Verkehrswende

VERKEHRSWENDE DURCHSETZEN ... AKTIONEN, GRUPPEN, NETZWERKE USW.

Der größte Konzern im Fokus: VW - Staat und Kapital gemeinsam als Täter


1. Gedanken zu Aktionskonzepten und -zielen
2. Neue Straßen verhindern - alte rückbauen!
3. Besetzt: Geschichte der Wald- und Wiesenbesetzungen gegen neue Verkehrsprojekte
4. Der Überblick: Wo werden neue Straßen geplant/gebaut
5. Der größte Konzern im Fokus: VW - Staat und Kapital gemeinsam als Täter
6. Konzerne im Fokus: Transformation aller Autokonzerne und Zulieferer
8. Sich vernetzen, gegenseitig unterstützen, gemeinsame Aktionen planen
9. Materialien (Broschüren, Ausstellungen, Flyer ...)

Mann küsst Porsche
Oben: Schnappschuss aus einem VW-Werbevideo ++ Unten: Sinnvollere Heckgestaltung

VW ist einer der beiden größten Automobilkonzerne der Welt, auf jeden Fall der größte in Europa und durch eine besondere, mit einem eigenen Gesetz geregelten Konstellation gemeinsam geführt von Kapital und Staat plus überdurchschnittlich viel Einfluss von Gewerkschaften und Betriebsräten. Das bedeutet, dass eine politische Intervention hier im öffentlichen Raum möglich ist, weil mehr mitreden können als bei reinen Kapitalkonzernen.
Deshalb haben Verkehrswende-Aktivist*innen 2019 den VW-Konzern für eine sehr spektakuläre Aktion ausgewählt, die den Auftakt für weitere Aktionen bildete, bis im Spätsommer 2022 eine intensive Kampagne für die Transformation von VW begann.

Amsel44 - das Projekt- und Verkehrswendehaus in Wolfsburg von 2022 bis 2024
Im Sommer 2022 entstand im Amselweg 44 mitten in Wolfsburg (Stadtteil Hesslingen) ein Projekthaus, welches Impulse für eine lokale Verkehrswende und eine Transformation von Autokonzernen und -infrastruktur für Fuß, Rad und ÖPNV erreichen will. Wolfsburg als Hauptstadt des Automobilismus soll dafür zum Symbol werden. Die Sache mit dem Haus war von Vornherein zeitlich begrenzt. Im August 2024 wurde das Haus wieder geräumt.


Aktuell u.a. in Kinos: Film mit Rück- und Einblicken in die zwei Jahre Aktionen

2x Elon Musk (Quelle)
Wenn etwas wichtig genug ist, machst du es, auch wenn die Chancen nicht auf deiner Seite stehen.

Manche Leute mögen keine Veränderung, aber man muss bereit sein zu Veränderungen, wenn die Alternative ein Desaster ist.

Die Kampagne: Vier Ziele zur Verkehrswende

  1. Transformation von VW: Straßenbahnen statt Autos bauen!
  2. Die Autostadt zur Verkehrswendestadt wandeln!
  3. Neu- und Ausbau von Straßen verhindern: Stopp A39, B188- und B190n!
  4. Keine neue Autofabrik!

Ziel 1: Die Transformation - VW soll für VerkehrsWende stehen!
Wer Straßenbahnen baut, keine Arbeitsplätze klaut,
zudem das Klima wirksam schützt und etwas tut, was allen nützt.

Aus einem Interview mit dem VW-Betriebsrat Lars Hirsekorn, auf: National Geographic am 12.12.2022
Es kommt ja manchmal vor, das es Klimaaktivisten egal ist, was mit den Arbeiterinnen und Arbeitern in der Automobilbranche passiert. Aber in diesem Fall hat die Initiative klare Vorstellungen, die eine Zusammenarbeit zwischen Beschäftigten und Klimabewegung ermöglicht. Sie sagen, dass Wolfsburg nicht eine Stadt der Antriebswende werden muss, also vom Verbrenner- zum Elektroantrieb, sondern eine Stadt der Verkehrswende. Ich schließe mich dem inhaltlich an: Wir brauchen andere Konzepte für einen großen, flächendeckenden, guten öffentlichen Verkehr. Der privatisierter Individualverkehr muss einfach weniger werden.
Bei Volkswagen könnten auch Busse und Straßenbahnen gefertigt werden. Wir müssen den öffentlichen Verkehr so ausbauen, dass er für die Mehrheit der Bevölkerung attraktiv ist. Nur ein Beispiel: Es gibt heute heute zwischen Braunschweig und Celle keinen öffentlichen Nahverkehr. Das sind zwei Städte, die 50 Kilometer auseinander liegen. An der Bundesstraße liegt unter anderem das Logistikzentrum von Volkswagen Braunschweig. Tausende Menschen pendeln jeden Tag mit dem Auto über diese Straße, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Ebenso wären zusätzliche Nahverkehrszüge zwischen Wolfsburg und Hannover oder Braunschweig momentan gar nicht möglich. Die Kapazitäten dafür müssen erst ausgebaut werden. Es fehlen Gleise, Züge und Personal. Deshalb wäre es natürlich überaus sinnvoll, wenn wir uns bei Volkswagen in Zukunft daran beteiligen würden, anstatt weiter Autos zu bauen.


7. März 2023: Aus Autos werden Straßenbahnen: Spektakuläre Aktion am VW-Werk!
@aktion_autofrei ++ telepolis am 10.3.2023 ++ Pressespiegel

Baut mehr Straßenbahnen! Spektakuläre Aktion in der LKW-Zufahrt des VW-Werks in Wolfsburg, 14.6.2023



VW als rücksichtsloser Global Player

Transformation nötig - Forderungen und Aktionen

Der Bau von Bussen und Straßenbahnen muss in den nächsten Jahrzehnten ein erhebliches Volumen haben. Derzeit gibt es extreme Lieferengpässe - und das bereits bei einer Politik, die immer noch auf Autos (Antriebswende) und Straßenbau setzt. EIne echte Verkehrswende würde einen erheblichen Mehrbedarf schaffen, der mit den jetzigen Produktionskapazitäten nicht zu schaffen ist. Es braucht daher die Transformation von bisherigen Autofabriken für den Bau von Bussen und Bahnen. Da diese in Teamarbeit gebaut und ausgestattet würden, sorgt das auch für bessere Arbeitsolätze als die aktuelle Fließband-Langeweile.


