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STÖREN. BLOCKIEREN. VERHINDERN. RECHTLICH BETRACHTET

Nötigung - das Schwert der Macht gegen alles, was stört


1. Nötigung - das Schwert der Macht gegen alles, was stört
2. Gefährlicher Eingriff in ... Straßenverkehr/Schienenverkehr usw.
3. Störung von Betrieben

§ 240 Nötigung StGB
(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.


Nötigung - der Vorwurf ist eine politische Waffe. Das zeigt sich in den Relationen: 20 Minuten Demo auf der Straße ist eine Nötigung, weil Autos ein paar Minuten warten müssen - und das setzt dann mitunter mehrere Monate Haft. Wer umgekehrt mit einem Auto vier Stunden auf dem Radweg parkt und diesen damit komplett unbrachbar macht, oder drei Jahre lang täglich auf dem Bürgersteig parkt, hat wenig oder oft nichts zu befürchten. Er wird von der Politik sogar verteidigt: Solche Rechtsverstöße seien Gewohnheitsrecht (also: Gewohnheitstäter*innen sollen nciht bestraft werden!).
Aus einer Pressemitteilung des Kammergerichts Berlin (entspricht einem OLG) vom 13.2.2024 zu einer abgewiesenen Revision gegen eine Verurteilung wegen einer kleinen Sitzblockade auf einer Straße
Einzelne Aktivisten hatten sich an die Fahrbahn des Siemensdamms geklebt, der Angeklagte selbst hingegen nicht. Es kam zu einer 20 Minuten andauernden Blockade und damit zu erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen.
In de Gießener Allgemeine beschwert sich der Ortsvorsteher von Queckborn darüber, dass Gehwegparken nicht mehr erlaubt werde - obwohl er sogar weiß, dass es verboten ist. "Es leuchte nicht ein, warum eine Konstellation, die jahrzehntelang »gut funktionierte«, auf einmal verändert werden soll", zitiert ihn die Gießener Allgemeine am 16.4.2024.

Neu ist der Versuch nicht – aber ebenso dreist und politisch durchschaubar wie immer. Schon vor vielen Jahrzehnten versuchten Gerichte, alle Protestformen jenseits der störungsfreien Latschdemos, Menschenketten und Mahnwachen zu kriminalisieren und damit unschädlich zu machen. Ihnen war alles ein Dorn im Auge, was tatsächliche Wirkung auf das hatte, was im Interesse von Macht und Profit geschehen sollte. Das Mittel: Der Paragraph 240 im Strafgesetzbuch – Nötigung genannt. Jetzt gibt es neue Fälle die zeigen: Das Mittel könnte wieder in Mode kommen. Denn der politische Protest gewinnt an Stärke und verlagert sich vom samstäglichen Spaziergang auf Bäume, Straßen, vor Eingänge, an Fassaden und andere Stellen, die den Mächtigen mehr weh tun – und weh tun sollen.

Zur Praxis des § 240 StGB: Nötigung - staatliches Schwert gegen störenden Protest

Die Geschichte des Nötigungsvorwurfs bei politischen Aktionen
Der Trick, politischen Protest jenseits der Begleitfolklore des Unabwendbaren verhindern zu wollen, war einfach. Robuste Demonstrationen würden irgendwelche anderen Tätigkeiten behindern, ohne dass diese damit einverstanden wären. Selbst sanfte Sitzblockaden wurde damals kriminalisiert, bis das Bundesverfassungsgericht in einem aufsehenerregenden Urteil diese Praxis als rechtswidrig geißelte. Wer sich nur mit dem eigenen Körper anderen in den Weg setze, üben noch keine Gewalt aus, drohe auch nicht mit einem empfindlichen Übel und begehe daher keine Nötigung. Zum Verständnis lohnt sich ein Blick in den Paragraphen. Dessen Absatz 1 lautet: „Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Schon diesen Satz zu erfüllen, dürfte einiges mehr voraussetzen als nur irgendwo zu sitzen oder am Seil zu hängen. „Mit Gewalt“ – wo ist die bei einer einfachen Demo, Kletteraktion oder Sitzblockade? Auch eine „Drohung mit einem empfindlichen Übel“ ist bei solchen Aktivitäten nicht ansatzweise zu erkennen. Weder gibt es überhaupt eine Drohung noch wir ein empfindliches Übel über die schon bestehende Aktion hinaus benannt. Die aber kann nicht der Inhalt der Drohung sein, denn sie findet ja schon statt, wird also nicht angedroht. Zudem haben fast alle solche Aktionen klar den Charakter einer Versammlung, sind also vom Versammlungsrecht gedeckt und deshalb nicht rechtswidrig. Schon Absatz 1 zeigt daher: Nötigungsvorwürfe gegen Kletteraktionen, Sitzblockaden oder andere Formen von Versammlungen sind nicht möglich. Da braucht es den Absatz 2 nicht, der aber einen weiteren Grund liefert, warum der Nötigungsparagraph bei politischen Aktionen kaum anwendbar ist. Der lautet: „Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ Wer also Frieden oder Klimaschutz will, für sanfte Verkehrskonzepte oder gegen Rassismus kämpft, verfolgt keine verwerflichen Zwecke – und könnte nur nach diesem Paragraphen verurteilt werden, wenn es zu Handlungen kommt, die über den Versammlungscharakter hinausgehen und ein anderes, eben verwerfliches, dem eigentlichen Ziel nicht angemessenes Ziel verfolgen. Das ist aber so gut wie nie der Fall.
Trotzdem ließen große Teile der Justiz nicht locker und entwickelten mit viel Phantasie Umgehungsmöglichkeiten des klaren Verfassungsgerichtsurteils. Wer mit seinem Körper vor einem Auto sitzt, übt keine Gewalt aus, hatten die Richter*innen in Karlsruhe gesagt. Findige Gerichte erfanden die Zweite-Reihe-Theorie. Die erste Reihe Autos im entstehenden Stau oder stockenden Verkehr (hinter einer Demo) würde nicht genötigt, aber vor der zweiten stehe die erste Reihe. Daher hätte die zweite Reihe mehr als nur bloße Körper vor sich – und werde doch genötigt. Weder interessierte die Gerichte, dass dann ja eigentlich die Fahrer*innen der ersten Reihe vor Gericht hätten gestellt werden müssen (was auch absurd gewesen wäre), noch die Frage der Verwerflichkeit. Was das Heiligtum Auto beeinträchtigt, ist in diesem Land per se verwerflich – tolle Ziele der Demonstrant*innen hin oder her.

Zum Gewaltbegriff im Nötigungsparagraphen
Aus BVerfG v. 10.1.1995 – 1 BvR 718/89 u.a., BVerfGE 92, 1 (=NJW 1995, 1141)
An der Körperlichkeit als Gewaltmerkmal hat die Rechtsprechung seitdem zwar festgehalten, auf die Kraftentfaltung jedoch so weitgehend verzichtet, daß nunmehr bereits die körperliche Anwesenheit an einer Stelle, die ein anderer einnehmen oder passieren möchte, zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt genügt, falls der andere durch die Anwesenheit des Täters psychisch gehemmt wird, seinen Willen durchzusetzen. ...
Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt wird dadurch in einer Weise entgrenzt, daß es die ihm vom Gesetzgeber zugedachte Funktion, unter den notwendigen, unvermeidlichen oder alltäglichen Zwangseinwirkungen auf die Willensfreiheit Dritter die strafwürdigen zu bestimmen, weitgehend verliert. (…) Die Auslegung des Gewaltbegriffs in der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat folglich gerade jene Wirkungen, die zu verhüten Art. 103 II GG bestimmt ist. Es läßt sich nicht mehr mit ausreichender Sicherheit vorhersehen, welches körperliche Verhalten, das andere psychisch an der Durchsetzung ihres Willens hindert, verboten sein soll und welches nicht. In demjenigen Bereich, in dem die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist, wird die Strafbarkeit nicht mehr vor der Tat generell und abstrakt vom Gesetzgeber, sondern nach der Tat im konkreten Fall vom Richter aufgrund seiner Überzeugung von der Strafwürdigkeit eines Tuns bestimmt.


