Anarchie

THEORIE-TEXTE ZUM KAPITALISMUS

Begriff und Wirkungsweise


Begriff und Wirkungsweise · Markt, Konkurrenz, Wachstum · Hinter allem: Herrschaft · Triple & Unity of Oppression · Sozialrassismus · Forschung und Profit · Links

Hirnstupser - politische Analyse und Nachdenktexte
Hirnstupser am 14.3.2020: Es gibt keinen richtigen Umgang mit Corona im Falschen!
Mehrere Länder haben ihre Grenzen geschlossen, aber schicken ihre Soldat*innen zu „Defender Europe 2020“, dem größten Nato-Militärmanöver seit 25 Jahren. Sport ist verboten, aber in den Autofabriken werkeln sie weiter zu Tausenden an den Klimakillern. Theater, Kitas und Schulen schließen, aber in den Chemiefabriken werden weiter Pestizide zusammengemixt. Vorträge werden abgesagt, aber an den Außengrenzen werden Zigtausende Menschen unter elenden Bedingungen per Polizeigewalt zusammengedrängt und erniedrigt. Das öffentliche Leben wird ausgebremst, aber Kleinwaffen und Panzer weiter zusammengeschraubt. Auch wenn die Angst vor dem Virus noch in diese bislang unangetasteten Sphären vordringen kann, zeigt sich doch eine bemerkenswerte Gewichtung, wo schnell gehandelt wird – und wo die Heiligtümer des kapitalistischen und herrschaftsförmigen Staatswesens stehen. Lieber wird eine Parlamentssitzung verschoben als Militär und Wirtschaft zu bedrängen. Im Gegenteil fallen die Entscheidungen im Stundentakt, Milliarden in Konzerne zu pumpen, die in den letzten Jahren Rekordgewinne eingefahren haben.



Wie der Kapitalismus funktioniert und den erzeugten Reichtum ständig nach oben umverteilt, lässt sich am Stadtstaat Bremen gut sehen. Dort ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf überdurchschnittlich hoch, aber Armut, Schulden und Arbeitslosigkeit besonders hoch. Was zunächst wie ein Widerspruch scheint, ist aber genau die Logik des Kapitalismus: Er dient der Profitmaximierung - und die läuft auf Kosten Vieler zugunsten Weniger. Will heißen: Je mehr Profit, desto größer die Reichtumsunterschiede.
Quellen: Frankfurter Allgemeine am 10.5.2023 ++ Artikel "Arm und Reich" auf brandeins

Aus P.M., 2001: Subcoma, Paranoia City Verlag in Zürich (S. 22)
Das ökonomische System, das im 18. Jahrhundert seinen weltweiten Siegeszug antrat, hat verschiedene Aspekte und wurde verschieden benannt: Marktwirtschaft, Kapital, Kapitalismus, moderne Industriegesellschaft, Arbeitsgesellschaft oder schlicht: die Wirtschaft. Weil dieses System sich mehr und mehr vom individuellen Handeln sowohl der Kapitalbesitzer wie der Arbeitskräftelieferanten emanzipiert hat und eine Eigendymanik entwickelt hat, die einer Maschine gleicht, nenne ich es in der Folge Arbeitsmaschine. Selbstverständlich heisst nicht, dass es eine bloss physische Maschine ist, sondern eben ein materiell-immaterielles System, das menschliche Verhältnisse und Produktionsmittel kombiniert. Es ist auch keine starre Maschine, sondern eine, die sich selbst laufend verändert, ergänzt, repariert. Doch analog zu den mechanischischen Gesetzen wird auch die Arbeitsmaschine von den immer gleichen Gesetzen reguliert, die gewährleisten, dass Arbeit in Profit und Profit in Akkumulation und Konzentration von Kapital umgewandelt werden kann. Ähnlich wie eine Maschine verwandelt uns die Arbeitsmaschine in kleine Zahnrädchen in einem grossen, anonymen Getriebe. Im Unterschied zu einer statischen maschine ist allerdings die Arbeitsmaschine ein System, das auf seinen eigenen Widersprüchen (zum Beispiel Lohnarbeit versus Kapital) beruhr, also letztlich eine politische Maschine.