Aktion mit Straßenbahn-Transpi der Tour de Verkehrswende am 26.8.2023

Und die Gewerkschaft?
Die IG Metall ist ein starker Machtfaktor im Volkswagen-Konzern. Entsprechend sind ihre Spitzenleute in die Seilschaften integriert und eher selbst Motor kapitalistischer Produktionsweise als deren Gegengewicht. Damit verstoßen sie fortlaufend gegen die Interessen der Beschäftigten nach sicheren und guten Arbeitsplätzen, zudem gegen jede Vernunft in Sachen Klimaschutz, umweltgerechter Mobilität usw. - und gegen die eigene Satzung.
Auf Vorschläge zur Transformation reagierten sie zunächst mit Schweigen, worauf eine Aktionsserie im August 2023 hinwies, um die IG Metall zu drängen, die Diskussion offensiver zu führen - und dann gab es sogar heftige Abwehrreaktionen der Gewerkschaft, die sich klar hinter den Konzern stellte und jegliche Transformation bekämpfte.

Abb. links aus dem Post der Gewerkschaft (ganzer Post durch Anklicken), rechts die Parodie - näher an der Wirklichkeit?

Der Gewerkschaft Ver.di zufolge ist die Klimakrise im Mainstream der Gewerkschaftsbewegung angekommen, doch jenseits von Absichts erklärungen ist wenig Einsatz für einen ökologischen Umbau der Autoindustrie erkennbar (siehe Gespräch mit Stephan Krull in der Jungle World am 3.8.2023).

Leserbrief zu den Berichten über die Auseinandersetzungen im VW-Konzern
IG Metall bislang keine Hilfe
Die Probleme im Volkswagenkonzern sind eine Folge der ausschließlich auf kurzfristige Profite setzenden Konzernstrategie, die für die kapitalistische Ökonomie typisch ist, die Menschen in der Produktion, in der von den Produkten betroffenen Welt und die natürlichen Ressourcen und allgemein die Umwelt aber belastet. Von denen, die Konzerne führen, ist nichts anderes zu erwarten. Im Fall von VW darf aber nicht vergessen werden, dass auch Politik und Gewerkschaften jahrzehntelang einseitig der Profitmaximierung anhingen - und das weiter tun. Denn das für VW geltende Sondergesetz sichert der IG Metall (über die Betriebsräte) und der Niedersächsischen Landesregierung sehr starke Mitspracherechte. Diese haben sie bislang nicht genutzt, um eine Transformation des Konzerns weg von der Fixierung auf den Bau von Autos hin zur Produktion von gesellschaftlich nützlicheren Straßenbahnen, Bussen und Lastenrädern einzuleiten. Im Gegenteil haben sie die in den letzten zwei Jahren von Klimaaktivist*innen und VW-Arbeiter*innen eingebrachten Vorschläge zu einem Wechsel in der Produktion und zu einer dafür förderlichen Vergesellschaftung des Konzerns massiv bekämpft. Die IG Metall trat dabei denen, die den Wandel einforderten, feindseliger gegenüber als der Konzern selbst – obwohl zum Beispiel die Forderung für eine Vergesellschaftung sogar in ihrer Satzung steht. Solange aber eine Gewerkschaft freiwillig nur ein paar mehr Krümel vom Kuchen will, aber die angreift, die um die Bäckerei kämpfen, sind sie Teil des Problems, nicht der Lösung.


Aus der IG-Metall-Schrift "Speed Matters – Weichen für die Mobilitätswende stellen (Debattenpapier zur Mobilitätswende)"
Die Mobilitätsdebatte krankt an Wunschdenken und Großentwürfen, die seit Jahrzehnten die gleichen sind [...] Wir wollen mitentscheiden, was wie und wo produziert wird.

Bericht in Neues Deutschland am 10.8.2023 mit bemerkenswertem Kommentar "Zum Jagen tragen"
Ein wichtiger Akteur, um auf solche Entwicklungen aufmerksam zu machen, könnten die Gewerkschaften sein. Sie bleiben bislang aber eher blass. In einem aktuellen Debattenbeitrag der IG-Metall-Spitze ist nur von einem »Antriebswechsel« die Rede. Gefordert werden eine Kauf- und perspektivisch eine Abwrackprämie.
In dieser Gemengelage kann man nur froh sein über eine kleine Schar von Klimaaktivist*innen, die seit einem Jahr in Wolfsburg aktiv ist. In der Autostadt fordern sie eine radikale Verkehrswende ein. Sie fordern den Umbau von Teilen der Stadt und die Vergesellschaftung des VW-Konzerns. Dort sollen dann Bahnen und Räder gebaut werden. Mit mehreren Aktionen richteten sie sich an die Gewerkschaft.


Aus "Ein-Mann-Klima-Arbeitereinheitsfront", in: Freitag, 48/2020
Cedric Büchling ist Schichtarbeiter bei VW – und Aktivist bei Fridays for Future. Das ist kein Widerspruch, findet er ...
Fühlten sich die VW-KollegInnen nicht auch von den Fridays-for-Future-Aktionen provoziert? Büchling ist sofort hellwach: „Genau das müssen wir unbedingt verhindern: dass Kollegen eine Aktion als Angriff auf sich verstehen. Die Ausgangssituation ist aber auch anders. Bei der Kohle ist klar, dass die Interessen richtig in Widerspruch zueinander stehen. Bei der Automobilindustrie muss das nicht so sein. Die Klimabewegung will ja nicht, dass es gar keine Mobilität mehr gibt, sondern dass sich das Modell verändert. Und dafür brauchen wir einen Umbau der Industrie. ... Ich glaube nicht, dass meine Kollegen scharf darauf sind, im Schichtbetrieb Autos zu bauen. Die würden auch Busse fahren oder Straßenbahnen produzieren. Das Problem ist, dass in der Automobilindustrie durch die Macht der Gewerkschaften gute Löhne und soziale Rechte erkämpft wurden. Und das wollen die Leute verständlicherweise nicht verlieren.“ ... Ob man schon einmal davon gehört habe, dass es bei VW früher konkrete Konversionspläne gab? „Im Kalten Krieg. Es ging darum, die Montagebänder innerhalb von vier Wochen auf die Rüstungsproduktion umzustellen. Wenn man Panzer bauen kann, dann sind auch Straßenbahnen und Lastenräder möglich. Und für so ein Verkehrsmodell braucht man auch neue Jobs.“

VW ist nicht nur ein Konzern, es ist ein Geflecht. Die ganze Region Wolfsburg-Braunschweig und zu guten Teilen das selbst so genannte "Autoland" Niedersachsen agiert als peinliche Erfüllungsgehilfen von VW. Ob Stadtverwaltungen, Polizei, viele Teile der Justiz - VW ist das Machtzentrum. Dass sich fast alle Player in der Region als willige Vollstrecker von VW-Interessen verstehen, ist dabei nicht nur erfahrbar, sondern wird sogar offen formuliert.

