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FORMALE HERRSCHAFT: NORMIERUNG, KONTROLLE UND SANKTION IM WANDEL DER ZEIT

Erscheinungsformen institutionalisierter Macht


1. Einleitung
2. Was lange währt ...: Die klassischen Formen formaler Macht
3. Neue Weltordnung: Modernisierte, formale Herrschaft
4. Erscheinungsformen institutionalisierter Macht
5. Kein ruhiges Leben ohne Verdrängung
6. Links

In den bisherigen Beschreibungen sind zwar die bestehenden Erscheinungsformen formaler Macht schnell erkennbar, aber noch auf einem abstrakten Niveau. In Alltag und Gesellschaft werden sie aber sehr konkret und praktisch. Eine Aufzählung aller Formen würde allerdings ein eigenes, und zwar sehr dickes Buch erfordern. Einige Beispiele seien genannt.

Personale Herrschaft
Eltern haben ein sogenanntes Erziehungsrecht über ihre Kinder, übertragen wird dieses als Aufsichtspflicht bezeichnete Recht auf LeiterInnen in der Kinder- und Jugendarbeit. LehrerInnen haben Befehlsgewalt über SchülerInnen, Vorgesetzte über ArbeiterInnen und Angestellte, KommandeurInnen über SoldatInnen usw. Das sind einfache und sehr direkte Verhältnisse der Machtausübung durch und über Menschen. Sie basieren auf grundlegenen Privilegien, die durch Recht festgeschrieben sind und meist folgenlos überschritten werden können. Denn wer Privilegien hat, kann seine Macht regelmäßig über diese hinaus ausdehnen. Sollte es zu einer Überprüfung dieser - häufigen - Überschreitungen durch Dritte kommen, hat die ohnehin privilegierte Person die besseren Chancen, die eigene Sichtweise der Abläufe zur Grundlage der Prüfung zu machen. Zudem gibt es ähnliche Privilegien, die eher oder nur auf Traditionen und Wertvorstellungen beruhen, z.B. die Dominanzen zwischen Männern und Frauen, TitelträgerInnen und "NormalbürgerInnen" usw.

Herrschaft der Institutionen
Sehr ähnlich der personalen Herrschaft ist die der Apparate mit formaler Macht. Hier besteht keine grundsätzliche, sondern ein auf die jeweilige Aufgabe bezogenes Machtgefälle. Besonders auffällig besteht dieses zwischen den Ausführenden behördlicher Gewalt gegenüber den von ihnen beaufsichtigten, kontrollierten oder mit Sanktionen bedrohten Personen. Polizei und Justiz, Gesundheits- und Bauämter, AusländerInnenbehörden und Finanzämter, Sozial- und Arbeitsagenturen können diese Rolle spielen. Immer treten konkrete Personen auf, die aber im Auftrag ihrer Behörde agieren. Sie haben konkrete Aufträge, die sich aus den Aufgaben der entsendenden Ämter und Institutionen ergeben. In Einzelfällen wachsen sich diese konkreten Fälle aber zu grundlegenden Schikanierungen aus, z.B. um die Unterwerfung im Einzelfall auch durchsetzen zu können. Polizei und noch mehr die Justiz neigen sogar als Normalfall zu Akten grundlegender Beherrschung. Zwar wird in Strafverfahren nur das konkrete, vermeintlich unerlaubte Verhalten geahndet, doch zumindest bei Haftstrafen das gesamte Leben der bestraften Person versaut.
Dem Handeln der VollstreckerInnen aus Institutionen liegen in der Regel Normen und Gesetze zugrunde. Die Machtfülle, die sich aus diesen ergibt, vereinfacht aber auch die darüber hinausgehende, auch im rechtstaatlichen Verständnis dann willkürliche Machtausübung. Diese bleibt für die TäterInnen aus den Institutionen regelmäßig folgenlos, weil sie über mehr Definitionsmacht bezüglich der Geschehnisse verfügen als die Opfer behördlicher Gewalt. Steigerbar ist das dadurch, dass willkürlich Macht ausübende AmtsträgerInnen zum Eigenschutz und zur Verschleierung ihrer Handlungen erfundene Vorwürfe gegen ihre Opfer richten. So resultieren viele Strafen wegen angeblichen Widerstands gegen VollstreckungsbeamtInnen aus Gewalttaten durch die AmtsträgerInnen, die diese durch schikanierende Anzeigen gegen ihre Opfer zu vertuschen versuchen - mit Erfolg, denn vor Gericht ist die Aussage eines/r BeamtIn durch die Gegenaussage ihrer Opfer nicht widerlegbar.

