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REVOLUTION ODER REFORM? VOM SELTSAMEN GEGENSATZ ZWEIER OFT DUMMER KONZEPTE

Von Quantitäten und Qualitäten


1. Von Quantitäten und Qualitäten
2. Radikalität?
3. Fragend voran ...
4. Ein Update für die Anarchie bitte ...
5. Links

Ein Text im Buch "Anarchie. Träume, Kampf und Krampf im deutschen Anarchismus" (Gliederung)

Steigen wir aber mal in die konkreten Strategien und großen Fragestellungen anarchistischen Wirkens ein. Eine Reihenfolge wichtiger und weniger wichtiger Themen zu finden, fällt ebenso schwer wie überhaupt eine vollständige Liste zu erstellen, was AnarchistInnen bewegt, worüber sie sich intern oder zwischen den verschiedenen Strömungen streiten.

So sei aus der Fülle offener Fragen eine erste herausgegriffen, die sich schon über Jahrzahnte als Streit um den richtigen Weg zur Anarchie hinziehen: Reform oder Revolution? Darüber wird mitunter recht leidenschaftlich gestritten. Es gibt - in anarchistischen Kreisen ebenso wie in anderen gesellschaftskritischen Strömungen - verschiedenste Theorien, die Reformen oder Revolutionen stigmatisieren und diskreditieren sollen. Das sind mitunter recht verknotete Gedankengänge, z.B. der, dass Reformen den Herrschenden oder "dem Kapital" die Chancen zum Lernen bieten, also Herrschaftsverhältnisse nur zu festigen vermögen. Wie aber der große Umwurf möglich sein soll, steht meist in den Sternen.

Aufgrund der in anarchistischen Kreisen verbreiteten Theorieferne ist eher der Blick ins größere und theorieorientiertere, oft aber praxislos marxistische "Lager" (tatsächlich ein bunter Haufen verschiedener, oft verfeindeter Strömungen) unterhaltsam. Von Marxlesungen bis zum ewigen Traum einer echten ArbeiterInnenpartei reichen die Strategien, den Umsturz zur Diktatur des Proletariats herbeiführen zu können.
AnarchistInnen sind hier eher PragmatikerInnen - auch aus blanker Unlust an theoretischer Reflexion. Für viele ist ohnehin das Lebensgefühl entscheidend, d.h. der kulturelle Code. Hier ist das Revolutionäre attraktiver - ReformerInnen machen sich auf dem T-Shirt einfach nicht so cool. Und zur Selbstinszenierung als coole Person, vielleicht noch mit speziellen Interessen innerhalb unausgesprochener Gruppenhierarchien oder am gleichen bzw. anderen Geschlecht wäre ein "Hoch die Tobin Tax!" auch nicht so der Hit. So prangen Che Guevara und - ach Mist, viel mehr kennen wir eigentlich nicht - von den Oberkörpern inzwischen recht vieler politischer Strömungen. Wer das eigentlich war, was er wollte, welche Rolle er im Guerillakampf und dort spielte, wo er an der Macht war - das frage mensch lieber nicht nach. Meist ist das unbekannt, weshalb die Ikone ja auch Anarch@s, Nazis, Neoliberalen und manch frustriertem/r Bürgerlicher/m als Projektionsfläche dient.
Die Sehnsucht nach der Revolution, ob nun gespeist vom Willen nach grundlegender Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit oder allen knechtenden Verhältnissen, als Kompensation der Tristheit des eigenen Lebensalltages oder zwecks Posieren in der eigenen sozialen Gruppe gezeigt, müsste eigentlich ein Interesse an Utopien oder zumindest an Fragen von Herrschaft, ihren Formen und Möglichkeiten der Überwindung hervorrufen. Das aber geschieht selten, was einerseits zeigt, dass das Revolutionäre tatsächlich eher ein kultureller Code ist, andererseits so der Graben zwischen Reform und Revolution bleibt, obwohl er eigentlich sehr schnell überbrückt werden könnte. Denn wer sich ein (hoffentlich immer weiterentwickelndes) Bild einer anderen Gesellschaft schafft und dort hin strebt, wird feststellen, dass auf dem Weg dahin eine Menge auch kleinerer Schritte hilfreich sind. Schritte, die mensch als Reform bezeichnen würde, aber die zur Revolution führen können und sollen, wenn sie die größere Utopie als Richtung berücksichtigen.