BVerfG v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u.a., BVerfGE 104, 92 (=NJW 2002, 1031)
Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt kann nach der angeführten Entscheidung des BVerfG unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit der Strafandrohung nicht in Fällen bejaht werden, in denen die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist (BVerfGE 92, 1 [18] = NJW 1995, 1141).

Renaissance des Paragraphen heute
Nun scheint es so, als würde der Nötigungsparagraph wieder häufiger aus der Klamottenkiste geholt wird. Der Grund dafür ist durchsichtig: Nach Jahren politischer Protestflaute sind in den letzten Jahren wieder stärkere soziale Bewegungen entstanden, die der Zerstörung von Klima, Umwelt und menschlichem Miteinander mehr entgegensetzen als Appelle und Samstagsnachmittags-Latschdemos. Die Besetzung des Hambacherforstes wurde zum Symbol dieser Praxis, die zuvor schon im Kampf um die Ausbreitung der Agrogentechnik sehr erfolgreich und gegen Atomkraft, Tierfabriken, Zwangsräumungen und Abschiebungen zumindest teilweise wirkungsvoll dominierte. Im Jahr 2020 folgte der Kampf um den Dannenröder Wald und eine Verkehrswende überall. Um ein Ausbremsen von Macht- und Profitinteressen zu verhindern, zog die Justiz den Nötigungsparagraph in erneuerter Auslegung aus der Klamottenkiste. Zwei Fallbeispiele zeigen das.

Philipp Eschenhagen, Promotionsjurist am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht in Kiel, im Interview auf Zeit online am 4.2.2023
Für die Strafbarkeit der Nötigung spielt die Verwerflichkeit des Vorgehens eine Rolle und angesichts des verfassungsgerichtlichen Klimabeschlusses ist neu zu fragen, was als verwerflich gilt. Dieser Konflikt wird in den Gerichten nun massenhaft ausgetragen.

Nur physische Gewalt ist Gewalt - aber Gerichte tricksen
Der Streit um Nötigung durch Demonstrationen auf Straßen, die den Autoverkehr oder andere Fahrzeuge behindern, ist alt und umfangreich. Die Phasen:
  • Ursprünglich wurde alles mögliche verurteilt, was sich privilegierten Nutzungen in der Gesellschaft entgegenstellte oder -setzte - seien es Autos, Panzer, Militär, Polizei usw.
  • Dann schob das Bundesverfassungsgericht dieser Inflationierung von Nötigungsstrafen einen Riegel vor und definierte die Gewalt neu. Nun war ein physisches Hindernis nötig. Der Körper eines Menschen allein genügte nicht als Gewalt, wenn er nur passiv einfach im Weg war.
  • Die strafwütige Justiz aber fand einen Ausweg und definierte die sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung. Danach würde zwar das erste Fahrzeug vor einer Steh- oder Sitzblockade nicht genötigt, aber das zweite durch das erste. Das erste könne aber nichts dafür, dass es halten musste, sondern Auslöser waren die Menschen, die im Weg standen oder saßen. Daher sei ihnen das Fahrzeug in der ersten Reihe zuzurechnen und so war doch ein physisches Hindernis da.
  • Verkehrswendeaktivist*innen über und auf Autobahnen könnten aber auch diese, ohnehin schon absurde Rechtsprechung umgehen. Entweder hingen sie über der Autobahn (die in 4,70m Höhe formal endet), oder es gab für die Autofahrenden die Möglichkeit, per Standstreifen oder Rettungsgasse das erste Auto zu umfahren, so dass die Zweite-Reihe-Rechtsprechung nicht zog.
  • Doch die Justiz kämpfte wieder für die Privilegien von Machtinstitutionen und vor allem den Autoverkehr - in Deutschland offenbar ein Heiligtum. Die neue Erfindung: Die Polizei als willliges Werkzeug der Protestierenden. Letztere würden zwar den Halt des Fahrzeugs in der ersten Reihe nicht verursachen, aber sie würde die Polizei faktisch zwingen, das zu tun - und so seien sie (nur in dreifacher Mittelbarkeit) doch die Verursacher der Gewalteinwirkung auf die zweite Reihe.

Aus dem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 14.7.1989 (Az. RReg 2 St 85/89)
Allerdings kann das Nötigungsmittel auch durch Dritte vermittelt werden. Als solche kämen hier die Polizeibeamten in Betracht. Zwar war deren Eingreifen auf die Blockade zurückzuführen. Die Polizei wurde deswegen aber noch nicht Tatmittler, sozusagen der verlängerte Arm der Demonstranten. Sie war auf die Aktion vorbereitet. Sie sperrte den Bereich zum Tatort großräumig ab, richtete an Straßenkreuzungen Kontrollpunkte ein und hielt die Kraftfahrer, die zum Tor 1 fahren wollten, danach und zwar ca. 200 bis 300 m vor der Blockade an. Diese Maßnahmen waren nach Art und Weise nicht das Werk des steuernden Willens der Demonstranten. Die Polizei gestaltete ihr Vorgehen vielmehr nach eigenem Ermessen unter polizeitaktischen Gesichtspunkten. Das Anhalten und Warten der Kraftfahrer beruhte deswegen auf den von der Polizei für zweckmäßig erachteten Maßnahmen und nicht darauf, dass sie sich einem auf sie einwirkenden Druck der Blockierer beugten.

Untersuchungshaft für Versammlung am Kletterseil
Am 26.10. befestigten Aktivistis zeitgleich an drei Brücken über Autobahnen im Rhein-Main-Gebiet Transpis und seilten sich neben ihnen ab, um die Transpis schön sichtbar zu halten. Eine Verkehrsgefährdung entstand nie. Doch die Polizei wollte die Sprüche für eine Verkehrswende, gegen den Bau der A49 und für einen Stopp des Mordsystems Auto (1053 Verletzte und 9 Tote allein in Deutschland - 3700 Tote weltweit ... täglich!) dort nicht ertragen, stoppte den Verkehr und holte die Aktivistis aufwändig von der Brücke. Schnell war klar: Wie bei ähnlichen Aktionen in der Vergangenheit war auch hier kein Eingriff in den Straßenverkehr vorzuwerfen - auch wenn viele getroffene Hunde in den Medien das herbeischrieben, um weiter dem Götzen Auto huldigen zu können. Dennoch wurden elf Haftbefehle erteilt - und die meisten der Betroffenen sitzen auch jetzt, Wochen später, noch im Gefängnis. Wie das? Staatsanwaltschaft und Gerichte in Frankfurt konstruierten einen absurden Vorwurf: Die Menschen an den Seilen hätten die Polizei zu ihrem Werkzeug gemacht. Zwar hat es nie einen verbalen oder sonstigen Kontakt gegeben, aber mit unsichtbarer Hand sei die offenbar willenlose Polizei von den Aktivistis ferngesteuert worden, den Verkehr zu stoppen. Das dieses Polizeihandeln ausschließlich dem Ziel diente, die Aktivistis zu entfernen und deren Aktion zu beenden, macht die Behauptung, das Vorgehen der Polizei sei auf den Willen der Aktivistis selbst zurückzuführen, nicht glaubwürdiger. Stattdessen wirkt der Vorwurf der Fernsteuerung ziemlich absonderlich und ist ohne Hilfe esoterischer Phantasie wie morphogenetischer Felder oder anderer waghalsiger Gedankengebilde nicht erklärbar. Den Strafverfolgungsbehörden jener Stadt, in der passenderweise die Figur der Justitia ohne Augenbinde auf dem zentralen Platz steht, steckten aber mit genau dieser Begründung elf Menschen in Untersuchungshaft. Dass sie nur mit ihren Körpern am Seil hingen, blieb unbeachtet. Die Zweite-Reihe-Theorie zog hier auch nicht, denn es gab nicht einmal die erste Reihe. Kein Auto musste wegen den Kletterer*innen anhalten oder auch nur bremsen. Vielmehr fuhren sie, zum Teil freudig oder warnend hupend, unter ihnen unterdurch – bis die Polizei den Verkehr stoppte. Auch die Verwerflichkeitsfrage stellten sich die Gerichte nicht. Verwerflich ist, was dem System Auto schadet. Punkt.
Eine juristische Einschätzung dazu findet Ihr auf freethemall.blackblogs.org/was-ist-daran-an-der-notigung/