Aus dem "Ahlener Programm" der CDU (1947)
Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.

Erich Fromm (1990): „Die Furcht vor der Freiheit“, dtv in München (S. 84 f.)
Der Kapitalismus hat nicht nur dem Individuum seine Daseinsberechtigung bestätigt, er hat auch zur Selbstverleugnung und zu einer asketischen Einstellung geführt, die eine direkte Fortsetzung des protestantischen Geistes ist. ...
Im Kapitalismus wurde die wirtschaftliche Betätigung, der Erfolg und der materielle Gewinn Selbstzweck. Es wurde zum Schicksal des Menschen, daß er zum Gedeihen des Wirtschaftssystems beitragen mußte, daß er Kapital anhäufen mußte, und dies nicht zum eigenen Glück oder Hell, sondern als Selbstzweck. Der Mensch wurde zu einem Zahnrad im riesigen Wirtschaftsapparat - zu einem wichtigen Zahnrad, falls er über viel Kapital verfügte, und zu einem unwichti gen, wenn er kein Geld hatte -, aber er war stets ein Zahnrad, das einem Zweck diente, der außerhalb seiner selbst lag. ...
Nachdem er erst einmal bereit war, nichts anderes sein zu wollen, als ein Mittel zur Verherrlichung eines Gottes, der weder Gerechtigkeit noch Liebe repräsentierte, war er genügend darauf vorbereitet, die Rolle des Dieners einer Wirtschaftsmaschinerie zu akzeptieren - und schließlich auch einen "Führer".
Die Unterordnung des einzelnen unter wirtschaftliche Zielsetzungen gründet sich auf die Besonderheiten der kapitalistischen Produktionsweise, welche die Anhäufung von Kapital zum Zweck und Ziel des Wirtschaftens macht. Man arbeitet für den Profit, aber der erzielte Gewinn ist nicht dazu da, ausgegeben zu werden, sondern er dient neuen Kapitalinvestitionen.


John Maynard Keynes, zitiert in: Stichwort Bayer 1/2006 (S. 5)
Kapitalismus ist der seltsame Glaube, dass die übelsten Menschen mit den übelsten Motiven irgendwie zum allgemeinen Wohl arbeiten werden.