Umgekehrt sind auch die meisten VerfechterInnen von Reformen weit entfernt davon, Reform und Revolution in Einklang zu bringen, d.h. die Reform als Schritt zur weitergehenden Befreiung zu sehen. Stattdessen frickeln sie mit losgelösten Minivorschlägen herum und stärken damit oft bestehende Machtverhältnisse, tragen also nicht zur Befreiung, sondern zur autoritären Zuspitzung bei. Gedanklich nachvollziehbar ist das schon, wenn angesichts der oft spürbaren Ohnmacht in politischen Kämpfen der leise Wunsch entsteht, die hegemonialen Strukturen dieser Gesellschaft wie Staat, Marktmechanismen oder Kapital mögen doch mal im Dienste der eigenen Sache wirken, also zum Klimaschutz, zur Sicherung von Naturgebieten, gegen Nazis oder prügelnde Ehemänner. Falsch aber bleibt es, aus emanzipatorischer Richtung betrachtet, trotzdem. Denn mehr Gesetze, härteres Polizeieingreifen oder Verschärfung von Versammlungsgesetzen sind immer ein Rückschritt im Ganzen - mögen sie auch ein Detailproblem (scheinbar) lösen helfen.
Eine Reform ist dann auch aus emanzipatorischer Sicht akzeptabel, wenn sie Befreiung schafft. Das geschieht zwar, der Logik von Reformen folgend, nur im Kleinen. Aber jede Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten, jedes Zurückdrängen von Zwängen, jede Stärkung von Selbstorganisierung und gleichberechtigtem Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen sowie jede Schaffung neuer Freiräume zur Selbstentfaltung sind es wert.
In anarchistischen Strömungen sind solche Überlegungen überwiegend ohne Bedeutung, da konkrete Reformvorschläge von ihnen nur selten kommen. In der konkreten Alltagsauseinandersetzung kann das eher passieren. So überrascht immer wieder die Forderung nach harten Polizeieinsätzen oder sogar Strafen für Nazis. Hier gilt: Wer wenig theoretischen Background hat, ist anfällig für Populismen - udn fordert als AnarchistIn gleichzeitig mehr Staat.
Ein Doppelleben führen viele Menschen aus gewaltfreien Gruppen, die einerseits dem Softanarchismus der Graswurzelrevolution und des zivilen Ungehorsams anhängen, gleichzeitig aber fast alles gut finden, was Besserung verspricht und nett aufgebereitet wird. Hier zeigt sich ein bürgerliches Gutmenschentum, dem eine scharfsinnige Gesellschaftsanalyse völlig abgeht. Viele demonstrieren aus einem wohligen, mitunter zusätzlich christlich gefärbten Glauben an das Gute aller gut gemeinten Vorschläge gleichzeitig gegen Überwachung und unterschreiben z.B. bei Attac für die Schaffung neuer Überwachungsbehörden für alle Kontobewegungen.
Im Übrigen können auch ReformistInnen, also die überzeugten AnhängerInnen der Idee, dass kleine Schritte wichtiger sind, kulturelle Gründe für ihre Ausrichtung haben. In den Zirkeln, in denen sie verkehren, ist mehr der schlaue Detailvorschlag beliebt - in politischen Kreisen sogar oftmals bis hin zu Maßnahmen, die nicht bringen bzw. niemanden stören, aber schön wirken. Solche Placebos suggerieren politische Handlungskraft, ohne real viel zu verändern. Das gefällt den NutznießerInnen der herrschaftsförmigen oder neoliberalen Verwandlungen in der Gesellschaft. Zumindest im deutschsprachigen Raum repräsentieren "linke" Parteien, NGOs und andere politisch-oppositionelle Gruppen eher Teile der Gesellschaft, die sich noch gut halten können im Kampf um die Futtertröge der Lohnarbeit. Die Tobin Tax von Attac, eine völlig wirkungslose, aber wegen ihrer häufigen Nennung im Kontext der Antiglobalisierungskämpfe um die Jahrtausendwende mit revolutionärem Pathos aufgeladene Steuer ist ein typisches Beispiel für solche Reformen. Vorschläge zu machen, die "machbar" sind (also nichts über das Detail hinaus verändern) und die seriös wirken (also dem Denkschema der Herrschenden entsprechen), fördern die eigenen Möglichkeiten in den gehobenen Sphären dieser Welt. Wer solches vorbringt, kann damit punkten in den passenden kulturellen Kreisen, an den Tischen der Mächtigen und Reichen - so wie der/die Anarch@ mit dem Che-Guevara-Kopf auf der Brust in den jeweiligen Kreisen.

Damit zeigen sich interessante Parallelen zwischen den Lagern der RevoluzzerInnen und der ReformanhängerInnen finden: Beide wollen mit ihren Vorschlägen soziale Anerkennung finden und beiden fehlt in der Regel eine brauchbare theoretische Grundlage. Ihre Trennung voneinander ist künstlich. Wer gesellschaftliche Utopien entwickelt und bestehende Herrschaftsverhältnisse analysiert, merkt schnell, dass sich Reform und Revolution nicht ausschließen, sondern gerade in der Verbindung die Chance besteht - nämlich dass die einzelnen Schritte einer Richtung bedürfen, die Befreiung schafft.