Wolfsburgs Oberbürgermeister Dennis Weilmann laut WAZ am 17.11.2022
Wolfsburg ist und bleibt Hauptsitz des Volkswagen-Konzerns und die Stadt Wolfsburg für Volkswagen dabei ein verlässlicher Partner. ... Wir sind überzeugt und haben vollstes Vertrauen in die Führung von Volkswagen, dass bei allen und immer möglichen Planungen zusammen mit dem Betriebsrat die bestmöglichen Entscheidungen für den Standort Wolfsburg getroffen werden. Es gibt ein gemeinsames Interesse aller Beteiligten, diesen zukunftsfähig aufzustellen und zu gestalten. Als Stadt werden wir stets unseren Beitrag leisten und hierbei nach Kräften zu unterstützen.

Ein Zeitungsredakteur (B.Z. am 29.11.2022) findet es nicht peinlich, wenn Konzerne Uni-Hörsäle "kaufen" - aber peinlich, wenn dagegen protestiert wird.


Ziel 2: Verkehrswende in und um Wolfsburg
Nicht nur soll VW zum Verkehrswende-Konzern werden, sondern auch Wolfsburg soll zur Verkehrswendestadt werden. Dafür sammeln wir Ideen, Unterstützer*innen und wollen komplette Verkehrswendepläne erarbeiten.

Für einen besseren ÖPNV soll Wolfsburg eine Straßenbahn erhalten, die auch auf bestehenden und zu reaktivierenden Schienenstrecken in die Umgebung fahren kann (sogenannte Regiotram = Zwei-System-Bahn = Tramtrain).

Ziel 3: Kein weiterer Straßenbau - Stopp für A39, B190n und B188-Ausbau!
In der Region sollen Autobahnen und Bundesstraßen neu oder ausgebaut werden - auch zur Unterstützung von VW, die gerne eine direkte Autobahn Richtung Hamburg und Hamburger Hafen hätten. Doch jede neue Straße versiegelt Flächen, zerschneidet Landschaften und zieht mehr Verkehr an. Deshalb sollen ja mit dem geplanten Bau der A39 zwischen Wolfsburg und Lüneburg auch von dort abgehende Bundesstraßen ebenfalls erweitert werden. Denn: Wer Straßen sät, wird Verkehr ernten. Das wissen die Betonköpfe selbst!

Ziel 4: Stop Trinity! Keine neue Autofabrik ... es sind jetzt schon zuviele!
Es sollen weniger Autos werden - das sagen eigentlich alle. Tatsächlich aber sollten zwei neue, riesige Autofabriken entstehen in Deutschland: Die Gigafactory in Grünheide bei Berlin ist sogar schon fertig und schleudert neue, leistungsstarke Fahrzeuge (Tesla) auf den Markt. Eine ähnliche, fast genauso große Fabrik von VW sollte zudem nördlich von Wolfsburg entstehen - direkt an der Allerniederung und an mehreren kleinen Ortschaften, die dann zwischen Industriehallen quasi versinken. Landwirtschaftliche Flächen bzw. Wald gehen verloren. Diese Fabriken zeigen nicht nur den Willen zum Weiter-so im Verkehrsbereich, also dem Vorzug des motorisierten Indivudualverkehrs, sondern sogar ein Noch-mehr. Denn die Fertigungskapazitäten in Deutschland werden damit erhöht. Das ist auch das Ziel und bereits jetzt schon der Effekt des Übergangs von Verbrennern zu E-Autos: Es sollen noch mehr Autos werden. Damit bringt die Elektromotorisierung der PKWs noch mehr Flächenverbrauch, noch mehr Unfallgefahren, noch mehr Rohstoffverbrauch bei der Herstellung, noch mehr Lärm, Feinstaub durch Reifen- und Bremsenabrieb usw.
Daher machten Aktivistis die Auseinandersetzung um die neue Fabrik zu einem wichtigen Schwerpunkt. Ende September 2022 entstand auf der Baustelle eine Mahnwache, begleitet von weiteren Aktionen, vielen Veranstaltungen und Kontaktaufnahme mit Menschen aus den Orten drumherum, mit VW-Mitarbeiter*innen usw. Es begann mit einem juristischen Streit - die Stadt Wolfsburg und das regionale Verwaltungsgericht erwiesen sich einmal mehr als peinliche Bettvorleger des VW-Konzerns, allerdings am Ende ohne Erfolg (Mahnwache darf auf Baugelände ++ OVG-Beschluss). Mit November dann kam, etwas plötzlich, das Aus der Fabrik - das erste Ziel der Kampagne war erreicht.


Lokaler Protest gegen die neue Autofabrik für den VW-Trinity
Aus "VW: Anwohner gehen wegen Trinity-Werk auf die Barrikaden", auf: news38.de am 1.6.2022
Die Planungen laufen auf Hochtouren. Doch es gibt auch Menschen, die nicht damit einverstanden sind. Sie wollen VW und Stadt nun gemeinsam überzeugen. Doch schon der erste Versuch zeigt: So leicht lassen sich die Anwohner in Warmenau nicht beschwichtigen.

Aus den Wolfsburger Nachrichten am 16.6.2022
Der Fabrikneubau ist ein gigantisches Vorhaben. Aber neue Jobs werden in Warmenau nicht entstehen.

Und die nahe Bundesstraße 188, ohnehin schon ein Neubau, soll ebenfalls gleich mit fett ausgebaut werden ...

Die Berichte aus dem Herbst 2022 (Mahnwache auf der Trinity-Baustelle):

Kommentar in der Zeitung
Der Protest mag sich derzeit bescheiden ausnehmen. Er ist aber potenziell nicht ungefährlich für Volkswagen. Denn symbolträchtigen Aktionen im Umfeld von Volkswagen ist Aufmerksamkeit gewiss. Beispiele wie der Widerstand gegen die Erweiterung des Braunkohlereviers im Hambacher Forst oder die Friday-for-Future-Bewegung zeigen, dass aus einer kleinen Zelle beachtliche Bewegungen entstehen können.