Aus Niels Boeing (2015), „Von Wegen“ (S. 23ff)
Was also ist das Besondere am Kapitalismus, das ihn von früheren Epochen unterscheidet? Immanuel Wallerstein antwortet: »die Akkumulation von Kapital zum Zwecke der Anhäufung von noch mehr Kapital«. Gerhard Willke schreibt noch etwas genauer: »die konkurrenzgetriebene Akkumulationsdynamik«. Kapital wird nicht akkumuliert, um sich damit einen Lenz zu machen, sondern um es wieder in den Kapitalkreislauf zu stecken und so der Konkurrenz zu enteilen. Beide, der marxistische Soziologe Wallerstein und der nicht-marxistische Ökonom Willke, betonen, dass diese Dynamik erst durch das Zusammenwirken verschiedener historischer Zutaten entstanden ist, dass sie, in der Sprache der Komplexitätstheorie, eine »emergente« Eigenschaft ist - etwas, das im Laufe der Geschichte »auftaucht«, aber nicht zwangsläufig hätte auftauchen müssen.
Der Kapitalismus ist keine naturgesetzliche Endform des Wirtschaftens, noch ist er das Ergebnis eines sinistren Plans von »llluminaten«. Er hat nicht am 1. Oktober 1751 begonnen oder am 23. April 1805. Allenfalls ist seine Akkumulationsdynamik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unübersehbar geworden.
Dass sie in Gang kommen und Fahrt aufnehmen konnte, wäre nicht möglich gewesen, wenn es nicht das Konzept eines vom Adel unabhängigen, geschützten Privateigentums gegeben hätte; wenn technische Fortschritte nicht die Produktionsmengen erhöht und die Kosten gesenkt hätten, wodurch die Konkurrenz unter Zugzwang gesetzt wurde; wenn nicht neue Institutionen zur Beschaffung von Geldkapital und Märkte für menschliche Arbeitskraft sowie Grund und Boden geschaffen worden wären; wenn das Bürgertum nicht die Vertragsfreiheit des Individuums durchgesetzt hätte. Das Zusammenwirken dieser und anderer Neuerungen hat eine Konkurrenzspirale gestartet, die alle Beteiligten zwingt, sich den Kopf zu zerbrechen, welche Dinge und Tätigkeiten man noch zu Waren machen kann, mit deren Verkauf sich nötiges Geld, idealerweise Profit machen lässt.
In diesen Strudel sind Dinge geraten, die sich vor 200 Jahren niemand vorstellen konnte - das Auto, der Musik-Tonträger oder das Internet -, und Tätigkeiten, die lange auch unentgeltlich erledigt wurden – Kranke pflegen, einen guten Rat erteilen, Fußball spielen, Straßenfeste organisieren oder schlicht wohnen.
Getriebene sind in diesem Strudel alle, der Kapitalist ebenso wie der Nicht-Kapitalist, der seine Arbeitskraft verkauft. Mindestens unbewusst preisen sie Ideen in ihrem Kopf ein, jeder Gedanke kann zur potenziellen Ware werden, und sei es auch nur in der zwischen zwischenmenschlichen Konkurrenz des Alltags. Crashs und Krisen haben diese Dynamik nicht gebrochen, ebenso wenig moralische Verdammung. Luc Boltanski und Eve Chiappello schreiben: »In der Tat ist der Kapitalismus wohl die einzige, zumindest jedoch die wichtigste historische Ordnungform kollektiver Praktiken, die von der Moralsphäre völlig losgelöst ist.«
Und doch straft der Kapitalismus alle, »deren Handeln anderen Werten oder Zielen gehorcht, so dass diese unangepassten Akteure früher oder später das Feld räumen«, schreibt Wallerstein. Dafür sorgen verschiedene Institutionen, die das kapitalistische Weltsystem aufrechterhalten. Aber, so Wallerstein weiter, »alle Systeme haben ein Leben. Sie bestehen nicht ewig.« Das ist immerhin eine Aussicht.


Im Kapitalismus wird alles zur Ware
Aus Cindy Milstein (2013), "Der Anarchismus und seine Ideale" (S. 23)
Marx machte deutlich, wie sich die Logik des Kapitalismus dialektisch ausbreitet, mit der Ware, der »Zellenform« des Kapitalismus, als Kern: ein Objekt wird nicht mehr länger über seine Nutzbarkeit definiert (Gebrauchswert), sondern über seine Tauschbarkeit (Tauschwert). Dinge haben keinen Wert an sich. Das gesamte Leben wird im kapitalistischen Sinne instrumentalisiert. Der Kapitalismus verwandelt dabei immer mehr Aspekte des Lebens materielle wie immaterielle, emotionale wie ökologische in Waren. Idealiter wird alles in der Welt zur Ware. Der Wert bestimmt sich darüber, wie viel es zu tauschen und zu akkumulieren gibt bzw. über Geld, Eigentum und vor allem Macht über andere. Die Ware selbst maskiert die Beziehungen des Kaufs und Verkaufs.