Die Macht der Institutionen steigert sich durch deren gegenseitige Hilfe. Finanzämter oder Gerichte organisieren das Eintreiben von Geldern aus Anordnungen anderer Behörden, Polizei prügelt die Anweisungen von Behörden durch, RichterInnen verhängen Beugehaft usw.

Norm und Gesetz
Alle Länder der Welt sind heute als Rechtstaat verfasst, auch wenn sie nach dem Ernennungssystem der Exekutive in Diktatur, Monarchie, Präsidial- oder parlamentarische Demokratie - mit Übergangs- und Mischformen - unterschieden werden. Die tradierten Gepflogenheiten und von den Mächtigen gewünschten Verhaltensweisen, Verteilungen formaler Macht und Sicherungen ungleich verteilten Eigentums werden in Form gegossen als Normen und Gesetze. Zusammen bilden all diese das Recht. In ihnen drücken sich die Machtverhältnisse aus, denn Recht beinhaltet die Spielregeln gesellschaftlichen Lebens. Es stammt weder aus höheren, z.B. göttlichen Quellen, wie es manche Philosophen dachten, die damit (immerhin damals eine Modernisierung) den personalen Gott gedanklich abzulösen versuchten, noch sind es aus der Natur des Menschen stammende Setzungen. Sie sind auch nicht vom "Volk" gemacht - jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Bevölkerung das Recht setzt. Das steht zwar so in den Verfassungen, ist aber verblödender Unsinn. Die Rechtsphilosophie der Universitäten ist da ehrlicher als die diskursbildenden (andere sagen: verdummenden) Schulbücher: "Die Rechtsordnung gilt, die sich faktisch Wirksamkeit zu schaffen vermag", beschrieb das ganz trocken einer der beiden bedeutsamsten deutschen Rechtsphilosophen, Gustav Radbruch. Und fügte hinzu: "Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, dass er Recht zu setzen berufen ist." Mit dieser bemerkenswert eindeutigen Position steht Radbruch nicht allein: "Natürlich fällt das Recht nicht vom Himmel. Zuerst wird in Rechtssätze gegossen, was üblich ist. Und üblich ist, dass die Starken sich die Rechte nehmen, die sie brauchen", formulierte der SPD-Vordenker Erhard Eppler und der zeitlebends von der Justiz verfolgte Georg Büchner schrieb: "Das Gesetz ist das Eigentum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eigenes Machtwerk die Herrschaft zuspricht." Das sind klare Worte. Recht ist das Instrument der Herrschenden. Es spielt immer die Rolle der Legitimierung des ansonsten als willkürlich erkennbaren Verhaltens von Herrschaftsinstitutionen - ob in der Demokratie oder im Nationalsozialismus. Denn die bisherigen Zitate aus der Welt des demokratischen Rechtsstaates unterscheiden sich nicht von der Rechtsphilosophie im Dritten Reich: "Recht bekommt, wer sich im Daseinskampf durchzusetzen versteht."