Gehzeuge als sanftes Protestmittel – auch Nötigung?
Der zweite Fall spielt in Dresden und begann eher langweilig. Am 15. April 2019 hatten Verkehrswende-Initiativen zu einem Aktionstag mit vielfältigen Aktionen aufgerufen. Neben großen und kleinen Demonstrationen waren auch einige Gehzeuge unterwegs. Das sind einfache Holzrahmen in der Größe eines Autos, die von einer Person an Gurten getragen wird. Mit ihnen soll sichtbar werden, wieviel Platz ein Auto mit einer fahrenden Person einnimmt. Entsprechende Plakate an den Holzrahmen erklärten das auch. Solche sperrigen Gegenstände müssen nach § 25 StVO auf der Straße bewegt werden, weil sie auf dem Fußweg die dort laufenden Menschen behindern würden – eine durchaus fußgänger*innenfreundliche Regelung. Die Dresdner Polizei sah das allerdings anders und schubste alle Gehzeuge auf den Gehweg, obwohl sie dort wegen ihrer Größe den Durchgang komplett versperrten. Da nach einiger Zeit zwei der Gehzeuge an einem Ort zusammengeführt wurden, meldeten diese eine Versammlung an, deren Inhalt war, mit den Gehzeugen herumzugehen und damit zu zeigen, wie viel Platz Autos einnehmen. Die Polizei untersagte die Versammlung mit völlig abenteuerlichen Gründen ganz. Die später eintreffende Versammlungsbehörde erkannte darin wohl den Rechtsfehler und erließ stattdessen Auflagen: Die Demo müsse auf dem Gehweg stattfinden und auch ohne die Gehzeuge, die allerdings das einzige Ausdrucksmittel der Meinungsäußerung waren. Daher legte eine Person Widerspruch ein und wollte mit dem Gehzeug losgehen. Daraufhin beschlagnahme die Polizei dieses und verbot die Demo wieder. Der Betroffene erhielt ein Bußgeld wegen Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, gegen das er Einspruch einlegte. So kam es am 9.11. zum Gerichtsprozess. Eingeladen war nur wegen der vermeintlichen Ordnungswidrigkeit, doch im Prozess kam der Richter plötzlich auf die Idee, dass auch Nötigung in Frage käme, weil ja Autos etwas langsamer fahren mussten. Das schien ihn sehr aufzuregen. Versammlungen dürften den Autoverkehr nicht behindern. Schon die Versammlungsbehörde hatte vor Ort mit dem Grundrecht auf freie Fahrt argumentiert – konnte aber den Artikel im Grundgesetz nicht benennen, in dem das stehen würde …

Eine Gefahr für jede Demo
Die beiden beschriebenen Fälle decken sind in der juristischen Bewertung: Was den Autoverkehr behindert, ist Nötigung. Es reicht schon, wenn – wie im zweiten Fall – der Verkehr verlangsamt wird oder einen Umweg fahren muss. Es reicht auch schon, wenn die die Polizei den Verkehr stoppt, um die Versammlung angreifen zu können. In beiden Fällen wurde das Geschehen von der Polizei als Versammlung anerkannt und die Versammlung aufgelöst. Der Vorwurf der Nötigung bezieht sich jeweils auf einen Zeitpunkt vor der Auflösung. Das heißt, dass jede Versammlung, die den Autoverkehr behindert, den Straftatbestand der Nötigung erfüllt. Denn jede Versammlung auf der Straße beeinträchtigt den Autoverkehr zumindest geringfügig oder zeitweise. Jede Versammlungsanmeldung „nötigt“ nach dieser Sichtweise die Polizei, den Verkehr zu regeln. Das tut auch jeder größere Notfalleinsatz oder ein defektes Fahrzeug auf der Fahrspur. Ist das jetzt alles Nötigung??? Fahrradfahris auf der Straße oder Traktoren „nötigen“ die Autofahrer*innen, langsamer zu werden. Nötigung?
Die Inhaftierungen in Frankfurt und die richterliche Phantasie in Dresden sind ein Warnsignal. Der Stadt rüstet auf und bringt ein scharfes Schwert gegen politische Meinungskundgabe in Stellung: Das Strafrecht, im Frankfurter Fall auch gleich als Untersuchungshaft angewendet. Mutiert hier der Staat weiter zu einer Waffe gegen aufmüpfige Bürger*innen oder raubt der bedrohte Fetisch Auto der Justiz in ihrem Kampf gegen die Kritik an Klima- und Umweltzerstörung schlicht jeglichen Verstand? Wir werden sehen …

Nicht jede Störung ist eine Nötigung ...
Zweimal wurde im Gießener Raum die Frage der Nötigung durch Autobahnabseilaktionen verneint, einmal durch die Staatsanwaltschaft schon vor dem Verfahren (laut Gießener Anzeiger vom 20.10.2020) und einmal durch eine Einstellung im erstinstanzlichen Verfahren am Amtsgericht Gießen (Gießener Allgemeine vom 28.3.2024).

Im Original: Verfassungsgericht zum Nötigungsparagraphen
Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10.10.1995 (Az. 1 BvR 718, 719, 722, 723/89)
Da die Ausübung von Zwang auf den Willen Dritter bereits im Begriff der Nötigung enthalten ist und die Benennung bestimmter Nötigungsmittel in § 240 Abs. 2 StGB die Funktion hat, innerhalb der Gesamtheit denkbarer Nötigungen die strafwürdigen einzugrenzen, kann die Gewalt nicht mit dem Zwang zusammenfallen, sondern muß über diesen hinausgehen. Deswegen verband sich mit dem Mittel der Gewalt im Unterschied zur Drohung von Anfang an die Vorstellung einer körperlichen Kraftentfaltung auf seiten des Täters. Zwangseinwirkungen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig- seelischem Einfluß beruhen, erfüllen unter Umständen die Tatbestandsalternative der Drohung, nicht jedoch die der Gewaltanwendung.

Aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24.10.2001 (Az. 1 BvR 1190/90)
Die Teilnehmer wollten ihren Widerstand gegen das Vorhaben zum Ausdruck bringen, auf die Gefahren der Atomenergie aufmerksam machen und in diesem Rahmen die Bauarbeiten symbolisch einstellen. Entsprechende - im Sondervotum der Richterin Haas zu Unrecht als fehlend kritisierte - Feststellungen finden sich sowohl in dem Urteil des Landgerichts Amberg betreffend die Beschwerdeführerin zu 1 als auch in dem Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth betreffend die Beschwerdeführerin zu 2. Im Vordergrund der von den Beschwerdeführerinnen als "gewaltfreier Widerstand" ausgegebenen Aktion stand der öffentliche Protest mit dem Ziel der Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung. Die beabsichtigte Unterbrechung der Bauarbeiten war nicht Selbstzweck, sondern ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur symbolischen Unterstützung ihres Protests und damit zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit. ...
Die Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. An dieser Stelle ist der Rechtsgüterkonflikt im Rahmen einer einzelfallbezogenen Abwägung zu bewältigen. Entscheidend ist nach § 240 Abs. 2 StGB, ob die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Es entspricht verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn dabei alle für die Mittel-Zweck-Relation wesentlichen Umstände und Beziehungen erfasst werden und eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte, Güter und Interessen nach ihrem Gewicht in der sie betreffenden Situation erfolgt (vgl. BVerfGE 73, 206 (255 f.)). ...
Maßgebend ist aus dem Blickwinkel des Art. 8 GG insofern der Kommunikationszweck, den die Versammlung verfolgt. Vom Selbstbestimmungsrecht der Grundrechtsträger ist auch die Entscheidung erfasst, was sie anstreben. Die Beschwerdeführerinnen wollten mit der als spektakulär inszenierten Blockade der Zufahrt, die sie in Erwartung ihrer baldigen Entfernung durch die Polizei als kurzfristig einkalkuliert hatten, Aufmerksamkeit für ihren Protest gegen die Nutzung der Atomenergie erzeugen. Das ergibt sich aus den von den Strafgerichten festgestellten Umständen unter Einschluss der von ihnen ausgewerteten Flugblätter. Von dem Ziel der Erregung von Aufmerksamkeit sind die Strafgerichte bei der Strafzumessung auch ausdrücklich ausgegangen. Insofern war der für Art. 8 GG maßgebende Zweck nicht die mit der demonstrativen Blockade bewirkte Verhinderung der Durchfahrt. Die Sperrung galt nicht einem beliebigen Tor, sondern dem zu der politisch umstrittenen Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Die Beschwerdeführerinnen setzten die Blockade als Mittel ein, um das kommunikative Anliegen, die Erzielung von öffentlicher Aufmerksamkeit für ihren politischen Standpunkt, auf spektakuläre Weise zu verfolgen und dadurch am Prozess öffentlicher Meinungsbildung teilzuhaben. Die Verwirklichung eines solches Kommunikationsziels wird im Rahmen des Art. 8 GG geschützt.
Daher ist für die Abwägung bedeutsam, dass die Beschwerdeführerinnen bei ihrer Aktion davon ausgingen, zu einer die Öffentlichkeit angehenden, kontrovers diskutierten Frage - der friedlichen Nutzung der Atomkraft - Stellung zu beziehen. Es ist den Gerichten insofern verwehrt, das kommunikative Anliegen inhaltlich zu bewerten und sein Gewicht in der Abwägung je nachdem zu bestimmen, ob sie die Stellungnahme als nützlich und wertvoll einschätzen und ob das verfolgte Ziel nach gerichtlicher Beurteilung zu billigen ist oder nicht. Eine solche Bewertung verbietet sich, weil der Staat gegenüber der Grundrechtsbetätigung der Bürger auch im Interesse der Offenheit kommunikativer Prozesse inhaltsneutral bleiben muss.

Im Original: Kommentare zum Nötigungsparagraphen
Aus Fischer, Thomas (2017): Strafgesetzbuch zu § 240
Rdnr 2
Geschütztes Rechtsgut ist die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung (…). Diese Freiheit kommt nur natürlichen Personen zu. …
Danach ist, soweit eine Person von Rechts wegen verpflichtet ist, Zwang hinzunehmen, schon der Tatbestand des Abs. I nicht verwirklicht; …
Eigener Kommentar: Genötigt werden kann also nicht „die Polizei“ als Ganzes. Das ist aber im Haftbefehl zur vermeintlichen Nötigung durch die Kletteraktionen über Autobahnen am 26.10.2020 behauptet worden.
Da die Polizei zuständig ist, den Verkehr im Fall von Versammlungen zu regeln, ist sie zudem von Rechts wegen verpflichtet, das zu tun. Wie sie es tut, entscheidet sie frei. Die Entscheidungen, den Verkehr aufzustauen oder an anderen Orten abfließen zu lassen, hat die Polizei auch am 26.10.2020 ohne äußeren Zwang getroffen.


Rdnr 4
§ 240 I ist ein Erfolgsdelikt (37, 353). Abs. I beschreibt die Tathandlung in verkürzter Weise als das Nötigen einer anderen Person zu einer eigenen Handlung, zur Duldung einer fremden Handlung oder zur Unterlassung einer eigenen Handlung. ,,Nötigen" ist ein Rechtsbegriff, der einen tatsächlichen Handlungszusammenhang wertet; er setzt voraus, dass der Täter der anderen Person ein bestimmtes Verhalten aufzwingt, dh sie gegen ihren Willen dazu veranlasst. Der Begriff ist vom Handlungserfolg nicht zu trennen (…). Dies setzt zunächst voraus, dass ein entgegen stehender Wille vorhanden ist: Wer keinen Willen zu einem bestimmten Verhalten hat, kann nicht zum gegenteiligen Verhalten ,,gezwungen" werden; was eine Person schon will, kann nicht gegen sie erzwungen werden. Daher ist eine Täuschung· über den Gegenstand der Willensbildung (nicht: über deren Grundlagen) keine Nötigung (...). Der Begriff des Nötigens beschreibt somit einen Wirkungszusammenhang zwischen einer (grds. beliebigen) Handlung, einer hierdurch verursachten Freiheitseinschränkung einer anderen Person und einem Verhalten dieser Person, welches sich im Bewusstsein des Opfers als gerade durch die Einschränkung der Entscheidungsfreiheit bestimmt darstellt. …
Da die Ausübung von Zwang schon im Begriff des „Nötigens“ enthalten ist, ist für die Tatbestandserfüllung iS von § 240 I eine „äußere Manifestation der Zwangshandlung“ durch Anwendung bestimmter Zwangsmittel (unten 7) erforderlich, die über den Zwang selbst hinausgehen (BVerfGE 92, 17f).
Eigener Kommentar: Auch hier wird deutlich, dass nur konkrete Personen als Adressat einer Nötigung in Frage kommen. Zudem muss ein Zusammenhang zwischen der nötigenden Handlung und dem, was der Adressat tun soll, bestehen. Dieses ist in beiden genannten Fallbeispielen nicht gegeben. Es wurden keinerlei Drohungen oder Erwartungen an die Adressaten ausgesprochen. Sowohl der Polizei als auch den hinter einem Gehzeug langsam daherfahrenden Fahrzeugen war jederzeit möglich, sich der Situation ganz zu entziehen oder diese auf sehr unterschiedliche Art zu lösen.
In beiden Fällen sind keine tatsächlichen Zwangsmittel eingesetzt worden. Die Kletternden am 26.10.2020 über den Autobahnen berührten den Autobahnraum nicht einmal, das Gehzeug am 15.4.2019 in Dresden hatte in der engen Straße eine ähnliche Wirkung wie ein Fahrrad oder ein Gegenstand, wie er im § 25 StVO gemeint ist.


Rdnr 8
Gewalt ist der (zumindest auch) physisch vermittelte Zwang zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstandes.
Eigener Kommentar: In beiden Fällen gab es keine physischen Mittel, mit denen Gewalt ausgeübt oder angedroht wurde. Weder die Seile noch das Gehzeug richteten sich in irgendeiner Weise gegen die vermeintlich Genötigten. Dieses hätten diese einfach ignorieren oder ihnen ausweichen können. Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese dann gegen sie gewendet worden sind.