Beispiel Altkleidersammlung: klingt gut, hat aber viele Nebenwirkungen
Aus "Altkleidersammlung"
Rund 10 % sind Abfall, rund 35 % werden zu Dämmstoffen oder Putzlappen verarbeitet, rund 55 % sind als Kleidung noch tragbar und gehen als Secondhandware in den Export. ... Gemeinnützige Vereine können an dem Geschäft teilhaben, indem sie das Sammeln per Container einem gewerblichen Sammler überlassen und diesem ihr Logo und ihren Namen vermieten. Das Logo wird dann auf den Containern angebracht und fördert das Vertrauen der Spender. Als Gegenleistung erhält der gemeinnützige Verein eine pauschale Vergütung vom Verwerter. Bei diesem häufig angewandten Verwertungsmodell wird der überwiegend gewerbliche Charakter der Verwertung verschleiert, was dem Versuch entspricht, die Spender irrezuführen. Das Mieten von Logos und Namen ist jedoch juristisch zulässig. In anderen Ländern außer Deutschland werden noch brauchbare Kleider meist in Second-Hand-Läden zu einem geringen Preis weiterverkauft. ...
Entwicklungspolitisch gesehen ist der Export von Altkleidern in Drittweltländer (genannt Mitumba) umstritten. Da der Handel mit Altkleidern in direkter Konkurrenz zur lokal ansässigen Bekleidungsherstellung steht, kann er zu deren Zerstörung beitragen (wie es beispielsweise auch mit Entwicklungshilfe im Agrarsektor der Fall sein kann). Ein Artikel auf Zeit Online beklagte im Jahr 2011, gebrauchte Kleidung werde in so großen Mengen exportiert, „dass die einheimische Textilindustrie in vielen belieferten Ländern inzwischen vollkommen marginalisiert ist“. ...
Beim Versuch, Kleider oder versehentlich eingeworfene Gegenstände zu entnehmen, sind wiederholt Menschen steckengeblieben, wobei es auch zu Todesfällen kam.

Eine Maschine, die Profite schaffen soll
Im Original: Beispiel Medizin
Aus "Ärzte operieren ohne medizinischen Grund", auf: Spiegel Online, 6.11.2017
Weil der Kostendruck steigt, empfehlen Mediziner ihren Patienten mitunter unnötige Eingriffe. Eine Umfrage in deutschen Krankenhäusern ergab: Was zählt, ist der Umsatz.

E. F. Schumacher, Die Rückkehr zum menschlichen Maß (zitiert nach James C. Scott: "Applaus dem Anarchismus", S. 123)
Die Stärke des Begriffs vom privaten Unternehmertum liegt in seiner erschreckenden Einfachheit ... Ebenso passt sie [die Vorstellung vom privaten Unternehmertum] hervorragend zum modernen Hang, ausschließlich Mengen zu Lasten qualitativer Unterschiede zu bewerten, denn dem Privatunternehmertum geht es nicht um das, was es produziert, sondern nur darum, welchen Gewinn es aus der Produktion erzielt.

Aus James C. Scott: "Applaus dem Anarchismus" (S. 143f und 147f)
Die reformerischen, zugleich kopflastigen Progressiven im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts und seltsam genug auch Lenin glaubten, dass objektive wissenschaftliche Kenntnisse die „Verwaltung der Dinge“ ermöglichen und so weitgehend an die Stelle der Politik treten würden. Ihre frohe Botschaft von Effizienz, technischer Ausbildung und technokratischen Lösungen lief darauf hinaus, dass die Welt von einer geschulten, rational denkenden und professionellen Elite von Managern geleitet werden würde. Die Idee einer Meritokratie ist der natürliche Reisegefährte der Demokratie und des wissenschaftlichen Modernismus. ...
Eine Kosten-Nutzen-Analyse besteht aus einer Reihe von Bewertungsmethoden, die dafür konzipiert wurden, die Rendite für irgendein gegebenes Projekt (eine Straße, eine Brücke, einen Staudamm, einen Hafen) zu berechnen. Dies erfordert, dass alle Kosten und Gewinne zu Geld gemacht werden, damit sie unter der gleichen Messgröße subsumiert werden können. So müssen die Kosten, die etwa durch das Verschwinden einer Fischart, den Verlust einer schönen Aussicht, von Jobs, sauberer Luft verursacht werden, wenn sie in die Rechnung eingehen sollen, in Dollar ausgedrückt werden. Was wiederum bombastische Annahmen erforderlich macht. Für den Verlust eines schönen Ausblicks werden „Schattenpreise“ angesetzt, wobei Anwohner gefragt werden, um wie viel höhere Steuern sie zu zahlen bereit wären, falls der Blick erhalten bliebe. Die Summe daraus ergibt dann den Wert! Wenn Fischer die Fische, die durch einen Staudamm zum Verschwinden gebracht werden, verkauften, würde der Umsatzverlust deren Wert repräsentieren. Wenn sie nicht verkauft würden, dann wären sie für die Analyse wertlos. Fischadler, Fischotter und Säger könnten enttäuscht sein über den Verlust ihres Lebensunterhalts, aber es zählen nur menschliche Verluste. Verluste, die nicht in Geld umgesetzt werden können, werden von der Analyse nicht erfasst. Wenn zum Beispiel ein Indianerstamm die Entschädigung verweigert und erklärt, dass die Gräber seiner Vorfahren, die kurz davor stehen, vom Stausee hinter dem Damm überflutet zu werden, „grundsätzlich unbezahlbar“ sind, so widerspricht das der Logik der Kosten-Nutzen-Analyse und fällt aus der Gleichung heraus.