Es bedarf eines veränderten Verständnisses von Revolution und Reform, wenn diese emanzipatorischen Zielen folgen sollen. Es kommt auf deren Qualität an, auf den tatsächlich befreienden Charakter. Die Kunst gesellschaftlicher Intervention ist es, neben den konkret verfolgten Zielen (Castor stoppen, offene Grenzen, Knäste abreißen, Alltagssexismus verhindern usw.) das Leitbild der Befreiung vor Augen zu haben und solche Lösungen anzustreben, die die heutigen Verhältnisse dieser Utopie annähern. Also konkret: In und mit jedem politischen Vorschlag muss die Machtfrage gestellt werden - und zwar nicht in dem Sinne: Wer hat die Macht? Sondern: Wie lassen sich die Steuerungspotentiale aus Firmen, Parlamenten und anderen Elitesphären herauszerren und verlagern dort hin, wo das Leben der Menschen spielt.

Im Original: @-Label
Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau
Die Hauptforderung vieler revolutionärer Anarchisten, nämlich die sofortige Zerschlagung des Staatsapparates, ist in den heutigen westlichen und östlichen Industriegesellschaften nicht realisierbar und - wie ich meine - auch nicht anzustreben. Denn solange sich keine freiheitlichen Strukturen entfaltet haben, die die bestehende herrschaftlichstaatliche Organisation der Gesellschaft zu ersetzen vermögen, würden Umstürze - die großen historischen Revolutionen zeigen das - mit großer Wahrscheinlichkeit auf nichts anderes hinauslaufen als auf einen Wechsel der Machthaber. Der Staat übernimmt in der bestehenden Gesellschaft wichtige Funktionen und ist nicht einfach abzuschaffen.
Das heißt jedoch nicht, daß nicht auch ohne die vorherige Herausbildung herrschaftsfreier (oder -armer) Gesellschaftsstrukturen nicht auf zahlreiche staatliche Maßnahmen und Gesetze verzichtet werden könnte. Libertäre Perspektiven stehen dem Weg in den totalitären "Sicherheitsstaat" mit einer umfassenden Kontrolle und Überwachung des Bürgers ebenso entgegen wie einem staatlichen Schul- und Bildungssystem, das zur Konformität erzieht. Nicht der "gläserne Mensch" kann Inhalt einer libertären Perspektive sein, sondern "gläserne Verwaltung" und "gläserne Institutionen"; nicht die Sicherheit des Staates vor dem kritischen Bürger, sondern die Sicherheit des Menschen vor staatlichen Zugriffen, nicht die Kontrolle der Menschen durch den Staat, sondern die Entstaatlichung und Vergesellschaftung des Staates, seiner Bürokratien und sozialen Institutionen sowie der Betriebe und Industrieunternehmen durch die jeweils betroffenen Menschen.
"Weniger Staat" bedeutet im Hinblick auf die Perspektive einer Entstaatlichung der Gesellschaft also zunächst die Zurückdrängung staatlicher Eingriffe, Kontrollen und Reglementierungen, nicht zuletzt aber auch den vollständigen Verzicht des Staates auf die Durchsetzung einer bestimmten Gesinnung, der Verzicht auf "geistige Führung"....
Doch im Rahmen von libertären Perspektiven ist neben diesem Aspekt der Zurückdrängung des staatlich-institutionellen Einflußbereichs zugunsten größerer individuell und kollektiv nutzbarer Freiräume zum Neuaufbau "gesellschaftlicher" Strukturen - also neben dem Postulat "Weniger Staat" - auch die ergänzende Forderung nach "Mehr Gesellschaft" zu stellen, um damit die Vergesellschaftung des Staates anzustreben. ...
(S. 90 f.)

Aus Gordon, Uri (2010): "Hier und jetzt", Nautilus in Hamburg (S. 70 ff.)
Dem entspricht es, dass heute unter Anarchistinnen und Anarchisten kaum noch die Erwartung gehegt wird, eine Revolution der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse werde ein für alle Mal das menschliche Verhalten verändern. Dass die unter grundsätzlich veränderten Bedingungen sich frei entfaltende Anarchie alles hinwegfegt, was Menschen bisher daran hindert, als Gleiche wohlwollend zu kooperieren, dürfte eine fragwürdige Utopie sein. Tatsächlich kann vermutlich nicht ausgeschlossen werden, dass auch unter den günstigsten Bedingungen der Wille zur Macht bestehen bleibt und ein Idealzustand des gesellschaftlichen Lebens nie endgültig erreicht werden kann. Die Einsicht, dass hierarchische und Ausbeutungsmuster immer wieder auftauchen können, und dies selbst in Gesellschaften, die sich dagegen richten, bedeutet, dass für Anarchisten immer etwas zu tun bleibt. Es bedeutet auch eine praktische Infragestellung der Vorstellung von einem Abschluss des revolutionären Projekts nach "geglückter" Revolution.


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