Campact

GRATISÖKONOMIE & UMSONST-EVENTHOPPING

Aktionismus, Nische oder radikale Gesellschaftsveränderung?

Auf dem anarchistischen Sommercamp 04 in Kesselberg bei Berlin gab es einen Workshop zu Gratisökonomie. Dort ging es unter anderem um die Frage, wie Gratisökonomie ein perspektivischer Entwurf werden könnte. Dazu gehörte auch eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Ansätzen und Projekten, die ich im folgenden aufarbeiten möchte.

Selbstorganisation als Nische?
Selbstorganisation im Alltag meint den schrittweisen Abbau gesellschaftlicher Zwänge. Die Formen können nur grob umrissen werden: Eigenproduktion, vielfältige Formen der Aneignung (Containern von Resten vom Zwischenhandel, Klauen, Besetzungen, Recycling usw.), Schnorren, Gemeinschaftseigentum und vieles mehr. Die strategische Kombination all dieser und anderer Ansätze schafft optimale Voraussetzungen, um Zeit für ein schönes Leben und den Einsatz für eine andere Welt freizusetzen.

Aber es gibt auch einige Gefahren bzw. Probleme, die sich nicht von selbst lösen: Wer Selbstorganisation nur als persönliches Projekt begreift, macht Aneignung zur individuellen Nische im Kapitalismus, ohne z.B. die Logik von Eigentum aufzuheben. Auch das ist ein Privileg besonders gut organisierter, flexibler Individuen. Zudem bleiben die Rahmenbedingen dieser Gesellschaft unangetastet: Mensch verhält sich weiter in Konkurrenz zu anderen ... auch wenn nicht um Jobs, sondern um Inhalte von Containern, Reste-Quellen usw. gerungen wird. Kooperation und Offenheit müssen offensiv hergestellt werden, wenn gesellschaftliche Ausschlussmechanismen zurück gedrängt werden. „Alles für alle“ ist eine leere Parole, wenn die Ergebnisse von Klau-Sessions und anderen Aneignungsprozessen wieder nur Wenigen zugänglich sind. Eine politische Perspektive entsteht erst dort, wo Eigentum nicht nur umverteilt, sondern schrittweise „liquidiert“ bzw. geöffnet wird.

  • Gratisökonomie, Plattformen und Schnittstellen: Der persönlichen Aneignung steht die offensive Gratisökonomie gegenüber, die vielen den Zugriff auf Ressourcen, Nahrung usw. ermöglicht ... von Gemeinschaftsbibliotheken bis hin zu Projektwerkstätten (Orte mit offen zugänglicher Infrastruktur aller Art). Wichtig ist, diese Ansätze zu verbinden und soziale Orte zu schaffen, wo interessierte Leute den Einstieg in Selbstorganisation finden können ohne „ideologische Eintrittkarten“ oder Szeneschranken. Als postives Beispiel wurden z.B. Umsonstläden genannt, die eine Schnittstelle für viele andere Projekte (Fahrradwerkstätten, Unterstützung bei Behördengängen usw.) darstellen könnten. Zudem können all diese Orte selber Reibungsfläche mit der marktförmigen Normalität darstellen, wenn Aktionen damit verknüpft werden.
  • Kooperativen und Netzwerke gegenseitiger Hilfe: Wo AnwohnerInnen, Container-Gruppen, Food Coops usw. Netzwerke gegenseitiger Hilfe bilden, erweitern sich schnell die Handlungsmöglichkeiten aller Beteiligten. Wer beim Containern nicht so erfolgreich war, geht trotzdem nicht leer aus. Im Idealfall wird der Austausch von Dingen und Fähigkeiten nicht mehr verrechnet, um Reichtumsgefällen die Grundlage zu entziehen. So entsteht ein guter Ausgangspunkt für kooperative Verhältnisse.
  • Soziale Gruppe als Basis: Soziale Gruppe bezeichnet Zusammenhänge von Menschen, die das gemeinsame Projekt verfolgen, sich im Alltag selbst zu organisieren und dabei Reichtumsgefälle und Dominanzverhältnisse aller Art aktiv zurück zu drängen. Dazu kann gehören, den Umgang mit Kindern zur Verantwortlichkeit aller zu machen, um biologische Eltern zu entlasten usw.

Kritik an Umsonst-Kampagnenpolitik
Umsonstaktionen sind trendy ... coole Linke gründen Umsonstkampagnen und legen großen Wert auf die Verbreitung ihres „Markennamens“. Nach der Schule, Uni bzw. dem Job mal kurz ein wenig ausbrechen, das sonstige Leben bleibt in den Bahnen von Ausbildung, Schule, Job und marktförmiger Reproduktion ...