Notwendigkeit der Expansion
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 124, mehr Auszüge)
Eines ist jedoch klar: dies System muß unauflörlich expandieren, solange bis alle Bindungen zerreißen, die noch zwischen Gesellschaft und Natur bestehen - wie die wachsenden Löcher in der Ozonschicht und der sich verstärkende Treibhauseffekt anzeigen. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes das Krebsgeschwür des sozialen Lebens an sich.


Im Original: Ein Mailwechsel zum Thema
Mail von: Anarchie & Luxus, j,bn
Liebe GenossInnen,
auf dem Januartreffen wurde der Kapitalismusbegriff z.B. auf dem Abschlußplemun und auch in einem Diskussionspapier so benutzt, daß von Kapitalismus und anderen Herrschaftsverhältnissen die Rede war oder daß mensch sich nicht antikapitalistisch nennen wolle, weil damit bspw. Sexismus und Rassismus in den Hintergrund gedrängt würden. Es wurde auch darüber geredet, ob nicht statt dessen ein Triple Opression Ansatz besser sei.
Ich habe dazu eine grundsätzlich andere Auffassung, die ich, da auf dem Treffen dazu keine Zeit war, hier mal darstellen möchte.
Die oben dargestellte Sichtweise sieht den Kapitalismus als einen Widerspruch unter vielen an, so als ob Kapitalismus nur das sei, was z.B. in einer Bank stattfindet. Daneben gäbe es dann andere Widersprüche, die unabhängig von einander existierten und bekämpft werden könnten.
Nach meiner Auffassung ist Kapitalismus die Bezeichnung für das Gesellschaftsystem, in dem die Menschheit etwa seit Beginn der Neuzeit lebt. In diesem Gesellschaftsystem sind z.B. Ausbeutung, Rassismus, Sexismus und andere Unterdrückungsmechanismen enthalten. Das mag zunäxt nur wie eine andere Terminologie (Wortwahl) erscheinen, tatsächlich verbirgt sich dahinter aber mehr.
Ich denke, es ist absolut unmöglich irgendeine Form von Unterdrückung unabhängig von diesem Gesellschaftsystem, eben dem Kapitalismus, und damit von anderen Unterdrückungsverhältnissen zu betrachten. Die Triple Opression Theorie tut das m.E. aber teilweise (wobei ich zugeben muß, kein Experte für den Triple Opression Ansatz zu sein). Das Patriarchat, mit dem wir es heute zu tun haben, ist z.B. nicht zu verstehen ohne es im Zusammenhang mit den aktuellen Verwertungsbedingungen des Kapitals zu sehen. Das gleiche gilt für alle anderen Unterdrückungsmechanismen. Sie sind gesellschaftliche Verhältnisse, die sich gegenseitig beeinflussen und bedingen und die Gesamtheit dieser Verhältnisse ist eben der Kapitalismus.
Wohin es führt, wenn mensch meint, bestimmte Unterdrückungsmechanismen einzeln bekämpfen zu können, ist hervorragend illustriert am Beispiel von Alice Schwarzer und ihrer Zeitung Emma. Nicht nur, daß sie den Faschisten Singer und seine Euthanasie Konzepte hofieren, ihr Ansatz von Emanzipation sieht nur noch vor, daß Frauen die gleiche Scheiße machen dürfen, die vorher den Männern vorbehalten war. Das führt zu Forderung wie Frauen ins Militär und zu den Bullen (ist ja bereits weitgehend erfüllt), gleichberechtigte Teilhabe an den Schweinejobs in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Forschung. Daß solche Posten eigentlich bekämpft und abgeschafft gehören, wird natürlich nicht mehr erwähnt, sobald erstmal frühere Feministinnen auf diesen Posten sitzen oder zumindest eine berechtigte Hoffnung haben, dorthin zu kommen. Letztlich ist es aber wurscht, ob Frauen oder Männer die gleiche patriarchale Politik machen. Den Frauen kann es z.B. egal sein, ob ihnen Politiker oder Politikerinnen das Recht auf Abtreibung verwehren.
Ein weiteres Beispiel ist die Besetzung von Minister- und Beraterposten in der neuen US-amerikanischen Regierung mit farbigen PolitikerInnen. Sie werden die gleiche rassistsische Politik wie ihre weißen VorgängerInnen machen.
Eine wirkliche Änderung der Verhältnisse kann nur erreicht werden, wenn mensch diese Gesellschaftsordnung, eben den Kapitalismus, als Ganzes bekämpft. Dabei muß klar sein, daß nur die Gleichberechtigung und Gleichzeitigkeit aller Kämpfe um Befreiung den Übergang in eine befreite Gesellschaft ermöglicht. Solche Statements wie: „Das ist ein Nebenwiderspruch, das regeln wir nach der Revolution“ zeugen von einem stark unterentwickelten Verständnis von Revolution. Mal abgesehen davon, daß die Revolution ein Prozeß ist, der vielleicht nie zu Ende ist (und damit das nach der Revolution zu Regelnde auf den St. Nimmerleinstag verschoben wäre), reduziert dieses Verständnis die Revolution tatsächlich auf einen Austausch der Machteliten, die es dann schon richten werden, statt eine Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse voranzutreiben.
In dem von mir erklärten Sinn benutzt, drängt der Begriff „Antikapitalismus“ keineswex Unterdrückungsverhältnisse in den Hintergrund. Vielmehr wird in diesem Sinne erst aus der Einheit aller Kämpfe um Befreiung eine revolutionäre Bewegung.