Dann war's zu Ende:


Rückblicke: Aktionen zu VW und A39 von 2019 bis 2021

13. August 2019: Ein Zug voller neuer Autos verlässt das Werksgelände des Autokonzerns VW in Wolfsburg. Auf der Brücke über den Mittellandkanals muss er bremsen, weil Personen auf dem Gleis auftauchen. Dann geht alles sehr schnell: Vor und hinter dem Zug ketten sich Aktivist*innen mit Rohren an den Schienen fest. Vier seilen sich Richtung Mittellandkanal ab. Ihre Seile sind durch den Zug gespannt. Die Weiterfahrt wird so für fast 12 Stunden blockiert. Gleichzeitig erklettern weitere Aktivist*innen den großen Globus in der Eingangshalle zur Autostadt, während andere Infostände in der Innenstadt errichten. Eine perfekt durchgeplante Aktion nimmt seinen Lauf ...

Aus einer Erklärung einer Aktionsgruppe am 13.8.2019 auf dem VW-Gelände
Heute besetzt eine Gruppe von Klimaschutzaktivistis die Eingangshalle des Autoparks des weltweit größten Automobilkonzerns Volkswagen – des Disney Worlds für Autofreaks sozusagen. Dazu bekletterten Menschen eine Stahlkonstruktion in Form eines Globus, der dort von der Decke hängt.
Aktivist*innen klettern zum Globus hoch, Demonstrant*innen schirmen sie ab.
Diese Aktion läuft parallel zu einer ein paar hundert Meter entfernten, Blockade des werkseigenen Zuges voller nagelneuer Autos, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden.
So wollen Aktivistis die dringend notwendige Debatte um den immens hohen Anteil der Autoindustrie an der Zerstörung der Umwelt anstoßen.
Denn die inzwischen immerhin in den Kinderschuhen steckende Diskussion um den nötigen Kohleausstieg reicht nicht aus, um der Klimakrise effektiv entgegen zu wirken.
„Straßenbahn, Nulltarif, Fahrradstraßen statt Autos – Kohleausstieg ist nicht genug“ steht auf dem Banner der Aktivist*innen.
Natürlich ist klar, dass nicht allein Volkswagen für den alarmierenden Zustand unseres Ökosystems verwantwortlich zu machen ist. Es handelt sich um eine globale Problematik.
Dennoch: Der Standort für die heutige Aktion wurde bewusst gewählt, um ein Zeichen zu setzen, da gerade auch die massiven Einflüsse der Autoindustrie aus Deutschland den Zustand unserer Umwelt weiter bedrohen.
Ein VW-Sicherheitsangestellter telefoniert panisch herum.
Daher fordern die Aktivistis kompromisslos und sofort: Verkehrswende jetzt!
  • Die Produktion eines Autos verursacht Schäden in der Umwelt durch den hohen Verbrauch an Rohstoffen und Energie.
  • Autos brauchen Fahrbahnen und Stehplätze, die in den Innenstädten ein Drittel der Fläche beanspruchen – mehr als alle Spiel- und Grünanlagen und mehr als Wohnraum.
  • Der motorisierte Verkehr verdirbt die Lebensqualität in Dörfern und Städten. Durch Lärm, Luftschadstoffe und die ständige Unfallgefahr werden die Straßen zu No-Go-Areas gemacht.
  • Von Parkhäusern bis zur Ampelanlage: Autoverkehr braucht riesige Ressourcen und führt zu massiven Einschränkungen und Kosten.
  • Elektroautos sind hier keine Lösung. Auch wenn diese im Betrieb weniger Luftschadstoffe ausstoßen, kommen andere Nachteile hinzu. E-Autos sind schwerer und in der Produktion rohstoffintensiver. Umrüstung oder Umstieg auf Elektromobilität würde riesige Mengen Rohstoffe, Arbeitskraft und Geld verschlingen, welche dringend für den Ausbau des ÖPNV gebraucht werden.
  • Lithium als heute dominanter Akku-Rohstoff ist selten. Es drohen Kriege um das Metall – und das wieder auf dem Rücken derer, die in den Gruben arbeiten. Außerdem steht E-Mobilität für den weiteren Raubbau an der Natur.

Forderungen und dringende Notwendigkeiten:
  • Autoverkehr vermeiden!
  • Autofreie Ortskerne und Zonen um sensible Bereiche!
  • Motorisierter Individualverkehr muss zurückgedrängt werden!
  • Schienenverkehr stärken, Busse als Zubringer – und das alles zum NULLTARIF!
  • Ein Netz von echten Fahrradstraßen in allen Orten. 50% und mehr Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs ist möglich. Die Förderung des Radfahrens ist daher eine der wichtigsten Maßnahmen einer Verkehrswende.
  • Mobilität muss für alle gleichermaßen möglich sein. Damit alle gleichberechtigt fahren können, müssen Fahrkarten abgeschafft werden!
Mehr Lebensraum für Mensch und Tier, daher Autos raus aus den Städten und weg vom motorisierten Individualverkehr!

Das war die Aktion: 13.8.2019 #blockVW in Wolfsburg
13.8.2019: #blockVW - Aktion gegen VW und das Auto ++ Blog ++ Presseberichte ++ Flyer zur Aktion

Es war ein beeindruckendes Beispiel, wie verschiedene Aktionsgruppen miteinander kooperieren und dann was Größeres auf die Beine stellen können - ohne Label, ohne prall gefüllte Konten, Hauptamtliche und Hierarchien. Am 13.8.2019 wurde, genau wie geplant, ein voller Autozug aus dem VW-Werk so gestoppt, dass er über dem Mittellandkanal sichtbar war. Mehrere Aktionsgruppen ketteten sich an Schienen und Zug an oder seilten sich durch den Zug durch über dem Kanal ab. Parallel liefen eine spektakuläre Aktion im Eingangsbereich zur Werbeschau "Autostadt", wo Aktivistis einen großen Globus, der von der Decke hing, enterten und von dort mit einem Lautsprecher die Ziele der Aktionen vermittelten. Gleiches taten weitere Aktionsgruppen in der Wolfsburger Innenstadt.


