Anarchie

BOLO'BOLO (AUSZÜGE)

pili


1. Der grosse Kater
2. Die drei Grundbestandteile der Maschine
3. Drei Deals in Krise
4. Der A-Deal: enttäuscht vom Konsum
5. Der B-Deal: frustriert vom Sozialismus
6. Der C-Deal: genug von der Entwicklung des Elends
7. Der Bankrott der Realpolitik
8. Die Schattenwirklichkeit
9. Substruktion
10. Dysko
11. Triko ... und: bolo'bolo - Grundrisse für ein Projekt
12. Fahrplan
13. ibu
14. bolo
15. sila
16. taku
17. kana
18. nima
19. kodu
20. yalu
21. sibi
22. pali
23. sufu
24. gano
25. bete
26. nugo
27. pili
28. kene
29. tega
30. fudo
31. sumi
32. asa
33. buni
34. mafa
35. feno
36. sadi
37. fasi
38. yaka
39. Anmerkungen
40. Sechs Jahre bolo'bolo
41. Abfahrt

Jedes bolo ist in einem gewissen Sinn eine "kleine Welt" oder ein "Heim", also ein Ort vertrauter Zeichen. Die Art dieses Zeichen-Heims, der Austausch dieser Zeichen, der Umgang mit ihnen, ist ein wichtiger Teil der kulturellen Eigenart eines bolo. Gefühle, Sinneseindrücke, Ideen, Erfahrungen, Kenntnisse, Ereignisse, Geschichten und Gedichte, Kommunikation, Musik, Pädagogik, Forschung, Medien usw. - all das gehört zu pili.

Kommunikation und Erziehung bilden heute mächtige Monopole des Staates und der Grosskonzerne. Schulen, Universitäten, Gefängnisse und Medienkonzerne sind dazu da, die Kommunikation so zu regulieren, dass die Maschine weiter funktionieren kann. Die bolos brauchen keine solchen Institutionen mehr. Lehren und Lernen wird wieder ein Teil des Lebens selbst. Jeder wird zugleich Lehrling und Lehrer sein. Die jüngeren oder lernenden ibus werden den älteren zuschauen. In den bolo-Werkstätten, Küchen, Laboratorien, Bibliotheken, Landgütern, Apotheken, Ateliers, werden sie das lernen, wofür sie sich interessieren. Die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten wird alle produktiven oder intellektuellen Vorgänge begleiten und "stören". Das bolo-Leben wird ein Gewirr von "didaktischen Digressionen" (lehrhaften "Abschweifungen").

Schulpflicht und Zwangsalphabetismus verschwinden. Je nach kultureller Eigenart können bolos Lernkabinette einrichten, wo ibus, die gerne unterrichten, Schreiben, Lesen und Rechnen lernen. (Ein bolo ist gerade gross genug, dass einige Schülergruppen gebildet werden können.) Es kann auch sein, dass ein bolo besondere pädagogische Leidenschaften entwickelt hat und daher Schüler von andern bolos dorthin gehen, um bestimmte Fächer zu studieren (im Rahmen von Tauschabkommen oder "gratis"). Vielleicht gibt es sogar Quartiere oder Städte, wo die Übereinstimmung so gross ist, dass eigene Schulen eingerichtet werden können. Doch wird all das völlig freiwillig sein und von Ort zu Ort verschieden. Es wird keine offiziellen Lehrpläne geben, kein hierarchisch gegliedertes Schulsystem, keine Selektion, keine Noten, Dipolome, Titel usw.