Späterer Zusatz:
Ich habe den Eindruck, daß ich micht klar genug ausgedrückt habe. Deshalb hier noch ein Versuch:
Kapitalismus ist die jetzige (mittlerweile) globale Gesellschaftsordung. Unterdrückung aller Art ist darin enthalten, aber das ist nicht alles.
Kapitalismus beinhaltet: (unvollständige Aufzählung)
  • 1 Planet "Erde"
  • BSE
  • 5 bis 7 Kontinente (je nach Zählweise)
  • Versiffte Klos
  • Rassimus
  • Himbeereis
  • Kühlschränke
  • Urlaub
  • Programmzeitschriften
  • Sonne, Mond und Sterne
  • ca. 200 Staaten
  • Bullen und Steine
  • Argentinische Rindersteaks
  • Texte wie diesen
  • andere Texte
  • ca. 6 Mrd. Menschen
  • usw.usf.
Entgegnungen/Ergänzungen
Nach meiner Auffassung ist Kapitalismus die Bezeichnung für dasGesellschaftsystem, in dem die Menschheit etwa seit Beginn der Neuzeitlebt. In diesem Gesellschaftsystem sind z.B. Ausbeutung, Rassismus,Sexismus und andere Unterdrückungsmechanismen enthalten. Das mag zunäxtnur wie eine andere Terminologie (Wortwahl) erscheinen, tatsächlichverbirgt sich dahinter aber mehr.
Laß uns mal kurz vor dieser Neuzeit anfangen. Hier siehst du dann ein Gesellschaftssystem, in dem es den KApitalisus noch nicht gibt, aber z.B. das PAtriarchat. Nun fangen die LEute an, KApitlaistisch zu wirtschaten. Das Patriarchat prägt dieses Wirtschaften mit. Der Kapitalismus beginnt, viele andere Lebensbereiche mitzuprägen. Verschiedene Widersprüche wechselwirken miteinander und verstärken sich teilweise gegenseitig.
Nun versteh ich aber nicht mehr, warum du meinst (wenn ich dich richtig interpretiere), das der Kapitalismusbegriff alleine, dieses Gesellschaftssystem beschreibt. Es ist doch so, das Kapitalismus zwar andere Widersprüche mit prägt, diese aber auch ohne ihn weiterexistieren würden. Wenn andere Widersprüche in dem Kapitalismusbegriff eingescchlossen wären, würdest Du das aufkommen des Kapitalismus nicht mit dem Beginn der Neuzeit in Bezug setzen können, da diese Widersprüche ja älter sind.
Ich denke, in einer richtigen Analyse muß beachtet werden, das verschiedene Widersprüche ihre eigene Geschichte haben und sich nicht einfach einschließen. Dann müssen wir weiter sehen, in welcher Form diese miteinander wechselwirken. Das ist aber die Analyse, die ich unter diesen Begriffen wie tripple oppression und unity of oppression kennengelernt habe.