Rdnr 28a
Gewaltnötigung ist verneint worden bei Behinderungen durch … bewusst verkehrswidriges Gehen auf der Fahrbahn.
Eigener Kommentar: Laut BGH ist nicht einmal das verkehrswidrige Gehen auf der Straße eine Nötigung. Das Gehzeug ist nach § 25 StVO verkehrsgerecht auf der Straße unterwegs gewesen – und später als Versammlung nach Versammlungsrecht ebenfalls kein Verstoß gegen Verkehrsrecht gewesen. Zum (verkehrswidrigen) Stillstand kam das Gehzeug nur durch äußere Zwangseinwirkung seitens der Polizei. Auch der (verkehrswidrige) Aufenthalt auf dem Gehweg wurde gegen den Willen des Gehzeugträgers von der Polizei durchgesetzt. Dieser Vorgang erfüllt den Tatbestand der Nötigung, weil hier gewaltsam ein gesetzeswidriges Verhalten erzwungen wurde. Zudem wurden durch die Blockade Fußgänger*innen gezwungen, den Gehweg zu wechseln oder über angrenzende Privatgrundstücke auszuweichen.
Die Kletterer*innen befanden sich nie im Bereich der Autobahn (außer später in Folge der Gewalteinwirkung der Polizei, die sie entgegen ihrem Willen auf die Autobahn abseilte).


Aus Wikipedia zum Gewaltbegriff bei einer Nötigung:
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hatte zur Folge, dass die Strafgerichte ihre bisherige Definition von Gewalt überarbeiten mussten. Infolgedessen forderten sie wieder eine körperliche Zwangswirkung beim Opfer. Hieraus entstand der moderne Gewaltbegriff. Hiernach stellt Gewalt eine körperliche Tätigkeit dar, durch die körperlich wirkender Zwang ausgeübt wird, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Die Beurteilung verlagert sich somit hin zur Täterperspektive. Um Gewalt handelt es sich hiernach insbesondere um physische Einwirkungen auf das Opfer, etwa durch körperliche Misshandlung, das Beibringen von Rauschmitteln und das Schaffen eines Hindernisses, welches das Opfer nicht ohne eigene Gefährdung überwinden kann. ...
Wird eine Versammlung durch Art. 8 GG geschützt, beurteilt sich die Verwerflichkeit der Tat anhand einer Güterabwägung. Relevante Faktoren sind in diesem Kontext insbesondere der Umfang und die Intensität der Beeinträchtigung der Öffentlichkeit, die vorherige Bekanntgabe der Aktion und das Bestehen eines sachlichen Zusammenhangs zwischen der Blockade und dem Blockadeziel.


Aus einem Schriftsatz der Staatsanwaltschaft Köln zu einer Gleisblockade der Kohlebahn Hambach
Eine Nötigung gem. § 240 I StGB wurde durch das Anketten hingegen nicht verwirklicht. Das in Betracht kommende Merkmal der Gewalt ist nicht erfüllt. Gewalt ist die durch eine gegenwärtige Beeinträchtigung erzeugte und sich beim Betroffenen auch körperlich auswirkende Auslösung eines Zwanges (Eisele in Schönke Schröder Strafgesetzbuch, 28. Auflage 2010, Vorbemerkungen zu den §§ 234 bis 241a Rn. 10). Aufgrund der Erforderlichkeit der Körperlichkeit des Zwanges, darf er nicht bloß psychischer Natur sein. Zwar hat das OLG Celle (22 Ss 86/03 vom 12.08.2003) hinsichtlich Blockadeaktionen wie folgt entschieden: Strafbar bleiben Blockadeaktionen, die eine Kraftentfaltung seitens der Demonstranten erfordern oder bei denen ein physisch spürbares Hindernis gebildet wird, das schon aufgrund seiner Körperlichkeit geeignet ist, den Willen zu beeinflussen (BGHSt 44, 34,39). Das Bundesverfassungsgericht hat diese Auffassung in Fortführung seiner Rechtsprechung - insoweit klarstellend - in einem Fall bestätigt, in dem sich Demonstranten angekettet hatten. Die Ankettung eigne sich - so das Bundesverfassungsgericht - dazu, Dritten den Willen der Demonstranten aufzuzwingen, weil diese beim Heranfahren von Kraftfahrzeugen nicht ausweichen könnten und die Räumung erschwert werde (BVerfGE 104, 92, 102).
Ausgeschlossen sind aus dem Gewaltbegriff aber rein psychische Einwirkungen, also die Veranlassung allein intellektueller Abwägungsprozesse, z. B. Entschluss eines Autofahrers, einen Umweg zu fahren, als er von einem entfernten, die Fahrbahn blockierenden LKW im Radio erfährt (Fischer SIGB, 59. Auflage 2012 S 240 Rn. 18). Vorliegend sind keine Züge an die angeketteten Personen herangefahren. Der Bahnverkehr wurde bereits nach Erhalt der Information über die Ankettung seitens der Verantwortlichen der RWE vollständig eingestellt. Die Verantwortlichen bei RWE waren nicht unmittelbar mit den angeketteten Personen konfrontiert. Die Entscheidung, den Zugverkehr einzustellen, beruhte folglich auf einem rein intellektuellen Abwägungsprozess. Eine irgendwie geartete physische Wirkung auf die Entscheidungsträger bei der RWE Power AG entfaltete das Anketten folglich nicht. Daher liegt ein bloß psychischer Zwang und kein körperlicher vor.
Eine Drohung mit einem empfindlichen Übel gem. § 240 l, 2. Var. StGB ist in dem Anruf bei der RWE Power AG nicht zu sehen. Die Drohung bezeichnet das Inaussichtstellen eines Übels, dessen Verwirklichung davon abhängen soll, dass der Bedrohte nicht nach dem Willen des Täters reagiert (Eser/Eisele in Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 28. Auflage 2010, Vorb. SS 234 bis 241a Rn. 30). Als der Anruf getätigt wurde, waren die gesondert Verfolgten jedoch bereits an die Gleise gekettet. Das Übel war mithin schon verwirklicht und wurde lediglich mitgeteilt, nicht aber in Aussicht gestellt.
Auch eine versuchte Nötigung gem. §§ 240 ll, 1,22,23 SIGB liegt durch das Anketten nicht vor. Es scheitert hierbei am Tatentschluss. Der bei der RWE Power AG erfolgte Anruf kam, den äußeren Umständen nach zu urteilen, aus dem Lager der Gleisbesetzer und war als Bestandteil des Planes, den Bahnverkehr zum Erliegen zu bringen, den Beschuldigten und den gesondert Verfolgten bekannt. Zwar war über die Schienen ein Warntransparent mit der Aufschrift "Stop! Personen im Gleis" aufgehängt. Dies diente aber offenbar lediglich der besonderen Mitteilung und Kundgabe ihrer Protestaktion im Sinne einer zusätzlichen Aufmerksamkeitserregung. Dass die Beschuldigten von einer Durchführung des Zugverkehrs trotz des Telephonates ausgingen, ist nicht lebensnah. Sie dürften vielmehr mit einer Einstellung des Zugverkehrs gerechnet haben. Dementsprechend dürften sie es auch nicht für möglich gehalten haben, dass annahende Züge, mit der Besetzung unmittelbar konfrontiert, anhalten müssen.