Ok, das war eine Polemik. Denn klar ist: Es gibt nicht die Umsonst-Kampagnen ... die Ausrichtung der Gruppen ist sehr unterschiedlich, weshalb auch die Kritik nicht pauschal sein kann – während manche auf Aktionismus pur setzen, diskutieren andere Gruppen auch Konzepte, den eigenen Alltag zu verändern. Einige Tendenzen und Gefahren möchte ich aber schon benennen. Dabei bezieht sich die Kritik auch weniger auf die Aktionen selbst - viele der Umsonst-Aktionen wie öffentliches Schwarzfahren, Gratis-Baden oder –Konzertbesuche bis hin zu Ladenplünderungen mit anschließender Verteilung (beim diesjährigen BUKO in Kassel) sind ausgesprochen gut. Fatal finde ich die kurzlebige Kampagnenpolitik, die sich auf symbolische, medienwirksame Aktionen beschränkt, ohne überhaupt „Alternativen im Alltag“ aufbauen zu wollen. Wo sich alles auf konsumierbare Events orientiert, wo „Umsonst“ ein purer Hype ist, wird Frust kanalisiert – während der ansonsten marktförmige und fremdbestimmte Alltag unangetastet bleibt. Aktion wird zum Ersatz für den Aufbau von Freiräumen usw.

Auffällig ist auch, dass „Vernetzung“ zwar eine beliebte Floskel ist, aber mit der tatsächlichen Praxis nichts zu tun hat. So gibt es in Berlin kaum Austausch zwischen Umsonst-AktivistInnen und Projekten, die mit Gratisökonomie experimentieren. Die übliche Selbstbezogenheit und Label-Orientierung linker Gruppen steht hier einem Prozess entgegen, der aus mehr als virtueller Bezugnahme besteht. All das ist keine Kritik an direkten Aktionen – diese sind ein wichtiger Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit für eine Welt ohne Markt und Staat. Wichtig ist aber, Aktionen nicht als Einzelakt zu begreifen, sondern selbst in perspektivische Projekte einzubinden. Umgekehrt können Umsonstläden und andere Freiräume mehr als eine Nische sein, wenn diese mit offensiven Aktionen kombiniert werden, z.B. der Aufbau von Gratis-Zonen mit Essen, Umsonstladen usw. in Innenstädtenm oder Einkaufszentren, öffentlich angekündigte Klau-Workshops usw.

Die Mischung macht’s
Ob kampagnenförmiger Aktionismus oder Umsonstladen als Nische – isoliert bringt beides wenig. Spannend ist die Verschränkung verschiedener Handlungsebenen: Selbstorganisierung im Alltag, der Aufbau von Netzwerken gegenseitiger Hilfe, Schnittstellen und kreativer Widerstand entfalten zusammen die beste Wirkung. Ziel ist die schrittweise Befreiung von Zwängen, der Aufbau kooperativer Strukturen und die ständige Ausweitung von Debatten und praktischen Experimenten mit Gratisökonomie. Dazu gehört eine selbstkritische Haltung und der aktive Wille, Konkurrenz und Nischenbildung kontinuierlich entgegen zu treten. Und das wird ganz schön anstrengend – aber die Vision einer Welt ohne Eigentum, Markt und Staat sowie die ersten Erfahrungen gelebter Gratisökonomie sind hoffentlich ein starker Anreiz!

Espi Twelve

  • Für den Arbeitskreis auf dem A-Camp gab es ein kleines Schaubild zu den Ebenen einer offensiv-politischen Gratisökonomie, downloadbar als .pdf

Containern als Geschäft?
Raphael Fellmer im Interview mit Vice am 28.5.2017
Insgesamt 27.000 Foodsaver haben 9 Millionen Kilo Lebensmittel gerettet. Das ist großartig, aber ich habe auch gemerkt, dass ehrenamtliche ehrenamtliches Engagement seine Grenzen hat. Deswegen retten wir jetzt mit einem skalierbaren Geschäftsmodell noch mehr Lebensmittel. ... Wir haben letzten Oktober angefangen, den digitalen Marktplatz für überschüssige Lebensmittel zu entwickeln. Die Idee stammt von meinem Mitgründer Alexander Piutti, der schon andere Marktplätze entwickelt hat. ... Wir brauchen mehr Aufklärung und Aufmerksamkeit. Wir wollen Lebensmittelretten mainstream machen. So wie Bio- und Fairtrade-Produkte, die gab es vorher auch nur in Reformhäusern, jetzt sind sie bei Aldi angekommen. Wir leben in einer sehr bequemen Gesellschaft, Zeit ist wichtig, und viele wollen trotzdem gern die Welt retten. Das machen wir bald mit SirPlus möglich. ... Manche aus der Foodsharing-Bewegung sind der Meinung, gerettete Lebensmittel müssten immer kostenlos sein. Aber ansonsten sehen die meisten den Wandel vom geldfreien Retten zum Sozialunternehmen sehr positiv.

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