Blog zur Blockade eines Zugs mit neuen Autos am VW-Werk Wolfsburg (13.8.2019, siehe auch #blockVW auf Twitter) ++ Interview mit zwei Aktivistis der #blockVW-Aktion, in: Gießener Anzeiger, 30.8.2019 ++ Filme auf Sat1: 13.8.2019 und 14.8.2019

Nach der Aktion ist vor der Aktion ... Nachwirkungen und neue Aktionen
2. Juni 2020: Um 11 Uhr soll der erste Strafprozess um die Aktion eröffnet werden, über die im Internet unter den Begriffen „autofrei“ und „#blockVW“ viele Berichte existieren. Der Angeklagte und die Unterstützer*innen werden auch diesmal wieder gut vorbereitet sein. Zum einen gäbe die Akte gar keine Anhaltspunkte darüber, wann und wie der Angeklagte eigentlich an der Aktion beteiligt war. Zum anderen sehen sich die Aktivist*innen von einem besonderen Paragraphen im Strafgesetzbuch gedeckt. Laut § 34 „handelt nicht rechtswidrig“, wer eine „gegenwärtige Gefahr“ abwenden will und dabei erstens passende Mittel anwendet sowie zweitens überprüft hat, ob keine milderen Mittel zur Verfügung gestanden hätten. „Es ist keine Frage: Der rechtfertigende Notstand ist gegeben. Autos bedrohen das Klima, rauben Flächen und Lebensqualität, verpesten die Luft durch Abgase und Reifenabrieb, verbrauchen in Herstellung und Betrieb riesige Rohstoffmengen und stehen einer Verkehrswende in Richtung Fuß, Fahrrad und ÖPNV im Weg!“ Mildere Mittel hätten nicht zur Verfügung gestanden, da der Staat sich seit Jahrzehnten einer umwelt- und menschenfreundlichen Verkehrspolitik verweigere und außerdem als Vetomacht bei VW selbst Täter der Klima-, Umwelt- und Lebensqualitätzerstörung ist. „Wir werden nachweisen, dass das Land Niedersachsen, die Bundesregierung und die Autokonzerne jahrelang rücksichtlos auf Gewinn gewirtschaftet haben. Dazu werden wir auch die zuständigen Politiker*innen und Konzernchefs vorladen“, heißt es in Stellungnahmen zum Prozessauftakt. „Unser Ziel ist ein Freispruch, weil auf andere Art der Klimakollaps und der weitere Tod der Innenstädte nicht verhindert werden kann.“ Direkte Aktion sei ein wirksames Mittel: „Die Agrogentechnik hat sich vom Acker gemacht – wegen Feldbefreiungen und Feldbesetzungen. Kohle- und Atomausstieg kommen, wenn auch zu langsam, aber wegen der Proteste auf Gleisen, an Werkstoren und Bäumen. Die Verkehrsdebatte gewinnt an Fahrt – auch hier vor allem wegen spektakulärer Aktionen mit hoher Symbolik. „Direkte Aktion ist nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts – die Aktion bei VW war nötig!“
Offenbar hat VW Angst vor dem Prozess, muss der Konzern doch fürchten, dass aktuelle und ehemalige Vorstandsvorsitzende geladen werden, um die Konzernpolitik der letzten Jahre zu erläutern. Knifflig könnte dabei vor allem eine Pressemitteilung des Konzerns von 25.10.2018 sein, in dem er ankündigte, vor allem auf die Ausweitung des SUV-Segments zu setzen und einen Anteil von 50 Prozent an den Neuwagen anzustreben. Das hatte die Aktion mit motiviert. „Mit gutem Zureden können solche Umweltverbrechen nicht gestoppt werden“, sagen die Aktivist*innen. Sie erwarten, dass dem Prozess am 2. Juni weitere folgen werden. Der VW-Konzern hat davor offenbar eher Angst. Laut Gerichtsakte hätten Konzernvertreter der Polizei und Staatsanwaltschaft mehrfach mitgeteilt, keine Strafverfolgung zu wünschen. Es liegt auch kein Strafantrag vor. Polizei und Staatsanwaltschaft handelten auch eigene Faust.
Wolfsburger Nachrichten (Scan) und auf news38 am 12.5.2020

Der 2. Juni 2020: Wolfsburg zeigt, was "Autostadt" heißt
Eigentlich ging es ganz gut los. Es waren Menschen aus Wolfsburg, aus Braunschweig und aus dem Kreis der bei der damaligen Aktion beteiligten vor Ort. Vom Bahnhof zog eine bunte Demonstration durch die Innenstadt zum Amtsgericht. Merkwürdig war aber auch hier schon die Auflage, die Straße nicht zu benutzen. Bei 30 Personen waren Fuß- und Radwege ziemlich eng - corona-taugliche Abstände zur Demo waren für sonstige Passant*innen praktisch unmöglich. Aber so wurde es halt von der Staatsmacht befohlen. Auf den Zwischenkundgebungen gab es spannende Redebeiträge - ganz besonders den einer Mitarbeiterin von VW.

Das Auto ist des Menschen Wolf(sburg)
Stadt Wolfsburg schreibt: "Der Verkehr in der Stadt Wolfsburg hat in den letzten Jahren wesentlich stärker zugenommen als dies in Anlehnung an den bundesweiten Trend zu erwarten war."
Wolfsburger Allgemeine am 30.2.2020: "Deutlich mehr tödliche Unfälle auf Wolfsburgs Straßen im Jahr 2019"

Am Amtsgericht folgte eine Ernüchterung. Nur vier Personen (einschließlich Presse) durften ins Gericht wegen Corona-Abständen. Der Antrag, einen größeren Raum zu wählen, scheiterte. So blieben 30 Menschen, die ins Gericht wollten, draußen, einschließlich der meisten Presseleute. So ging die Versammlung auf der Grünfläche vor dem Amtsgericht zunächst weiter, wurde dann aber offiziell beendet. Das rief die Polizei auf den Plan. Mit der Behauptung, es würden die Corona-Abstände nicht eingehalten, aber ohne Überprüfung, ob die, die das nicht taten, vielleicht zusammen wohnten, wurden die Anwesenden aufgefordert, die Grünfläche zu verlassen (obwohl die ganz normal betretbar war - einfach ein kleiner Park). Daraufhin meldete ein Mensch aus Braunschweig eine neue Demo an - gegen die Dominanz des Autos und gegen das Verbot, sich vor einem Gericht aufzuhalten. Die Polizei griff in die Trickkiste und erteilte der Demo die Auflage, auf der anderen Seite der vierspurigen Straße auf dem Fuß- und Radweg zu demonstrieren. Die waren also wieder blockiert - aber Fußgänger*innen und Radfahrer*innen zählen in Wolfsburg offenbar nicht (im Park hätte die Demo niemensch gestört). Die meisten Menschen folgten der Demo aber nicht, so dass die größere Zahl auf der Grünfläche zurück blieb und von dort nun eine spontane Versammlung zur Polizeiwache durchführen wollte. Denn inzwischen war bekannt geworden, dass vier Menschen sogar eingesperrt wurden - dort in der Polizeistation. Die Demo zog los, wurde aber schon beim Erreichen der vierspurigen Straße am Rande der Grünfläche von der Polizei attackiert, schließlich unsanft von der Straße geschubst und - mal wieder auf dem Geh- und Radweg - eingekesselt. Als Grund nannte ein Beamter: "In Wolfsburg sind die Straßen den Autos gewidmet". Versammlungen auf der Straße sind dort als offenbar nicht erlaubt, die Auflage für die erste Demo also keine Besonderheit, sondern in Wolfsburg die Regel. Autofreiheit steht über Grundrechten!
Am 8.2.2021 endlich erschienen: Dokufilm "Wolfsburger Seilschaften" über den 2.6.2020 und danach
Unten: Weiterer Filmbericht der Demo am 2.6.2020 ++ Bericht auf der Seite des VVN

