Prozesstipps

EINBLICKE IN STRAFPROZESSE

Gemeinsame Erklärung von Angeklagten in einem Göttinger Strafprozess


1. Fehlurteile und Klassenjustiz in den Urteilsfabriken
2. Bock-Hamel: "Elendige Rechtsbeugerin" am Landgericht Braunschweig
3. Bericht von Silvia Hable
4. Gemeinsame Erklärung von Angeklagten in einem Göttinger Strafprozess
5. Berlin: Urteil ohne Verfahren
6. Frankfurt: Lasst Euch nicht von der Polizei verprügeln ...

Im heute endlich zum Abschluss kommenden Prozess ging es vordergründig um "Gewalt". Doch Gewalt war nur an der Oberfläche das Thema der hiesigen Verhandlung. Gewalt an sich hat keine Festnahmen zur Folge, keine Gerichtsverfahren, keine hysterische Presseberichterstattung und erst recht keine Empörung bei der Polizeigewerkschaft.
Auch der Polizist, der am 22.8. letzten Jahres am Hamburger Flughafen zu Boden ging, war - wie er hier selbst dargelegt hat - unterwegs in durchaus gewalttätiger Absicht. Er wollte jemanden festnehmen wegen eines Aufklebers - einer Sachbeschädigung, wie er zu Protokoll gab. Wegen eines kleinen, mit Klebstoff beschichteten Stücks Papier wollte er eine Person Kraft seines Amtes tätlich angreifen und gegen ihren Willen gewaltsam aus der Demo zerren. Das hat er selbst hier so vorgetragen. Wer käme auf die Idee, ihn dafür anzuzeigen, ihn aufzufordern sich nackt auszuziehen, ihn in eine Zelle zu sperren oder vor Gericht zu bringen?
Gewalt auf Demonstrationen ist nichts Ungewöhnliches. Wer je auf linken Demos war, weiß, dass sie dort nicht die Ausnahme sondern die Regel ist. In den Medien thernatisiert oder gar vor Gericht verhandelt wird sie jedoch bloß in seltenen Fällen. Während jede brennende Mülltonne lange Presseartikel nach sich zieht, bleiben die Prügelorgien der Sicherheitskräfte oft gänzlich unbeachtet. Knüppel und Pfefferspray, die im Besitz von Demonstrantinnen und Demonstranten als gefährliche Waffen angesehen werden, scheinen in der Hand von Polizistinnen und Polizisten zu Massagegerät und Duftzerstäuber zu mutieren. Zurückzuhalten brauchen sich die Einsatzkräfte dabei keineswegs. Denn selbst wenn sie ihre weitgesteckten Kompetenzen überschreiten, müssen sie nicht mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Eine Anzeige wegen Körperverletzung im Amt kann man sich jedenfalls sparen, denn die Chance einer Verurteilung liegt seit Jahren konstant im Promillebereich.
Sich hierüber Zu wundern wäre wie, erstaunt darüber zu sein, dass man im Regen nass wird. Die Polizei hat eine besondere Funktion, die im Organ zur politischen Verfolgung, dein Staatsschutz, plakativ zum Ausdruck kommt. Sie soll im Auftrag des Staates eben diesen (notfalls mit Gewalt) schützen. Das eigene System führte sich ad absurdum, wenn es die Glaubwürdigkeit eben jener Funktionsträgerinnen und -träger in Frage stellen würde. Deshalb kommt es so oft Zu Verurteilungen aufgrund von abgesprochenen Polizeiaussagen - seien es offensichtliche oder versteckte Falschaussagen. Deshalb kommt es dazu, dass Richterinnen und Richter selbstbewusst gerne auch mal die Politik in die eigene Hand nehmen und versuchen über Urteile das politische Klima in ihrem Sinne zu verschärfen. Die Justiz stellt dabei jedoch erst die Verfolgung und Urteilsbildung in dritter Instanz dar. Die ihr zugrundeliegenden Triebfedern stellen die Verfolgungsorgane in erster und zweiter Instanz dar: Die Polizei und Staatsanwaltschaft.
Diese kooperieren mit der Justiz, um gegen emanzipatorische und soziale Bewegungen vorzugeben, da diese immer auch eine Bedrohung der herrschenden Verhältnisse implizieren. Dabei werden zwei besondere Zwecke verfolgt. Einerseits sollen über die Kriminalisierung emanzipatorischer Öffentlichkeit die inhaltlichen Positionen delegitimiert werden und andererseits sollen Aktivistinnen und Aktivisten eingeschüchtert, eingesperrt oder handlungsunfähig gemacht werden. Die Menschen, die als Angeklagte vor Gericht stehen, sehen sich mit einer übermächtigen Struktur konfrontiert, gegen die sie nichts in der Hand haben. Wie eine Walze rollt der Apparat über ihr Leben, hinterlässt psychische und nicht selten auch physische Narben, sorgt für materielle Einschnitte mit langfristigen Folgen, reißt sie aus ihrem Alltag, um während des Prozesses vollkommen isoliert von ihrem sozialen Kontext an ihnen ein Exempel zu statuieren.