Noch stärker als personale Herrschaft schafft Recht das strukturelle Problem, die Machtverhältnisse und Deutungen der Vergangenheit in die Zukunft zu exportieren. Personen und Institutionen tragen dazu bereits auch bei, wenn ihre Traditionen und Wertvorstellungen aus früheren Zeiten stammen. Eltern setzen gestrige Auffassungen z.B. familiärer Ordnung oder Ausbildungsvorlieben gegen ihre Kinder durch, Schulen die Traditionen und Lehrpläne der vergangenen Jahrzehnte (und das Wissen aus der Studienzeit der LehrerInnen), Ämter veraltete Auffassungen von Bauen, Zusammenleben oder sozialen Rollen. Dramatisch aber wird das bei Normen und Gesetzen. Ihr Werdegang ist schwerfällig. Sie sind in der Regel das Resultat langjähriger Verfahren, die zudem erst eingeleitet werden, wenn sehr deutlich wird, dass bisherige Regelungen nicht mehr zeitgemäß sind. Dramatische Beispiele sind die Straffreiheit der Vergewaltigung in der Ehe bis 1992 (bis 2004 auch nur auf Antrag) oder das Rechtsberatungsgesetz, dass nicht zugelassene juristische Tätigkeit unter Strafe stellte. Es war von den Nationalsozialisten erlassen worden, um jüdische AnwältInnen aus ihren Berufen zu eliminieren - und galt bis 2002. Recht ist prinzipiell strukturkonservativ. Da jedes Recht mit institutioneller Macht in Form durchsetzender VollstreckerInnen verbunden ist, wirkt sich dieses rückwärtsgewandte Korsett einer Gesellschaft als starke Bremse evolutionärer Weiterentwicklung aus. Der Menschheit hängen mit dem Recht, aber auch mit Traditionen und Reichtumsunterschiede festigenden Privilegien riesige Klötze am Bein, die absurderweise penetrant als Errungenschaften dargestellt werden.
Mit freien Vereinbarungen (freier Menschen) hat das Recht nichts zu tun. Recht spiegelt die Machtverhältnisse wider - und damit durchaus in einigen Fällen auch soziale Kämpfe und Einflüsse durch andere Bevölkerungsteile als nur den Eliten bzw. Privilegierten. Das ist aber kein bedeutender Anteil, meist dominieren die Konkurrenzen innerhalb der Eliten das Tauziehen um das Informgießen von Werten und Deutungen. Rechtsetzung ist Machtkampf, in dem die bestehenden Privilegien zur Form werden. Oder anders ausgedrückt: Recht ist immer das Recht des Stärkeren. Das gilt ebenso für Regeln, soweit in diesem Begriff eine Beständigkeit gemeint ist, die nicht einfach durch die Beteiligten in Frage gestellt und verändert werden können. Werden "Regeln" nur für den Augenblick und eine konkrete Situation von den daran Beteiligten vereinbart, sind es Vereinbarungen. Gelten sie darüber hinaus, werden es Regeln mit rechtsähnlichem Charakter.
  • Mehr zu Recht einschließlich der genauen Quellen und weitere Zitate

Verteilung von Reichtum und Produktionsmitteln
Formale Macht wirkt sich auf ökonomische Privilegien und Handlungsmöglichkeiten aus. So sind die Reichtümer der Welt sehr ungleich verteilt - abgesichert durch Rechte und institutionelle Durchsetzung. Von Ämtern bis bewaffneten OrdnungsdienerInnen wird nicht Gleichheit, sondern die Ungleichheit verteidigt. Wenn eine Person eine Millionen Euro besitzt und die andere zehn, die ärmere aber dem/r MillionärIn zwei Euro wegnimmt, so wird nicht die reichere dafür bestraft, dass sie immer noch 999.986 Euro mehr besitzt als die ärmere, sondern die BesitzerIn der 12 Euro wird von aufgeblähten Sicherungseinrichtungen der Reichtumsunterschiede angeklagt und vermutlich bestraft.
Strukturell wirkt die ebenso ungleiche Verteilung an Produktionsmitteln. Denn Boden, Rohstoffe, Gebäude, Maschinen oder der Besitz an Wissen (Patente u.ä.) sichern die privilegierte Möglichkeit, die Reichtumsunterschiede auch in Zukunft weiterhin herstellen und ausweiten zu können.