Die Kesselung einer Versammlung ist ebenso rechtswidrig wie deren Vertreibung von einer Straße. Doch der Kessel war nur der Anfang. Nun führte die Polizei, mitunter auch unter Anwendung unmittelbaren Zwangs (Polizeisprech für Gewalt), eine Person nach der anderen aus dem Kessel, filmte alles (auf Versammlungen auch verboten) und nahm die Personalien auf (ebenfalls nicht erlaubt). 5-10min dauerte das pro Person, dann kam die nächste dran. Neben der örtlichen Presse und einigen Fernsehteams waren mit Cecile Lecomte (obige Filme stammen von ihr) und Jörg Bergstedt nun zwei Journalist*innen vor Ort, die alles dokumentierten. Beide besitzen gültige und belastbare Presseausweise. Diese wurden von der Polizei geprüft und nicht beanstandet. Dennoch erhielt Cecile nach einiger Zeit einen Platzverweis. Jörg konnte noch etwas länger alles dokumentieren, wurde dann aber auch abgeführt, überprüft und sollte einen Platzverweis erhalten. Vor seinen Augen und Ohren, auch bereits mit (auf Drängen der Polizei) abgeschalteter Kamera beriet die Polizeiführung nun, dass es nützlich sein könnte, alle Beweismittel verschwinden zu lassen. Gesagt, getan: Jörg Bergstedt wurde festgenommen, um all sein journalistisches Material zu finden - Kamera, Datenträger und Zubehör. Das wurde alles beschlagnahmt (siehe Beschlagnahmeprotokoll) und trotzdem auch noch ein Platzverweis (siehe schriftliches Formular - das Feld mit der Begründung ist leer) erteilt. Tatsächlich gelang es der Polizei, mit diesen rabiaten Methoden die Stadt von Autogegner*innen weitgehend zu säubern. Offenbar fühlen sich die Ordnungshüter*innen hier als bewaffneter Arm des VW-Konzerns.

Das Auto ist des Menschen Wolf(sburg)
Meldungen aus Wolfsburg
Stadt Wolfsburg: "Der Verkehr in der Stadt Wolfsburg hat in den letzten Jahren wesentlich stärker zugenommen als dies in Anlehnung an den bundesweiten Trend zu erwarten war."
Wolfsburger Allgemeine am 30.2.2020: "Deutlich mehr tödliche Unfälle auf Wolfsburgs Straßen im Jahr 2019"

Nachbeben des 2.6.2020: Stadt, Polizei und Justiz mauern
Nun gibt es für solche Fälle die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung. Geht es um Polizeirecht (Platzverweise) oder Versammlungsrecht, sind die Verwaltungsgerichte zuständig. Etliche der Betroffenen wollen dort Klage erheben. Bereits eingereicht:

Geht es um Strafrecht, sind die Amtsgerichte zuständig. Da die Polizei sich für die ersichtlich anders motivierte Beschlagnahme eine Straftat ausdachte (Mitschnitt nicht öffentlicher gesprochener Worte - aber wie geht Nichtöffentlichkeit bei einer öffentlichen Versammlung???), ging der Widerspruch an das Amtsgericht. Das allerdings (seltsamerweise das in Braunschweig statt in Wolfsburg) erwies sich auch als verlängerter Arm von VW und bestätigte die Beschlagnahme - ebenfalls ohne jegliche Begründung. Kamera und Datenträger blieben also bei der Polizei - ein heftiger Angriff auf die Pressefreiheit. Mehrere Beiträge, die mit dem Material auf den Datenträgern geplant waren, fielen durch die rechtswidrige Polizeiaktion aus - und seitdem sind mehrere journalistische Projekte mangels Kamera auch in Zwangspause, z.B. der Hirnstupser und die Dokumentation von Verkehrswendeaktionen.
Selbstverständlich gaben der Betroffene und sein unterstützender Anwalt nicht auf und reichten Beschwerde ein. Das Amtsgericht verfasste daraufhin einen absurden Nichtabhilfebeschluss, den der Betroffene und sein Anwalt für das Beschwerdeverfahren nochmals argumentativ zerlegten.
Doch das half nichts. Das Landgericht ging sogar einen Schritt weiter. Kamera und Zubehör sind nicht mehr Beweismittel, sondern die Waffe, mit der die Straftat begangen wurde. Die müsste natürlich einbehalten werden. Mit den Grundrechtsfragen setzte sich das Gericht gar nicht auseinander außer dem Hinweis, dass die Pressefreiheit nicht die Begehung von Straftaten deckt. Dieser Allgemeinplatz ist zwar richtig, aber neben der Sache, denn niemensch hatte auf Strafbefreiung geklagt. So blieb mal wieder nur der Gang vors Verfassungsgericht. Der aber gestaltete sich holprig. Das Verfassungsgericht reagierte mit zwei Nachforderungen von Unterlagen aus den Verfahrensakten, sonst würde die Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen. Nur: Die Verfahrensakten rückte das Landgericht Braunschweig bewusst nicht raus - weder an den Betroffenen und Kläger noch an seinen Anwalt. Mit einem üblen Rechtsbruch sicherte sich das Gericht also selbst vor der Rechtsfehlerüberprüfung ab - auch ein interessanter Trick. Der Betroffene telefonierte mit dem Verfassungsgericht und reichte dann einen erklärenden Text ein, dass er schuldlos daran sei, die Unterlagen nicht beifügen zu könne. Und, oh Wunder, das Verfassungsgericht befasste sich mit der Klage und schickte dem Niedersächsischen Justizministerium einen Brief, es möge sich zu dem Fall mal erklären. Aus der Nachricht an den Beschwerdeführer: "Ihre Verfassungsbeschwerde und Ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung habe ich dem Niedersächsischen Justizministerium zugeleitet und Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 9. Oktober 2020 gegeben. Eine hier eingehende Stellungnahme wird Ihnen zugeleitet werden." Am 9.10.2020 lief die Frist für dessen Stellungnahme ab und am 22.10.2020 fiel der Beschluss des Verfassungsgerichts (1 BvR 1949/20) - und zwar eindeutig: Das Grundrecht auf Pressefreiheit wurde missachtet, die Kamera und Daten müssen herausgegeben werden.