Hi alle, hi Florian, hi j,bn,
misch mich ein: persönlich kann ich weder Florians Argument der triple oppression noch j,bn‘s Vorstellung (daß insbesondere Kapitalismus Unterdrückung ist) ablehnen. Beides schließt sich nicht aus, weil sich schließlich im Kapitalismus der sich bewußt selbstbejahende, brutale EXZESS aller bestehenden Unterdrückungsformen zeigt, unabhängig davon, welche Geschichte diese auch immer haben mögen! Ich möchte stattdessen auf den Aspekt einer selbstbeschönigenden Konstruktion von „Normalität“ hinweisen, welche überhaupt in dem Begriff oppression/Unterdrückung mitschwingt: „Oppression“ hat was Opferhaftes. Als Opfer stehe ich selbst außerhalb der Verantwortung. Doch ohne Oppression, bin ich dann schon aus mir heraus existent? Gibt es mich so ohne weiteres als „natürlichen“, quasi „normalen“ Menschen überhaupt? Wer bin ich? - Gibt es „Mensch“ im allgemeinen, also den unoppressed „Reintypen“? Und aus dem Schaum des Urmeeres heraus wurde er - die gute und reine Mensch im allgemeinen - an den Strand der (bösen Oppression-)Welt geworfen.... ???
Ich behaupte NEIN. Alle bisherige Menschheitsgeschichte ist von Wahnsinn geprägt. Hinter der Opfervorstellung von Oppression/Unterdrückung, also hinter der Vorstellung von der Verderbung des reinen Menschen durch böse äußere Umstände, liegt die Flucht vor der Anerkenntnis des eigenen Wahnsinns. Wir sind nicht die Opfer des Wahnsinns - Mensch bzw. menschliches Bewußtsein ist seit seiner ersten Existenz wahnsinnig gewesen. (Beweis: Wenn MenschIN den Wahnsinn wirklich überwinden würde, würde es Herrschaft, Unterdrückung, Armut, Elend und auch dieses email-Forum nicht geben. Ich hätte viel Vergnügen und wäre überwiegend wohlgestimmt, ohne das als langweilig oder ermüdend zu empfinden!) Daher: Erst eine Debatte, welche den eigenen Wahnsinn, also die Frage nach menschlichem Bewußtsein und seiner Ursprungsgeschichte nicht elegant auszublenden versucht, kann ich mir als politisch wirkmächtig vorstellen.
Gruß, Werner
P.S.: Auch die Kritik des Patriarchats ist beschönigend. Das Matriarchat war nicht weniger wahnsinnig, als das Patriarchat es gerade ist! Die GANZE Bewußtseinsgeschichte der Menschheit bis heute ließe sich durchaus mit dem übergreifenden Begriff der „Epoche des Wahnsinns“ beschreiben! Hinweis auf Erich Neumann: Alles bisherige Bewußtsein ist archetypisch (urbildisch) konstruiert. Erst im Verstehen des Archetyps, seiner wohl intellektuell nachvollziehbaren, aber falschen, weil simplizistisch analogisierenden Konstruktion, liegt der Beginn des potentiell unwahnsinnigen, sich selbst bestimmenden und autonomen Menschen. (Oh verdammt, es hat geklopft! Ob das die Menschen im weißen Kittel sind?)


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