Aus einem Interview mit Ellen Maiksins Wood, ehemalige Herausgeber der maxistischen US-Zeitschrift "Monthly Review", in: Junge Welt, 29.1.2011 (Beilage S. 1)
"Ökonomischer" Zwang allein genügt beispielsweise, um eigentumslose Arbeiter zu zwingen, ihre Arbeitskraft im Austausch für Lohn dem Kapital zu verkaufen. Selbst wenn also alle Erwachsenen formal gleiche politische Rechte wie das Wahlrecht besitzen, bleibt die ausbeuterische Macht des Kapitals weitgehend unberührt. Die Ausbeutung liegt also, wie auch andere Aspekte des materiellen und sozialen Lebens im Kapitalismus, außerhalb der Reichweite demokratischer Macht und wird entweder direkt durch das Kapital - am Arbeitsplatz wie jenseits desselben - oder durch die Mechanismen des Marktes, die Zwänge des Wettbewerbs, der Akkumulation und Profitmaximierung kontrolliert, die die soziale Tätigkeit regulieren und Vorrang erlangen vor allen anderen menschlichen Zielen.

Nahegelegte Lebensweisen
Einen Übergang zwischen institutioneller und diskursiver Herrschaft bildet eine besonders wirksame Form der Beeinflussung. Bestimmte Lebensweisen wirken funktional, d.h. die Art und Weise, wie ich lebe und agiere, passen unterschiedlich gut zu eingetrichterten Erwartungen und führen zu Reaktionen im Umfeld, die mir nützen oder schaden. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie sie z.B. in Deutschland als Grundlage des staatlich geschaffenen und überwachten öffentlichen Raumes postuliert wird, suggeriert ja die Entscheidungsfreiheit, sich selbst für das eigene Lebensmodell entscheiden zu können. Zwar scheitert Vieles bei näherer Betrachtung bereits an Gesetzen, Normen und sonstigen administrativen Vorgaben, wirkungsvoller aber erscheint noch das System von Konditionierung und Belohnung. Wer Lebenswege einschlägt, die den vorgegebenen Standards entsprechen oder sich aus diesen zusammensetzen, vermeidet nicht nur repressiven Ärger, sondern kann an etlichen Belohnungssystemen partizipieren, die in dieser Welt für all die eingerichtet sind, die sich der großen Maschine von Arbeit, Verwertung, Unterordnung und gerichtetem Denken unterwerfen. Wer in Robe oder Uniform, auf ManagerInnensesseln oder Regierungsbänken Herrschaft ausübt, Privilegien sichert, ungleiche Verteilungen organisiert oder abweichendes Verhalten maßregelt, handelt daher selten aus eigener Überzeugung, sondern so, wie es funktional erscheint. Maßstab sind der zu erwartende Ärger oder Lohn, der entsteht je nachdem, wie mensch handelt. Dabei sind die Belohnungs- und Bestrafungssysteme weit entwickelt und beginnen nicht erst bei der Anklageerhebung vor Gericht, sondern bereits im Zugang zu Überlebensressourcen und bei Reaktionen im sozialen Umfeld.
Wer das gewünschte Wissen als Lernziel der Schule brav aufsagen kann, bekommt eine gute Note und genießt daher Vorteile. Wer Formblätter brav ausfüllt und sich auch ansonsten korrekt verhält, bekommt Hartz IV. Wer in Kleidung, Formulierung und Auftreten den Mainstream widerspiegelt, hat Aussicht auf einen Job und damit das universelle Überlebenshilfsmittel Geld. Wer als PolitikerIn die Etikette wahrt, lügt und sich im Wind dreht, kann schneller aufsteigen. Usw.