Aus dem Verfassungsgerichtsbeschluss ++ Bericht auf Braunschweig-Spiegel ++ Auf Eichhörnchens Blog
Weitere Berichte: epd ++ ver.di ++ Jura-Seite

Eigentlich hätten Polizei und Gerichte das auch ahnen können, lagen doch entsprechende Urteile schon vor oder deuteten wenigstens die Tendenz an.
Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24.7.2015 (Az. 1 BvR 2501/13)
Das Anfertigen von Lichtbildern oder Videoaufnahmen eines Polizeieinsatzes unter Verweis auf die bloße Möglichkeit einer nachfolgenden strafbaren Verletzung des Rechts am eigenen Bild (§ 22 S 1, § 33 Abs 1 KunstUrhG) genügt nicht, um polizeiliche Maßnahmen wie eine Identitätsfeststellung gem § 13 Abs 1 Nr 1 SOG ND zu rechtfertigen.
3b. Beabsichtigt die Polizei, wegen Lichtbildern und Videoaufnahmen präventivpolizeilich - wie hier durch eine Identitätsfeststellung - einzuschreiten, muss mit Rücksicht auf die jeweils betroffenen Grundrechte ein polizeiliches Schutzgut konkret gefährdet sein.
3c. Gehen die Sicherheitsbehörden davon aus, dass im Einzelfall die konkrete Gefahr besteht deswegen, weil eine unzulässige Verbreitung von Aufnahmen zu befürchten sei, so bedarf es hierfür hinreichend tragfähiger Anhaltspunkte.
4. Fertigen Versammlungsteilnehmer, die von der Polizei gefilmt oder videografiert werden, ihrerseits Ton- und Bildaufnahmen von den eingesetzten Beamten an, kann nicht ohne nähere Begründung von einem zu erwartenden Verstoß gegen § 33 Abs 1 KunstUrhG und damit von einer konkreten Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut ausgegangen werden.

Wer nun dachte, damit sei das Drama beendet, sah sich getäuscht. Der Anwalt übersandte Staatsanwaltschaft und auch (wegen dem parallel laufenden Verfahren) dem Verwaltungsgericht den Verfassungsgerichtsspruch und forderte von der Staatsanwaltschaft die Herausgabe von Kamera und Daten. Die taten aber - nichts. Sie antworteten nicht einmal. Einige Tage später berichtete regionalheute.de über den Fall und befragte die Staatsanwaltschaft. Die behauptete (erwiesenermaßen gelogen!), dass sie von dem Verfassungsgerichtsbeschluss nichts wisse und deshalb nichts rausrücken würde. So blieb es dann auch die nächsten Wochen.

Aus "Das hatten wir noch nie: Journalist erwirkt Verfügung gegen Staatsanwaltschaft", auf: regionalHeute.de am 5.11.2020
Darüber, das nun tatsächlich eine einstweilige Verfügung des Bundesverfassungsgerichtes vorliegt, zeigte sich Wolters erstaunt: "Das hatten wir noch nie. Seit ich hier bin kann ich mich nicht daran erinnern, dass sich jemand gegen eine Sicherstellung so vehement gewehrt hätte, dass das bis vors Bundesverfassungsgericht gegangen wäre." Selbstverständlich komme man der Verfügung nach, sobald diese die Staatsanwaltschaft aus Braunschweig erreicht.


Nachdem klar war, dass die Staatsanwaltschaft dem Verfassungsgerichtsbeschluss nicht Folge leisten, sondern sich weiter tot stellen würde, zeigte der Anwalt des betroffenen Journalisten, dem am 2.6.2020 in Wolfsburg Kamera, Zubehör und Datenträger beschlagnahmt wurden, die Staatsanwaltschaft Braunschweig am 17.12.2020 wegen Rechtsbeugung und anderer Delikte an. Hintergrund ist, dass die vom Bundesverfassungsgericht angeordnete Herausgabe der unter dem Schutz der Pressefreiheit stehenden Utensilien von der Staatsanwaltschaft eigenmächtig missachtet wurde. Zwei Tage nach der Strafanzeige bot die Staatsanwaltschaft an, einen Teil herauszurücken – aber weiterhin weniger als das Verfassungsgericht angeordnet hatte. Der Anwalt forderte die Braunschweiger Justiz auf, endlich den höchstrichterlichen Beschluss zu beachten und sofort alle Materialien herauszurücken. Das geschieht bislang weiterhin nicht. Die Staatsanwaltschaft steht damit weiterhin außerhalb der Rechtsstaatlichkeit.

Anfang Februar war es dann aber doch soweit: Ein Brief und zwei Tage später ein Schuhkarton als Paket gaben Datenträger, Kamera und Zubehör zurück. Der Karton war zwar seitlich aufgerissen, schien aber noch alles zu enthalten, was am 2.6.2020 beschlagnahmt wurde. Im begleitenden Brief wurde auch gleich verkündet, dass das Strafverfahren gegen den Journalisten nicht mehr weitergeführt würde. Der Grund dafür (fehlender Strafantrag) hatte von Anfang an bestanden!

Ach ja - auch die Verhaftungen, die Anlass für die Spontandemonstration waren, die dann gekesselt wurde, waren rechtswidrig. Das stellte das OLG Braunschweig in seinem Beschluss vom 05.03.2021 klar (Az. 3 W 104/20). Die Demo war also vielfach legitim und legal - die Polizei hingegen gar nicht! Der ganze 2.6.2020 war eine Aneinanderreihung von Rechtsverstößen - und alles blieb ohne Konsequenzen für die Einsatzkräfte.

Im Interview antwortete Wolfsburgs Polizeichefin Petra Krischker auf die Bemerkung der Zeitung "Dabei werfen die Aktivisten der Polizei und anderen Behörden wiederum vor, die wären Erfüllungsgehilfen des mächtigen Konzerns" am 27.12.2022, u.a. Wolfenbütteler Zeitung
Völliger Blödsinn! Auch hier gilt, dass für uns als Polizei Diskussionen um Inhalte keine Rolle spielen. Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass Volkswagen daran Interesse hat, berechtigte Proteste zu gesellschaftlich relevanten Themen im Keim zu ersticken.