Auch spezialisierte Unternehmungen wie Eisenbahnen, Industriebetriebe, Spitäler, Bergwerke, Luftlinien usw. werden "Lehrlinge" ausbilden. Jeder Ingenieur, Arzt, Pilot, Handwerker, Philosoph, wird mit Lehrlingen zu tun haben und sie persönlich betreuen. Daneben unterhalten solche Unternehmungen vielleicht auch spezielle Kurse oder schicken Lehrlinge zu "Meistern" in andern Regionen. Das Wissen kann frei zirkulieren und keine formellen Barrieren werden es behindern. Jeder kann sich "Doktor" oder "Professor" nennen, wenn ihm danach zumute ist. "Fakultäten" oder Fächer können je nach Bedürfnis entstehen. Alle Arten wissenschaftlicher oder "magischer" Traditionen können nebeneinander bestehen.

Um den Austausch von Kenntnissen und Fähigkeiten zu erleichtern, können Nachbarschaften oder Städte auch Akademien auf Gegenseitigkeit (nima' sadi) einrichten. Jedes ibu kann dort Kurse oder Lektionen anbieten und dafür andere belegen. Als Räume können dafür ehemalige Schulhäuser, Fabriken, Warenhäuser, Lagerhäuser, benützt werden, die mit Kreuzgängen, Wandelhallen usw. versehen werden. Kinos, Cafes, Foyers, Galerien, Volieren und Glashäuser, Theater, könnten mit solchen Akademien kombiniert werden und sie zusammen mit dem Markt (sadi) zu Zentren von Quartieren oder Städten machen.

Da die bolos den ibus die meisten Alltagssorgen abnehmen und ihnen viel freie Zeit lassen, können sie sich unbeschwert mit wissenschaftlicher, magischer, praktischer oder spielerischer Vermittlung von Wissen befassen. Die Entdeckung und Entfaltung persönlicher Fähigkeiten wird wohl zur wichtigsten Tätigkeit der ibus überhaupt werden. Die zentralistisch-bürokratische, formalistische Wissenschaft wird überflüssig werden, weil auch die meisten zentralistischen, hochenergetischen (und daher "gefährlichen") Systeme verschwinden. Deswegen bricht aber noch lange kein neues "dunkles Zeitalter" an, im Gegenteil. Es wird mehr Zeit und Möglichkeiten für Forschung und eigene Information geben, weniger "geheimes" Wissen, keine Trennung von Wissenschaft und (verantwortungsloser) Anwendung. Die ibus werden zum vorneherein Techniken bevorzugen, die sie selbst beherrschen können und sich nicht von Spezialisten abhängig machen. Es ist besser, die Abhängigkeit von grossen Informationssystemen zu verhindern, statt immer mehr Energien in die Bewältigung nutzloser Informationsmengen zu stecken. Wissen ist manchmal nichts "Gutes an und für sich", sondern nur akkumulierte Dummheit.

Gewisse bolos oder Akademien werden wegen der Kenntnisse, die man dort erwerben kann, berühmt werden und von ibus von überall her aufgesucht werden. Meister, Gurus, Weise, Hexen, Erfinder und Lehrer von weltweitem Ruf werden Schüler und Adeptenum sich scharen. Schulen, Sekten, Geheimgesellschaften, Zünfte, planetare Netze aller Art, werden sich entwickeln. Gelehrte Debatten, Schismen, Polemiken, Exkommunikationen, Ausschlüsse, Duelle, werden stattfinden. Das allgemeine Gastrecht (sila) wird diesen "wissenschaftlichen" Tourismus und Austausch fördern, mehr als es heute Stipendien vermögen. Die Universität wird universal.

Auch die Medien werden eine andere Bedeutung bekommen. Statt Austausch, Kontakt, wechselseitige Verständigung haben wir heute nur eine funktionale, von Zentren ausgehende Kommunikation und Information. Diese Zentren (Fernsehen, Radio, Zeitungsverlage usw.) bestimmen, was wir wissen müssen, um uns systemgerecht verhalten zu können. Da es kaum "horizontalen" Nachrichtenaustausch gibt, ist zentrale Information notwendig, um ein auf Spezialisierung und Isolation aufgebautes System am Zusammenbrechen zu hindern. Weil niemand mehr Zeit hat, sich darum zu kümmern, was um ihn herum vor sich geht, entsteht eine ganze Flut von Nachrichten. Man erfährt aus dem Radio, dass um die Ecke jemand umgebracht wurde. Statt von weitgereisten Besuchern Neues aus aller Welt zu vernehmen oder selber herumreisen zu können, müssen wir uns das wirkliche Erleben durch zentralisierte Medien simulieren lassen. Je weniger Zeit für wirkliches Wissen zur Verfügung steht, desto mehr "Information" brauchen wir. Die Medien werden so sehr zu einer Ersatz-Welt, dass wir unfähig werden, die erste Welt überhaupt noch wahrzunehmen.