Im Original: Handlungsmotive
Aus Christoph Spehr (2003): "Gleicher als andere", Karl Dietz Verlag in Berlin
Der Vorteil von Herrschaft ist, dass sie bequem ist und funktioniert. Eine Politik der freien Kooperation kommt nicht umhin, eine Entfaltung sozialer Fähigkeiten zu betreiben, mit der sich die Individuen (und Gruppen) dabei unterstützen, die Entscheidung über sich tatsächlich in die eigene Hand zu nehmen. Aufgrund des Kahlschlags, den Herrschaft im demokratischen Zeitalter in diesem Bereich betrieben hat, sind wir ganz oft nicht fähig, unsere Kooperation selbst zu regeln – auch dies gilt wieder für alle Orte der Gesellschaft und alle ihre Kooperationen. Entfaltung sozialer Fähigkeiten ist nichts anderes als das, was subjektive Aneignung heute meinen kann: sich die gesellschaftlichen Erfahrungen und Fähigkeiten individuell und kollektiv verfügbar zu machen. ...
(S. 51 f.)
Wir gewöhnen uns daran, Probleme zu verdrängen, die wir eigentlich sehen, und unsere Umwelt nicht zu gestalten, obwohl wir es könnten. Wir erwarten, dass uns jemand sagt, was zu tun ist, und dass wir uns bei jemand beschweren können, wenn es nicht klappt. Wir erwarten sogar, dass uns jemand in eine Ecke führt, uns einen Pinsel in die Hand gibt und sagt: "Hier, gestalten!" und nennen das dann Zivilgesellschaft und Partizipation.
Freie Kooperation ist dagegen auf die Fähigkeit der Einzelnen zur aktiven Gestaltung angewiesen. In einer Kooperation von Freien und Gleichen gibt es niemand mehr hinter uns. Aktive Gestaltung sucht sich selbst ihr Feld und ihr Objekt, sie definiert selbst ihre Ziele. Sie ist Selbstbeauftragung. ...
(S. 95 f.)