Aus dem Urteil des Amtsgerichts Freiburg vom 21.11.2022 (Az. 24 Cs 450 Js 18098/22)
Der Angeklagte war aus rechtliche n Gründen freizusprechen.
Nach den Feststellungen zu Ziffer 111. waren zwar der objektive und subjektive Tatbestand der Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB jeweils in allen drei erhobenen Vorwürfen erfüllt. Allerdings war die Anwendung der Gewalt zu dem angestrebten Zweck nicht als verwerflich anzusehen, vgl. § 240 Abs. 2 StGB.
Unter Anwendung der sogenannten „Zweiten-Reihe-Rechtsprechung" des Bundesgerichtshofs (BGHSt 41, 182; nachfolgend bestätigt durch BGH, NJW 1995;,-2862; NStZ-RR 2002, 236) lag in den Fällen Ziffer III. 1.-3. nach Ansicht des Gerichts jeweils „Gewalt" i.S.d. § 240 Abs. 1 StGB vor. Nach Auffassung des BGH benutzen Demonstranten bei einer Sitzblockade auf einer öffentlichen Straße den aufgrund des psychischen Zwangs anhaltenden Fahrzeugführer und das Fahrzeug bewusst als Werkzeug zur Errichtung eines physischen Hindernisses für nachfolgende Fahrzeugführer (vgl. BGHSt 41, 182, 197). Die vom BGH entwickelten Maßstäbe sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden und werden Art. 103 Abs. 2 GG gerecht (vgl. BVerfGE, Beschluss vom 07.03.2011 - 1 BvR 388/05). Eine „Gewaltanwendung" liegt in den drei angeklagten Fällen demnach vor, die Demonstranten und mithin der Angeklagte hinderten durch ihre Sitzblockaden jeweils die Autofahrer in erster Reihe psychisch am Weiterfahren. Diese Fahrzeuge bildeten dann auch jeweils für die zweite Reihe an Autofahrern ein unüberwindbares, physisches Hindernis. Dabei ist auch unerheblich, ob die Demonstranten sich festklebten oder – wie der Angeklagte – lediglich hinsetzten. Die Anforderung an den Gewaltbegriff ist durch die Blockade erfüllt, da die Auswirkungen den Bereich der rein psychischen Beeinträchtigung verlassen und sich 8uch physisch auswirken. Hierbei ist sowohl das Festkleben seiner Mitstreiter/innen als auch die von den zuerst angehaltenen Fahrzeugen ausgehende physische Sperrwirkung für nachfolgende Fahrzeuge .dem Angeklagten zurechenbar, der bewusst an der Aktion teilgenommen hat.
Nach jeweils einzelfallbezogener Abwägung hinsichtlich aller drei angeklagter Vorwürfe vom 07.02., 11.02. und 15.02.2022 war nach Ansicht des Gerichts das jeweilige Handeln des Angeklagten jedoch nicht als "verwerflich" i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB anzusehen.
Unter Verwerflichkeit ist im Wege einer Abwägung aller Umstände des konkreten Falles ein erhöhter Grad sozialethischer Missbilligung des für das Ziel angewendeten Nötigungsmittels zu verstehen (vgl. Schönke/Schröder/Eisele, 30. Aufl. 2019, StGB § 237 Rn. 16). Die Verwerflichkeit ist dabei positiv festzustellen. Für die Feststellung eines Verhaltens als „verwerflich" bedarf es einer "wertenden Gesamtbetrachtung des Nötigungsmittels und des Nötigungszwecks, die zueinander in Relation zu setzen sind (sog. „Zweck-Mittel-Relation“), so dass die Verwerflichkeit nicht allein nach dem eingesetzten Mittel oder· dem angestrebten Zweck zu beurteilen ist" (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.07.1990 - 1 BvR 237/88; BVerfG, Beschluss vom 24. 10.2001 - 1 BvR 1190/90 u. a.; Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Auflage 2017, Rdnr. 28).
Bei der einzelfallbezogenen Abwägung hatte das Gericht bei der Auslegung und Anwendung von § 240 Abs. 2 StGB der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG sowie der Bedeutung des Art. 20a GG Rechnung zu tragen.
Das Bundesverfassungsgericht hat zum Schutz der Versammlungsfreiheit vor übermäßigen Sanktionen für die Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel nach § 240 Abs. 2 StGB besondere Anforderungen aufgestellt (vgl. BVerfGE 69, 315; BVerfGE 87, 399; BVerfGE 104, 92). Die Abwägung der Zweck-Mittel-Relation hat sich dabei am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu orientieren, insbesondere sind Art und Maß der Auswirkungen auf Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Zentrale Abwägungselemente sind hierbei Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, mögliche Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der Blockade sowie auch der Sachbezug zwischen den in der Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Gegenstand des Protestes. Dabei steht dem Strafgericht keine Bewertung zu, ob das Anliegen der Demonstranten als nützlich und wertvoll oder als missbilligenswert eingeschätzt wird. Je mehr jedoch ein Zusammenhang zwischen den ausgelösten Behinderungen und dem Versammlungsthema besteht, um so eher mag eine Beeinträchtigung der Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls eher als sozial erträglich angesehen werden. Demnach ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und inwieweit die Wahl des Demonstrationsortes und der konkreten Ausgestaltung sowie der betroffenen Personen einen Bezug zum Versammlungsthema haben (BVerfGE 104, 92 (112]). Der Kommunikationszweck ist dabei im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen, nicht erst bei der Strafzumessung. Auch ist ein Sachbezug nicht nur dann anzunehmen, wenn die Versammlung an Orten abgehalten wird, an denen sich die verantwortlichen Entscheidungsträger und Repräsentanten für die den Protest auslösenden Zustände aktuell aufhalten oder institutionell ihren Sitz haben (BVerfGE Beschluss vom 07.03.2011 - 1 BvR 388/05-, 1, [43]). …
Bei der anschließenden Einzelfallabwägung war auch der Rechtsprechung des BGH zur Außerachtlassung von „Fernzielen" des Sitzblockierers durch das Gericht Rechnung zu tragen (vgl. BGHSt 35, 328 = NJW 1988, 17 39). Im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.03.2011 [" ... Kommunikationszweck nicht erst bei der Strafzumessung, sondern im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel gemäß § 240 Abs. 2 StGB, mithin bereits bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit, zu berücksichtigen ... "] legt das erkennende Gericht die Rechtsprechung des BGH derart zu Grunde, dass eine (Be-)Wertung des Fernziels „Klimawandel/Klimaschutz", welches der Angeklagte und die Aktionen der „Letzten Generation" thematisieren, durch das Gericht außer Betracht zu bleiben hatte. Eine Bewertung des Anliegens des Angeklagten – als nützlich und wertvoll oder als missbilligenswert – stand dem Gericht nicht zu. …
Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst in seinem Beschluss vom 24.3.2021 - 1 BvR 2656/18, 1 BvR 78/20, 1 BvR 96/20, 1 BvR 288/20 - klargestellt, dass Art. 20a GG eine justiziable Rechtsnorm ist, "die den politischen Prozess zugunsten ökologischer Belange auch mit Blick auf die künftigen Generationen binden soll." Dabei erwächst aus Art. 20a GG eine objektivrechtliche Schutzpflicht des Staates, welche „auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen" beinhaltet. …
Das Gericht hatte dementsprechend in die Abwägung einzustellen, dass mit Fortschreiten des Aufbrauchens des C02-Budgets immer drängendere Beschränkungen C02-relevanter Verhaltensweisen verfassungsrechtlich geboten sind, mithin die Einschränkungen der individuellen Fortbewegungsfreiheit mit Pkws. in den kommenden Jahren bis 2030 durch den· Staat verschärft werden wird. Die zunehmende Intensität des Klimawandels und damit einhergehende Beschränkungen der Grundrechtsberechtigten – hier die Autofahrer – sind nach Ansicht des Gerichts demzufolge zwangsläufig in die Verwerflichkeitsprüfung· des Nötigungsvorwurfs einzubeziehen. Dass der Angeklagte auf die – nach seinem Empfinden – Untätigkeit der Bundesregierung und die kommenden Einschränkungen des C02 Verbrauchs in der gewählten Form einer Straßenblockade hinweist, ist vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geradezu eine direkte Verknüpfung von Mittel und Zweck. Den Autofahrern mit dem drastischen Mittel der Blockade die Endlichkeit des C02-Budgets und die künftigen, schwerwiegenderen sowie verfassungsrechtlich gebotenen Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit aufzuzeigen, ist im Ergebnis in den vorliegenden drei Fällen vom 07.02, 11.02. und 15.02.2022 nicht als verwerflich anzusehen.
Die Grenze der sozialen Unerträglichkeit eines Mittels und mithin einer Verwerflichkeit einer Handlung wäre nach Ansicht des Gerichts jedenfalls aber dann erreicht, wenn es zu Gefährdungen der Adressaten durch die Aktionen kommt. Die Aktionen vom 07.02, 11.02. und 15.02.2022 verliefen aber friedlich, kooperativ und ohne Gefährdungssituationen (vgl. Ziffern V. 2. a)-c).