Trotzdem: Die Wolfsburger Polizei blieb lernunfähig. Mit den Worten "Herr Bergstedt, die Maßnahmen werden Sie jetzt hier bitte nicht filmen" griff Einsatzleiter Blazy* am 10.5.2023 dem Angesprochen, der sich schon vorher mit einem Presseausweis ausgewiesen hatte, in den Arm und verhindert die weitere Aufnahme. Das erinnert an den "Wolfsburger Kessel", als die Polizei eine Demo mit der Begründung zerschlug, Straßen seien nur den Autos vorbehalten - und danach den gleichen Journalisten festnahm, um die Kamera und alle Datenträger zu beschlagnahmen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Aktion als Grundrechtsverstoß gegeißelt. Vorher hatten Amts- und Landgericht im VW-Ländle den Übergriff durchgewunken.
*Blazy ist auch auch er Gerichtssoap "Fahr weiter, Alter" als beleidigte Leberwurst bekannt.

Am 14.6.2023 mussten Polizei und Braunschweiger Verwaltungsgericht dann eine bittere Pille schlucken: Das Oberverwaltungsgericht ließ in seinem Beschluss zum "Wolfsburger Kessel" keinen Zweifel: Alles war rechtswidrig - und Polizei und Justiz reichlich versammlungsfeindlich.

Der nächste Aktionstag: 23.3.2021
Das Amtsgericht lud wieder ein - diesmal gegen zwei der Personen, die sich bei der blockVW-Aktion über dem Kanal abgeseilt haben sollten. Der Prozess wurde wieder zum Anlass von Protest gegen den Automobilismus - aber diesmal deutlich offensiver. Es sollte erneut eine Demo vom Bahnhof zum Gericht geben, diesmal aber auf der Straße. Stadtverwaltung und Polizei wollten das wieder nicht, gaben aber nach der deutlichen Drohung mit einer Verwaltungsklage klein bei. Die Zeitung berichtete über all das ziemlich umfangreich. Der Tag selbst bestand dann gleich aus mehreren Aktionen - und auch der Prozess verlief optimal: Einstellung ohne Auflagen!

Kurzberichte vom 23.3.
Eine schöne, vor allem laute Demo durch die Stadt mit einen Wahnsinns-Polizeiaufgebot, die aber offenbar die Anweisung hatte, die Versammlung auf keinen Fall anzurühren. So lief alles wie geplant mit schönen Redebeiträgen von einem Ex-VW-Betriebsrat, lokalen Akteur*innen und vor allem den Gruppen, die gegen den Weiterbau der A39 kämpfen. Auf dem Videokanal von MrMarxismo werden Stück für Stück kleine Doku-Filme zur Demo und den Demoreden hochgeladen.
Auf der Demo haben sich die verschiedenen beteiligten Gruppen ausgetauscht, vernetzt und weitere Aktivitäten verabredet. Das war ein ganz wichtiges Ziel des Tages. Die nächste größere Aktion wird vermutlich eine dreitägige Radtour mit vielen Aktionen von Braunschweig über Wolfsburg (da möglichst auf der A39) und dann entlang der geplanten Trassen bis Lüneburg sein. Das genaue Datum soll sich am geplanten bundesweiten Aktionstag für Verkehrswende orientierten - vermutlich ca. Anfang Juni.
Parallel zu der Demo enterten Aktivistis in klassischer Manier die A39 und machte mit einer Abseilaktion klar, was wir von solchen Autobahnen halten. Auch das klappte alles.
Um 11 Uhr folgte dann der Strafprozess gegen zwei Personen, die sich bei der blockVW-Aktion am 13.8.2019 durch einen gestoppten Autotransportzug über dem Mittellandkanal abgeseilt und damit die Auslieferung vieler Autos stundenlang mit behindert haben sollten. Der Prozess bestand eher aus politischen Reden von allen Seiten und endete spektakulär mit einer Einstellung ohne Auflagen!!! Neben den Angeklagten waren zwei Laienverteidigis dabei ... wir waren also auch gut präsent im Gerichtssaal.
Ein guter Ausdruck dieses Tages, an dem irgendwie alles klappte, ist eine umfangreiche und für die Autostadt Wolfsburg bemerkenswert wohlwollende Berichterstattung. Selbst die übliche Hetze über die Autobahnabseilaktion fehlte.

Filmdokus der Demonstration in der Stadt:

Noch mehr staatliches Generve
Neben Polizei und Amtsgericht zeigte auch die Wolfsburger Stadtverwaltung offensive Verteidigungsbereitschaft für VW-Konzerninteressen. Nicht nur während der Versammlungen schauten Ordnungsamtsmitarbeiter*innen tatenlos zu und ließ die Stadtverwaltung Anrufversuche in Endlosschleifen hängen, sondern sie verschickte pauschal an alle festgestellten Personen Anhörungsschreiben zum Bußgeldverfahren wegen Verstoß gegen die Corona-Auflagen. Vorwurf: Anwesenheit in Wolfsburg mit mehr als zwei Personen (ohne Vorwurf, die Abstände nicht aufgehalten zu haben). Inzwischen sind die Bußgeldbescheide fast allen Personen zugestellt worden. Daraus ist zu ersehen, dass als Zeitpunkt des angeblichen Verstoßes gegen die Corona-Auflage der Moment gewertet wird, in dem die Polizei den Kessel schloss. Hier wird also eine Freiheitsentziehung und Unterbringung in der Sammelzelle "Polizeikessel" als verbotene Ansammlung bewertet - schon ziemlich absurd.
Die Willkür aber wird noch deutlicher, dass selbst die beiden später mit Platzverweisen belegten Journalist*innen das Schreiben erhielten, obwohl beide gar nicht im Kessel waren, sondern stets durch die Polizeikette von diesen getrennt waren. Hier wird also offenbar die Pressetätigkeit als Ordnungswidrigkeit gewertet und der Angriff auf die Presse zum Selbstzweck. Nur die Journalist*innen der staats-zugewandten Medien wurden nicht kontrolliert.
Die Betroffenen legten Einspruch gegen ihren jeweiligen Bußgeldbescheid ein.

13. Juli 2020: Presseinformation zu den Klagen gegen die Polizeiübergriffe
Viele Klagen: Polizei und Ordnungsamt unterbinden Verkehrswende-Demos in Wolfsburg – Angriff auf Presse
Die Stadt wurde für die Autoproduktion gebaut, und zumindest ihre Institutionen scheinen diesem Ziel immer noch verpflichtet zu sein. Polizei und Stadtverwaltung in Wolfsburg verbannten Anfang Juni Demonstrationen auf Rad- und Fußwege. Als der Protestzug für eine Verkehrswende eine Straße betrat, griff die Polizei durch. Es folgten ein fast zweistündiger Kessel, Platzverweise gegen Demonstrant*innen und Angriffe auf Journalist*innen. Das hat jetzt ein Nachspiel: Betroffene reichen fast 20 Klagen gegen Wolfsburger Polizei ein.
Die gesamte Presseinfo ...


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