So gelingt es immer wieder mehr oder weniger erfolgreich sowohl auf individueller Ebene Menschen mit einanzipatorischen Anliegen anszuschalten als auch auf gesellschaftlicher Ebene diesen Anliegen mittels der beliebten Gleichsetzung von Legalität und Legitimität die Unterstützung zu entziehen. Damit geht die Gewalt der Verfolgungsorgane über die Gewalt der Justiz mit ihren Vollstreckungsorganen auf in der Gewalt alltäglicher, kapitalistischer Praxis.
So widerlich die hier immer wieder an die Oberfläche tretende Gewalt ist, so wenig sticht sie aus dem heraus, was tagtäglich passiert. Das, was der bürgerliche Staat für sich beansprucht, heißt nicht umsonst Gewaltmonopol. Noch mehr als andere sind davon Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten betroffen. Oury Jalloh und Laye Konde, um nur zwei Beispiele zu nennen, waren körperlich unversehrt, bevor sie in die Hand der deutschen Polizei gerieten. Kurze Zeit später waren beide tot. Laye Konde, den die Beamtinnen und Beamten verdächtigten, mit Drogen zu dealen, wurde so lange gewaltsam Brechmittel und Wasser eingeflößt, bis der Tod durch Ertrinken eintrat. Die Bremer Einsatzkräfte handelten hier ähnlich wie die Harnburger Polizei, in deren Gewalt Achidi John bereits drei Jahre vorher bei einem Brechmittelenisatz starb. Oury Jalloh verbrannte, an allen Gliedem fixiert, in einer Dessauer Polizeizelle, nachdem ihm zuvor noch Nase und Mittelohr zertrümmert worden waren. Angeblich soll er, obwohl er vorher mehrfach durchsucht wurde und sich nicht bewegen konnte, die feuerfeste Matratze, auf der er lag, aufgeschlitzt und die Füllung mit einem Feuerzeug angezündet haben. Die Verantwortlichen können sich in allen drei Fällen in ihrem Handeln bestätigt fühlen. Der Tod Achidi Johns war der Hamburger Staatsanwaltschaft nicht mal ein ordentliches Ermittlungsverfahren wert. In den anderen beiden Fällen konnten erst durch massive öffentliche Proteste Prozesse erzwungen werden. Das Ergebnis war allerdings wie befürchtet, denn auch hier zeigten die Gerichte erwartbarerweise großes Interesse daran, dass die herrschenden Zustände so unerträglich bleiben wie sie sind: Sowohl der Polizeiarzt, während dessen Behandlung Laye Konde ums Leben kam, als auch die Beamtinnen und Beamten, in deren Gewalt Oury Jalloh starb, wurden Anfang Dezember 2008 freigesprochen.
Manchen mögen diese Ereignisse als grausige Einzelfälle erscheinen - sie sind alles andere als das. Sie stellen keinen Bruch mit der deutschen Migrationspolitik dar, sondern sind im Gegenteil lediglich ihre konsequente Zuspitzung. Abschottung und militärische Aufrüstung der Grenzen, rassistische Polizeikontrollen, Residenzpflicht, Ausschluss von Gesundheitsversorgung und Bildung, Gutscheinsystem, Lagerunterbringung, Psychoterror, Inhaftierung und schließlich die Abschiebung - Das Arsenal, das der Staat gegen Menschen ohne deutschen Pass auffährt, ist so umfangreich wie ekelhaft. "Es gibt viele Arten zu töten", schrieb Bertolt Brecht:
„Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen,
einem das Brot entziehen,
einen von einer Krankheit nicht heilen,
einen in eine schlechte Wohnung stecken,
einen durch A rbeit zu Tode schinden,
einen zum Selbstmord treiben,
einen in den Krieg führen usw
Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“

Deutschland tötet - von Hamburg bis zum Hindukusch. Von Leuten, die angesichts der gewaltsamen Verfrachtung von Menschen in Folter, Elend und Tod keine Träne vergießen, wollen wir kein Gejammer hören, wenn einer von ihnen eine Prellung erleidet. Sie sind mitverantwortlich für die alltägliche Gewalt, die wir abschaffen wollen. "Alles muss anders werden!", hieß es irn Aufruf zum letztjährigen Antira-Camp. Wir halten daran fest. Wir kämpfen weiterhin für "Eine andere Welt, in der Wir alle solidarisch miteinander leben, ohne Ausgrenzung und Ausbeutung, ohne Rassismus und Sexismus, ohne Nationen, ohne Herrschaft, ohne Diskrimimerung, eine Welt ohne Strukturen, in denen das physische und psychische Sterben an der Tagesordnung liegt und der Status Quo weiter Seelen und Körper zerschlägt. Eine Welt, die die Vergangenheit niemals vergisst, mit der Gegenwart bricht und mit einem Lachen in eine andere Zukunft geht."
(gefunden in der "Göttinger Drucksache" vom 18.12.2009)

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