Beschluss des LG Bremen am 22.6.2021 zu Abseilaktionen über Autobahnen/Fernstraßen
Das Amtsgericht Bremen hat hier eine Abwägungsentscheidung zwischen den Rechtsgütern der Betroffenen, der Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer und der Versarnrnlunqsfreiheit der Aktivisten vorgenommen, und ist unter Bezugnahme auf die soziale Gewichtigkeit des verfolgten Anliegens sowie dem Grad der festzustellenden Einschränkungen der Verkehrsteilnehmer zu dem Ergebnis gelangt, dass hier - mangels Vorliegens einer verwerflichen Mittel-Zweck-Relation - kein Anfangsverdacht hinsichtlich einer Nötigung des Beschuldigten feststellbar ist. Dieses Abwägungsergebnis hält die Kammer für nachvollziehbar und zutreffend, überdies ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass entscheidungserhebliche Belange gänzlich unberücksichtigt geblieben sein könnten. ...
Der Ermittlungsakte sind ansonsten keine weiteren Einzelheiten dazu zu entnehmen, an welcher Stelle es für welchen Zeitraum zu einem Stillstand oder einer Behinderung des fließenden Verkehrs gekommen ist. Dieser Umstand lässt bislang keinen hinreichenden Schluss darauf zu, dass es sich um eine besonders intensive bzw. dauerhafte Blockadeaktion gehandelt haben könnte, zumal stadtteilübergreifende Verkehrsbeeinträchtigung auch bei angemeldeten Demonstrationszügen regelhaft vorkommen. Nach Auffassung der Kammer kann jedenfalls nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass durch das verfahrensgegenständliche Geschehen Kranken-/Organ- oder Medikamententransporte behindert worden sein könnten und so eine Gefährdung von Individualrechtsgütern wie Leib, Gesundheit und Leben eingetreten ist. Ein gewichtiger Umstand im Rahmen der Abwägung ist der Sachbezug der von der Blockade betroffenen Personen - nämlich die Teilnehmer des Individualverkehrs. Stehen die äußere Gestaltung der Blockademaßnahme und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema und/oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und damit in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und inwieweit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwirkenden Bezug zum Versammlungsthema haben (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 08. Januar 2015 - 1 (8) Ss 510/13 -, juris).
Vor diesem Hintergrund ist die Einordnung des Geschehens als Meinungsäußerung und nicht nur als längerfristige Verhinderung des Verkehrs in der Gesamtschau der bisher bekannten bzw. ermittelten Umstände auch aus Sicht der Kammer nicht zu beanstanden.

In Mainz gab es einen Freispruch für eine Sitzblockade (mit teilweisem Ankleben), da die Handlung nicht verwerflich gewesen sei.
Aus dem Freispruch am 27.3.2024 am Amtsgericht Mainz (Az. 401 Cs 3100 Js 10851/23)
Nach den getroffenen Feststellungen unter III. sind sowohl der objektive (als auch der subjektive Tatbestand) der Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB erfüllt. Die Anwendung .der Gewalt zu dem angestrebten Zweck war vorliegend jedoch nicht als verwerflich anzusehen, § 240 Abs. 2 StGB.
Nach herrschender Rechtsprechung ist das Gewaltmerkmal bei der verfahrensgegenständlichen Blockadereaktion erfüllt. Da sich vorliegend aufgrund der Blockadeaktion ein Rückstau gebildet hatte, kommt die sogenannte „zweite-Reihe-Rechtsprechung" des Bundesgerichtshofs (BGH ST 41, 182; bestätigt durch BGH, NJW 1995, 2862; NSTZ RR 2002, 236) zum Tragen. Die unmittelbar gewaltfrei agierenden Blockierer - hier unter ihnen auch der Angeklagte - setzten die Fahrzeuge der ersten Reihe, unter ihnen die Zeugin R. danach als Werkzeuge ein, um ein physisches Hindernis für nachfolgende Fahrzeugführer zu bilden. (dieses aufgrund psychischen Zwanges, dem die nachfolgenden Fahrzeugführer unterliegen, nun physische Hindernisse der Fahrzeuge als Körper wird den Blockieren über § 25 Abs. 1, Variante 2 StGB zugerechnet). Eine Gewaltanwendung ist damit vorliegend zu bejahen: der Angeklagte und seine Mitdemonstranten hinderten durch ihre Sitzblockade jeweils die Autofahrer in erster Reihe psychisch am Weiterfahren. Diese Fahrzeuge bildeten dann auch jeweils für die zweite Reihe an Autofahrern ein unüberwindbares, physisches Hindernis. Dabei 1st es auch unerheblich, ob die Demonstranten sich festklebten oder - wie vorliegend der Angeklagte - sich lediglich hinsetzten. Die Anforderung an den Gewaltbegriff ist durch die Blockade erfüllt, da die Auswirkungen den Bereich der rein psychischen Beeinträchtigung verlassen und sich auch physisch auswirkten. ...
Eine Nötigung ist daher nur rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt (oder die Androhung
des empfindlichen Übels) zu dem angestrebten Zweck verwerflich ist. Zwar hat der BGH in seiner Entscheidung vom 05.05.1988 (1 SIR 5/88, BGH ST 35, 270) eindeutig festgelegt, dass Fernziele von Straßenblockierern nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigke1t der Nötigung, sondern ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen seien. Bei der einzelfallbezogenen Abwägung hatte das Gericht bei der Auslegung und Anwendung von § 240 Abs. 2 StPO aber der grundlegenden Bedeutung von Artikel 8 Abs. 1 Grundgesetz sowie der Bedeutung des Artikels 20a Grundgesetz Rechnung zu tragen. ...
Im Rahmen der Abwägung sind insbesondere Art und Maß der Auswirkung auf Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Zentrale Abwägungselemente sind hierbei Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, mögliche Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der Blockade sowie auch der Sachbezug zwischen den in der Fortbewegungsfreihe1t beeinträchtigten Personen und dem Gegenstand des Protestes. Dabei steht dem Strafgericht grundsätzlich keine Bewertung zu, ob das Anliegen der Demonstranten als nützlich und wertvoll oder als missbilligenswert eingeschätzt wird. Je mehr jedoch ein Zusammenhang zwischen den ausgelösten Behinderungen und dem Versammlungsthema besteht, umso eher mag eine Beeinträchtigung der Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls eher als sozial erträglich angesehen werden. Demnach ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und inwieweit die Wahl des Demonstrationsortes und der konkreten Ausgestaltung sowie der betroffenen Personen ein Bezug zum Versammlungsthema haben. Der Kommunikationszweck ist dabei im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen, nicht erst bei der Strafzumessung. ...
Das Gericht stellt daher fest, dass die verfahrensgegenständliche Sitzblockade bzw. Versammlung unter den Versammlungsbegriff des Artikel 8 Grundgesetz fällt. Eine Unfriedlichkeit begründende „Gewalttätigkeit" liegt nämlich nicht schon bei bloßen Behinderungen Dritter, sondern erst bei „aggressiven Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen" vor. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem im oben angeführten Beschluss ausgeführt und festgehalten, dass eine Sitzblockade, die die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für bestimmte politische Belange bezweckt, den Schutz der Versammlungsfreiheit eben nicht entfallen lässt. Die verfahrensgegenständliche Versammlung fand friedlich und ohne aggressive Ausschreitungen statt. Im Rahmen der durchgeführten Beweisaufnahme haben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es zu einem unfriedlichen Ablauf kam. Es handelte sich daher um ein friedliches Versammlungsgeschehen, das auch ohne vorherige Anmeldung dem Schutz des Artikel 8 Grundgesetz unterfällt. Auch die Ausrichtung auf eine breite öffentliche Aufmerksamkeit der Aktion lässt den Schutz des Artikel 8 Grundgesetz für die verfahrensgegenständliche Versammlung nicht entfallen. ...
Das Gericht musste dementsprechend in die Abwägung einstellen, dass mit Fortschreiten des Aufbrauchens des C02-Budgets immer drängendere Beschränkungen C02-relevanter Verhaltensweisen verfassungsrechtlich geboten sind, mithin die Einschränkungen der individuellen Fortbewegungsfreiheit mit Pkws in den kommenden Jahren bis zum Jahr 2030 durch den Staat verschärft werden wird. Die zunehmende Intensität des Klimawandels und damit einhergehender Beschränkungen der Grundrechtsberechtigten - hier insbesondere die Autofahrer - sind demzufolge zwangsläufig in die Verwerflichkeitsprüfung des Nötigungsvorwurfs einzubeziehen. Dass der Angeklagte auf die - nach seinem Empfinden - Untätigkeit der Bundesregierung und die kommenden Einschränkungen des C02-Verbrauchs in der gewählten Form einer Straßenblockade hinweist, ist vor dem Hintergrund dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Knüpfung von Mittel und Zweck. Den Autofahrern mit dem drastischen Mittel der Blockade die Endlichkeit des C02-Budgets und die künftigen, schwerwiegenderen sowie verfassungsrechtlich gebotenen Eingriffe in die Fortbewegungsfreiheit aufzuzeigen, ist damit im Ergebnis nicht als verwerflich anzusehen.


