Spaltung sind Feinde einer erfolgreichen Widerstandskultur. Streit und Debatte über Ziele, Methoden und die - absurd dominante - Gewaltfrage sind hingegen nötig.

Zu diesen Beiträgen gibt es passende Texte auf dieser Seite projektwerkstatt.de/.
Alle Texte, Podcasts und Filme auf fb.com/hirnstupser und hirnstupser.siehe.website.

Unkalkulierbar werden und bleiben
Ein wichtiges Ziel emanzipatorischer Aktionsformen ist kreative Unberechenbarkeit. Flexibilität und die Fähigkeit, Aktionsstrategien jederzeit variieren, ergänzen und weiterentwickeln zu können, sind wichtig. Dogmatische Selbstbeschränkungen, vor allem die nach außen benannte, machen es dem mit Gewaltmonopol ausgestatteten Staat, aber auch politischen Gegner_innen leichter machen, mit den Aktionen umzugehen. An den Strategien der Polizei ist das längst sichtbar. Diese haben Massendemonstrationseinsätze geübt und drängen deshalb Veranstalter_innen zu geschlossenem Auftreten (siehe G8-Proteste 1999 in Köln oder das Drängen der Polizei, spontane Aktionsformen wie RTS oder Critical Mass als geordnete Demonstrationen anzumelden). Statt solchen Wünschen nachzukommen, hätten neue und kreative Aktionen entwickelt werden müssen, um die auf Konformität eingestellte Polizei zu überfordern. Die Polizei würde nach einiger Zeit wieder reagieren, d.h. Aktionsformen müssen ständig weiterentwickelt werden. Dafür bedarf es einer Aktions- und Streitkultur, die Abweichung fördert. Denn aus Kreativität und Unzufriedenheit mit dem Status Quo erwächst das Neue. Hierarchien und Vereinheitlichung stehen dem ebenso im Wege wie deren Repräsentant_innen. Leider läuft der Mainstream politischer Bewegung im deutschsprachigen Raum in eine andere Richtung. Sie ist durchzogen vom Festhalten an alten Verhaltensmustern, weil die den jeweiligen Eliten ihren Status bzw. ihr Einkommen sichern. Modernisierungen wie das Aufkommen der hauptamtlich geführten Bewegungsagenturen (AVAAZ, Campact usw.) verschlimmern die Lage. Protest wird als Instantangebot organisiert. Politisches Engagement ähnelt dem Einkaufen: Zahlen - Konsumieren. Das gilt teilweise selbst im anarchistischen Lager, wo Platzhirsche (dominante Personen mit Hang zur Pfründe- und Einflusssphärensicherung) neuen Ideen mit Ausgrenzung, Diffamierungen und anderen schmutzigen Tricks statt offener Debatte entgegentreten. Ergebnis ist die aktuelle Phantasie- und Inhaltslosigkeit, die zu ein-punkt-bezogenem Aktionismus oder zur Anbiederung an Machtstrukturen (NGOs, Bewegungsagenturen, interne Hierarchien) führt.

Modelle für eine organisierte Vielfalt eigenständiger, kreativer Aktion statt geschlossener Einheiten sind selten - aber es gibt sie:
  • Nachdem 1999 in Köln 30.000 Menschen in einer langweiligen Demo fast unbemerkt durch die Stadt latschten, entwickelte eine Gruppe den Slogan 1000 mal 30 statt 1 mal 30000. Idee war, Aktionen mehr auf Vielfalt und Selbstorganisierung aufzubauen statt auf Masse und Geschlossenheit. Die Idee fand in der deutschen sozialen Bewegung allerdings kaum Widerhall. Dort herrschte von radikalen bis angepasstem Strömungen Einigkeit: Hierarchie, Zentralismus und Einheitlichkeit sind gut. Nur um die Posten der Führung wird gestritten.
  • In Rostock zum G8-Gipfel 2007 agierten ca. 80000 Menschen, meist jedoch als Einheit. 4000 Aktionsgruppen mit je 20 Personen hätten ein interessantes Bild abgegeben. In Seattle beruhte die Wirkung besonders auf dieser vernetzten Selbstorganisierung. Ob eine Kleingruppe militant agierte oder nicht, war dort ein Nebenaspekt. Rostock war anders, ganz anders. Dabei hatte es im Vorfeld einige kleine selbstorganisierte Aktionen gegeben: Ein leerstehendes Hochhaus wurde bemalt, die Gentechfabrik in Lüsewitz tagelang attackiert, die Siegessäule erklommen, manch Brandsatz gezündet. Doch als die Masse sich formte, verschwand die Vielfalt weitgehend. Die Apparate hatten das Sagen. Die Masse folgte willig und offensichtlich froh, nicht selbst über Aktionsformen und -inhalte nachdenken zu müssen.
  • Seit Ende der 90er bewährt und vom Vielfaltsgedanken getragen ist hingegen das Streckenkonzept zum Castor-Widerstand. Hier verwirklichen entlang der Schienen- und Straßenkilometer unterschiedlichste Gruppen ihre Art von Widerstand. So entsteht eine bunte Mischung - und sichtbar die höchste Wirkung.

Klare Positionen benennen
Aktionen sollten klare Positionen benennen - am besten radikale. Wann, wenn nicht bei öffentliche Aktionen, könnten die „reinen“, also von politisch-taktischen Überlegungen freien Forderungen formuliert werden? Neben dem speziellen Anlass oder Motto einer Aktion können allgemeinpolitische Positionen eingebunden werden und Grundlage von Bündnisbildung sein. Beispiele:
  • Eine Aktion gegen einen Abschiebeknast verbunden mit der Forderung eines Abschiebestopps oder offenen Grenzen insgesamt.
  • Die Aktion gegen den Castor-Transport verbunden mit der Forderung nach Atomausstieg, Energiewende oder Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln.
  • Proteste gegen die Agrogentechnik, im Rahmen derer auch für Ernährungssouveränität, Land und Freiheit gestritten wird. Usw.

Solch weitergehende Zielrichtungen gefährden das klare Profil einer Aktion nicht. Im Gegenteil: Die Vision einer besseren Welt tritt neben die Detailforderung und übt eine zusätzliche Anziehungskraft aus, mit der die eigenen Positionen vermittelt werden können. Zudem erleichtet es den Zugang zu anderen Gruppen und Organisationen, die die Detailforderung sonst für sich nicht interessant genug finden würden. Der Mut zu klaren Positionen ist unabdingbare Grundlage politischer Wirkungsfähigkeit. Auch bei den Inhalten und Forderungen ist organisierte Vielfalt möglich. Abweichungen befeuern den produktiven Streit.

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