Text von der Hoppetosse-Mailingliste (17.11.2002, Absender: einfreunddesmaquis@...)
Einige Bemerkungen zur Frage, wieso die Menschen so oder so handeln („Charaktermaske“ versus individuelle Interessen). Ich glaube ich habe das folgende von der Kritischen (= marxistischen, vor allem auf Holzkamp zurückgehende) Psychologie gelernt, bin da aber auch kein Experte. Ich würde es so sehen und denke, dass mit dem Folgenden ein Modell zur Verfügung steht, dass beide Positionen integriert. Die eine Position ist:
Alle machen so, wie es die (Herrschafts-)Verhältnisse verlangen („Charaktermaske“). Die andere: Alle machen so, wie sie wollen (individuelles Interesse). Unten dann auch noch was zur Konsumkritik.
Die Auflösung des Widerspruchs könnte m.E. so klappen. Man sollte zunächst davon ausgehen, dass alle gemäß ihren eigenen, individuellen Interessen handeln und zwar immer. Wir müssen das zunächst mal annehmen, wenn wir ernsthaft interessiert sind, individuelle Beweggründe rauszufinden und nicht nur der Annahme fröhnen wollen, Gesellschaft und Individuum seien identisch und individuelles Verhalten in jeder Situation aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ableitbar (oder der Mensch gar eine Reaktionsmaschine, wie es die bürgerliche Psychologie zumeist unterstellt). Ohne diese Annahme eines individuellen Interesses kann es keine Emanzipation geben und keine gesellschaftliche Entwicklung geben. Dafür spricht auch die Beobachtung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse so eng ja nicht sind. Man kann ja z.B. tatsächlich mit dem eigenen Geld Projektwerkstätten bauen ODER Aktien kaufen ODER Autos ODER Brunnen für 3.-Welt-Dörfer ODER, ODER. Man kann ja tatsächlich entscheiden, einen rassistischen/sexistischen Übergriff zu starten ODER es sein zu lassen; Bild zu lesen ODER Ö-Punkte etc.. Wobei klar gesagt werden muss, dass zum eigenen Interesse auch gehört (vermutlich sogar immer auch gehört), dass es anderen gut geht. Wir kümmern uns halt um Kinder, kranke Eltern, spenden für Brot für die Welt usw., obwohl uns dass auf der rein materiellen Ebene selbst gar nichts nützt und die „Charaktermaske“ des kapitalistischen Schweinesystems sowas eigentlich gar nicht hergeben dürfte. Viele (eigentlich alle) Leute tun es trotzdem und zwar nur, weil sie es selbst wollen. Wir handeln also nach unseren eigenen Interessen und jedeN, den/die man nach den Gründen für eigenes handeln fragt, wird zumindest nach einem Gespräch auch ein solches angeben können.
Interessen sind aber nicht gleich Handeln, sondern Interessen sind quasi etwas Vorgeschaltetes. In einem inneren Dialog überlege ich die ganze Zeit, soll ich dies tun oder das und was wäre besser, um mein Interesse zu verwirklichen. Von diesem inneren Dialog kann ich mich gar nicht komplett befreien. Nun passiert folgendes: Mein Interesse stößt auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen, diese gehen als Prämissen in meine Handlungsüberlegungen ein. Beispiel: Ich habe das Interesse ein großes Auto zu fahren. Die gesellschaftliche Rahmenbedingung ist (hier stark vereinfacht), dass man Geld braucht, um es zu bezahlen. Also muss ich mein Handeln so ausrichten, dass diese Kohle an Land kommt. Dazu gibt es sehr viele Möglichkeiten, die man grob in zwei Sorten einteilen kann. Die eine Sorte Möglichkeiten bedeutet, diese Rahmenbedingungen hinzunehmen und zu versuchen an Kohle zu kommen. In der Regel heißt das dann Lohnarbeit, Karriere, Sparen usw. bis es reicht für das große Auto, Diebstahl wäre aber z.B. auch eine individuelle Möglichkeit, mein Interesse zu verfolgen. Die andere Sorte Möglichkeiten schließt ein, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen selbst zum Gegenstand meines Handelns zu machen. Also mich z.B. dafür einzusetzen, dass der Mehrwert verteilt wird und alle fette Autos bekommen oder mich dafür einzusetzen, das Geld gleich ganz abzuschaffen und fette Autos gemeinsam in herrschaftsfreien Kooperationen zu nutzen. Nun kann ich mich entscheiden, wie ich mein Interesse verwirklichen will. Allerdings gibt es eine intellektuelle Hürde, man muss nämlich erstmal erkennen, dass die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch zur Verwirklichung meines Interesses führen könnte. Wie jede Erkenntnis fällt nämlich auch diese nämlich nicht einfach so vom Himmel in den Kopf, sondern ich brauche einen Tip und ich brauche auch (viel) Zeit um mal darüber nachzudenken, welche Wege es außer dem Individuellen noch gäbe etc. Und auch das Interesse selbst kann sich ja verändern. Vielleicht stelle ich durch einen Reflexionsprozeß ja fest, dass ich nur hin und wieder 220 fahren will, eigentlich aber meinen Nachbarn beeidrucken möchte und sich eine Yacht dafür viel besser eignet.
Soweit also das Modell. Wenn wir nun rausfinden wollen, warum einE KapitalistIn (sofern es die überhaupt so idealtypisch gibt) nun eben Aktien kauft, statt ProWes bleibt uns nichts, als immer weiter zu fragen, wieso er/sie dies oder das tut - am Ende wird es immer ein individuelles Interesse(nbündel) geben, dass er/sie unter Beachtung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit dem eigenen Handeln verfolgt hat. Und so hat man (tärä) den oben aufgemachten Widerspruch aufgelöst und kommt zu dem Ergebnis, dass es keine Charaktermasken gibt, dass aber die gesellschaftlichen Verhältnisse, die als Prämisse mein Handeln beeinflussen, ein bestimmtes Verhalten zur Verwirklichung dieser Interesses nahelegen. Und weiterhin sind wir nach der bisherigen reiflichen Überlegung an anderer Stelle zu dem Schluß gekommen, die ganzen Formen, Wege und Mittel dieser Nahelegung als Herrschaft zu bezeichnen.
Die Befreiung von Einschränkungen des eigenen Handelns (Emanzipation) wäre dann a) soweit als möglich alles zu tun, innerhalb der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die eigenen Interessen zu verwirklichen und b) - sofern das wegen der Herrschaft allüberall nicht geht - eben auch diese herrschenden Rahmenbedingungen durch Politik zu verändern.


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