Politische Justiz: Kommentare, Urteile und Beschlüsse pro Bestrafung
Als Klimagerechtigkeits- und Verkehrswendegruppen rund um die Räumung des "Danni" (A49-Bau) vermehrt große Straßen für Demonstrationen nutzten, weiteten Gerichte den Nötigungsparagraphen in einer Art aus, dass jede Störung des heiligen Autos als Nötigung gewertet wurde. Die Justiz entpuppte sich als Bollwerk des Weiter-so und als willige Vollstreckerin von Kapitalinteressen.
Klimaschutz, Verkehrswende, Artenschutz - die Probleme werden immer drängender, aber Staat und Kapital versuchen mit allen Tricks, ein Ende der Ausbeutung von Mensch und Natur hinauszuzögern. Wie immer, bildet die Justiz dabei ein wichtiges Bollwerk, in dem sie alle bestraft, die sich nicht an die Regeln halten. Da kann die Welt untergehen, da können viele, viele Menschen sterben oder zur Flucht gezwungen werden, Arten aussterben und Überflutungen das Leben zur Gefahr machen: Das Recht auf Profite, auf Ausbeutung, auf schnelles Autofahren überall usw. muss erhalten bleiben. Wer Kritik hat, soll irgendwo unbemerkt herumstehen - mehr nicht. Der Hirnstupser stellt an Beispiel dar, wie die Justiz zurzeit Proteste einzuschüchtern versucht und Rechtsbeugung dabei zur alltäglichen Waffe wird. Der Leitspruch stammt dabei vom Oberlandesgericht Celle, die aus dem Widerstandsparagraphen im Grundgesetz ableiten, das es kein Widerstandsrecht gibt. Wie die das schaffen: Lest selbst ...
Aus dem Beschluss des OLG Celle vom 29.7.2022 (Az. 2 Ss 91/22)
Niemand ist berechtigt, in die Rechte anderer einzugreifen, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen und eigenen Auffassungen Geltung zu verschaffen (vgl. BGHSt 23, 46, Rn 16; LK-Rönnau, Vor § 32 Rn 142; S/S-Lenckner/Perron, § 34 Rn 41a; jeweils m.w.N.). Dies ergibt sich bereits aus Art. 20 Abs.4 GG. Denn durch die Beschränkung des Rechts zum Widerstand auf eine Situation, in der die grundgesetzliche Ordnung der Bundesrepublik im Ganzen bedroht ist, besteht im Umkehrschluss eine Friedenspflicht zu allen anderen Zeiten. ...
Würde die Rechtsordnung insoweit einen Rechtfertigungsgrund akzeptieren, der allein auf der Überzeugung des Handelnden von der Überlegenheit seiner eigenen Ansicht beruht, so liefe dies auf eine grundsätzliche Legalisierung von Straftaten zur Erreichung politischer Ziele hinaus, wodurch eine Selbstaufgabe von Demokratie und Rechtsfrieden durch die Rechtsordnung selbst verbunden wäre und die mit den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung schlechthin unverträglich ist.


Und gleich noch so ein Gerichtsverfahren - diesmal in Schleswig



Aus einer Pressemitteilung des OLG Karlsruhe zum Beschluss am 20.2.2024
Der Begriff der Verwerflichkeit sei nicht im Sinne eines moralischen Werturteils zu verstehen, sondern meine sozialwidriges Verhalten. ...
Abschließend hat der Senat darauf hingewiesen, dass ungeachtet der noch im Einzelnen zu treffenden Feststellungen jedenfalls bei einer unangekündigten Blockade einer Hauptverkehrsstraße über einen nicht unerheblichen Zeitraum, die mangels hinreichender Ausweichmöglichkeiten zu einem erheblichen Rückstau mit erheblicher Zeitverzögerung für die davon betroffenen Personen führe, angesichts des nur teilweisen Bezugs der von der Blockade betroffenen Personen mit den von dem Angeklagten und seinen Mitstreitern verfolgten Zielen die Verneinung der Verwerflichkeit eher fernliegen dürfte.

Völlig verworren: Jedes Gericht würfelt anders ...
Aufschlussreich auch ein Vorgang aus Gießen. Dort stufte die Staatsanwaltschaft Abseilaktionen über der Autobahn zunächst als "keine Straftat" ein. Über zwei Jahre später korrigierte sie unter dem Druck bundesweiter Verurteilungen diese Auffassung und erhob doch Anklagen.
Aus "Jetzt soll es doch Nötigung sein", in: Gießener Anzeiger am 21.4.2023
Was diese Anklage mit Verzögerung allerdings pikant macht, ist, dass die Gießener Staatsanwaltschaft nur wenige Wochen vor der Aktion beim Ursulum eine ähnliche Abseilaktion auf der A 5 in Höhe Bersrod am 6. Oktober 2020 nicht als strafrechtlich relevant und als vom Demonstrationsrecht gedeckt eingestuft hatte. ...
Seitens der Aktivisten wird bestritten, dass es einen Unterschied zwischen den Aktionen bei Bersrod und auf der Grünberger Straße gegeben habe. Beide seien, zum Teil von den selben Personen, sorgfältig vorbereitet und genau geplant durchgeführt worden. Die Staus auf den Autobahnen seien in beiden Fällen nicht von den Aktivisten ausgelöst worden, sondern von der Polizei. Man habe immer genau darauf geachtet, dass man den Fahrbereich, der bis zur Höhe von 4,70 Metern reicht, nie berührt habe.
In Saasen vermutet man, dass die Staatsanwaltschaften seitens der Politik angehalten werden, gegen Umweltaktivisten eine härtere Gangart einzulegen, weil durch die »Letzte Generation« Straßenblockaden mittlerweile zu einem Massenphänomen geworden seien. Deshalb habe man diesen alten Fall noch einmal ausgegraben, um potenzielle Nachahmer abzuschrecken.

Allerdings wurden Verfahren für zwei der drei Kletterpersonen dann wieder eingestellt, für eine aber weiterverfolgt. Warum? Es war ein anderer Staatsanwalt und eine andere Richterin. Für die gleiche Aktion also gegenteiligte Einschätzungen - Justiz je nach politischer Einstellung!


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