bolo'bolo verringert durch seine intensiven inneren Wechselwirkungen und Austauschverhältnisse die Menge nicht erlebter Ereignisse und damit auch das Bedürfnis nach Information. Lokale Neuigkeiten müssen nicht durch Zeitungen oder übers Radio verbreitet werden, weil die ibus genug Zeit haben, sie selbst mündlich auszutauschen. Plaudern und Klatschen an Strassenecken, auf Märkten usw. ersetzen Lokalzeitungen. Auch die Art der Neuigkeiten verändert sich: es gibt nichts mehr über Politiker (Spiegel adee!), Staatsaktionen, Kriege, Bestechungsskandale, also zentralistische Ereignisse zu berichten, ganz einfach, weil sie nicht mehr stattfinden. Es "passiert" nicht mehr viel, d.h. das tägliche Spektakel verlagert sich von der abstrakten Medienwelt in die bolo-Küche.

Das erste Opfer dieser neuen Verhältnisse wird die Massenpresse. Nicht nur erlaubt dieses Medium wenig Zwei-Weg-Austausch (Leserbriefe als Alibi), es bedingt auch eine grosse Papier-, Wasser- und Energieverschwendung. Papierene Information wird sich auf unregelmässige Bulletins, Veröffentlichung von Kommissions-Verhandlungen und Zeitschriften aller Art beschränken.

Die Massenbücherproduktion wird stark reduziert werden können. Es werden viel weniger Bücher benötigt, weil die bolos eigene Bibliotheken einrichten können. Dazu braucht es etwa 100 mal weniger Bücher als mit der heutigen Kleinhaushaltverteilung. Das braucht weniger Bücher, bringt aber dem einzelnen ibu zugleich Zugang zu einer grösseren Vielfalt. Technisch-wissenschaftliche Bücher können in Datenbanken gespeichert werden und am Bildschirm abgelesen werden. Dadurch wird das Buch als solches wieder aufgewertet. Es wird wieder ein kostbares, solid gebundenes, gepflegtes Luxusobjekt wie etwa im Mittelalter. Es wird als Buch geschätzt und nicht einfach als Informationsquelle benutzt und weggeworfen (wie heute Taschenbücher). In gewissen bolos werden in Schreibstuben sogar kunstvoll illumierte Handschriften hergestellt - zum Tausch auf den Märkten oder als Erinnerungsgeschenke zur Besiegelung wichtiger Abkommen.

Da die bolos eine grosse Selbständigkeit besitzen und auch gemeinsame Aktivitäten im Quartier und in der Region von ihnen direkt mitbestimmt werden, bekommen elektronische Medien eine andere Bedeutung. Zum einen sind sie nicht mehr so wichtig und man kann ganz gut auf sie verzichten, da viele andere kulturelle "Kanäle" offen sind (die bolos sind selber eine permanente "show"). Schnelle Information ist nur in Notfällen erforderlich und im übrigen kann man selber hingehen, wenn einen etwas interessiert. Radio, Fernsehen, Computer-Dateien, bilden Hobbies einiger bolos, die darin ihre Eigenart verwirklichen. Daneben gibt es vielleicht an einigen Orten lokale Kabelfernsehnetze, Radios, Videotheken, die von Quartieren oder Städten betrieben werden. Im Unterschied zu heute werden die direkt Beteiligten die Möglichkeit haben, solche Projekte selber zu kontrollieren, sodass die Gefahr zentralistischer Manipulationen vermieden werden kann. Kein Medium wird eine "zentrale" Position beanspruchen können und es kann auch keinen Platz dafür geben.

Das gilt auch für den Einsatz von Computern. Sie werden nicht als technische Prothesen für mangelnde Kommunikation dienen, sondern entweder spezielle Hobbies sein oder Zusatzfunktionen übernehmen. bolo'bolo ist kein Computersystem und auch nicht von Computern abhängig. Jedes bolo entwickelt seine Tauschbeziehungen allmählich auf Grund persönlicher oder kultureller Vorlieben und riskiert so nicht, die Übersicht über seine Verpflichtungen oder Ansprüche zu verlieren. Gewohnheit, Listen, Karteien, genügen notfalls, um Lieferungen zu organisieren. Selbstverständlich ist es möglich, zu solchen Zwecken das reichlich herumliegende elektronische Material zu verwenden. Es gäbe heute schon für jedes der zehn Millionen bolos auf diesem Planeten einen Terminal. Und da Banken, Grossfirmen, Versicherungen usw. keine Computer mehr brauchen, würden theoretisch grosse Kapazitäten frei. Doch Okonomie steht bei den bolos nicht im Vordergrund und es wäre absurd, sich all diese Mühe mit Programmen, Anschlüssen usw. zu geben, wenn man auch ohne gut durchs Leben kommt. In Kombination mit dem Telephonnetz (das ganz nützlich wäre) wären Computernetzwerke zur Verbesserung des Güteraustauschs, zur Abstimmung der Produktion ("Planung", "Optimierung", Prognosen) und zum Abruf von Daten vorstellbar. Da jedoch kaum alle bolos mitmachen würden und andere nur teilweise, wäre ein solches System immer unvollständig und könnte es auch nie verbindlichen Charakter haben. Die bolos sind von ihrem Wesen her einfach zu wenig von der Elektronik abhängig, um ein Interesse an einem solchen Netz zu haben. Für einige bolos könnte die Elektronik aber sicher zusätzlichen Reichtum bedeuten, z.B. für Tüftler, Spieler, Mathematiker und Logiker. Ein allgemein zugänglicher Informationspool - organisiert von solchen bolos - könnte verschiedene Menus bereithalten, aus denen man erfahren könnte, wo welche Produkte, Kenntnisse oder Fertigkeiten gerade verfügbar sind. An zentralistischer Verwaltung, für die heute Computer am meisten eingesetzt werden, würde aber so wenig anfallen, dass es kaum mehr die Mühe lohnen würde.

Wie andere Technologien würde auch die Informatik lokalen, bestenfalls regionalen Charakter haben und mehr von kulturellen als ökonomischen Faktoren bestimmt sein. Eine Abhängigkeit von einer solchen Technologie wäre daher unmöglich und sie selbst würde in engen Grenzen bleiben und nicht das Herzstück irgendeiner "Entwicklung" bilden. Hingegen wäre der Aufbau eines planetaren Telephonnetzes als Notkommunikationssystem (eventuell mit Funkanlagen und Satelliten) sinnvoll. Jedes bolo sollte mindestens einen (aber nicht 500!) Anschluss besitzen. Das würde bedeuten, dass jedes ibu mit iedem andern jederzeit reden kann, wenn es dringend ist. Für diese 10 Millionen Anschlüsse (auch da machen ein paar Millionen sicher nicht mit) gibt es heute schon genug Material - es müsste nur richtig verteilt und eingesetzt werden. Das Telephon ist energetisch billig und könnte so doch helfen, Transportarbeit zu sparen. Es könnte ein Kommunikationssicherheitsnetz bilden für Katastrophen, Mangelsituationen, Seuchen, Unfälle. Doch das "elektronische Weltdorf" erscheint an keinem Horizont...


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