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THEORIE FÜR ANARCHIE. EIN UPDATE

Strategie für die Anarchie


1. (Neue) AnarchistInnen braucht das Land!?
2. Herrschaftsanalyse modernisieren
3. Wissensbasierte Radikalität
4. Emanzipation: Der Mensch im Mittelpunkt
5. Das neue Subjekt: Alle, aber unterschiedlich
6. Strategie für die Anarchie
7. Seiten zur Anarchie auf www.projektwerkstatt.de und anderswo

Zur Theorie muss eine Strategie kommen. Dieser - durch seine militärische Verwendung gerechtfertigt anrüchige Begriff - soll hier die Verknüpfung von Theorie und Praxis bezeichnen: Wie kann der Weg zum Ziel aussehen? Wie entwickeln sich überhaupt Zielaussagen aus den Grundannahmen über den Menschen, die Welt und die Verfasstheit der Gesellschaft mit all ihren Herrschaftsformen? Welche vielen kleinen oder auch großen Schritte verändern die Welt? Und wie wirken Erfahrungen aus der Praxis sowie neue Erkenntnisse aus gesellschaftlicher Analyse und Wissenschaft selbst wieder zurück auf die Theorie, die schließlich nicht starr sein darf, sondern mit allem anderen immer wieder vorangetrieben werden sollte?

Stowasser, Horst (2007): "Anarchie!", Nautilus in Hamburg (S. 493)
Für überzeugte Libertäre bedeutet dies, sofern sie in solchen Prozessen überhaupt noch eine Rolle spielen wollen, zweierlei: Sie dürfen erstens nicht nur auf das Endziel starren, sondern müssen die Krisen der heutigen Herrschaftsform als Strukturprobleme einer verfehlten Verwaltungsphilosophie verstehen. Zweitens dürfen sie nicht auf die automatische Erfüllung solcher Entwicklungsstränge hoffen; sie müssen etwas dafür tun. Das heißt, nach Wegen, Ansätzen und Chancen zu suchen, sich mit besseren Strukturen dort einzubringen, wo die schlechteren Strukturen versagen. Ein Aufspüren von Krisen also, das jedoch nur dann Sinn macht, wenn die Libertären außer Kritik auch Alternativen im Gepäck haben.
Mit einem Wort: Die Libertären müssten lernen, strategisch zu denken.


So unterschiedlich Auffassungen und AkteurInnen sind, so wenig kann es eine einheitliche Strategie geben. Das ist auch nicht nötig, wenn zur Strategie eine intensive Diskussions- und auch Streitkultur gehört. Denn eine solche kann als wichtige Produktivkraft wirken, d.h. sie treibt Theorie- und Strategieentwicklung ebenso voran wie sie neue Ideen und Ansätze für praktische Umsetzungen liefert.

Strategisches Denken ist intensives Nutzen der eigenen Erkenntnismöglichkeiten. Wie ist die Lage? Wo stecken und verstecken sich Herrschaftsformen und Machtgefälle, wo ungleiche Möglichkeiten? Was sind die Ziele? Wie können wir uns diesen Annähern, gibt es große Schritte, Experimente, direkte Interventionschancen? Der Kopf darf ruhig ordentlich brodeln ob der vielen Abwägungen, genauem Hinsehens, Hinterfragens und kreativen Entwerfens, die ein strategisches Vorgehen erfordern. Strategiefindung ist Sache jeder/s Einzelnen, aber genauso in den Runden mehrerer Menschen nicht nur möglich, sondern sinnvoll. Die Qualität steigt hier mit der Streit- und Diskussionskultur, d.h. Gruppen dürfen keine Runden der Selbstbestätigung, sondern der kritischen Auseinandersetzung sein. Wenn mehr zusammenkommen, muss es ein Mehr an Skepsis, Hinterfragen, aber auch an Kreativität geben. Dazu können vorhandene Methoden zur Förderung von kreativer Debatte und Hierarchieabbau genutzt bzw. neue erfunden werden.

Kann es anarchistische Programmatik geben?
Überall in politischen Kreisen werden Forderungskataloge, Parteiprogramme und Ähnliches entworfen. Zwar weicht die Realpolitik fast immer erheblich von diesen programmatischen Selbstfestlegungen ab, und der Verrat ist eher Alltag in Parteien, NGOs, Kirchen oder Interessenverbänden. Aber dennoch scheinen diese Programme einen Beitrag zu einer kollektiven Identität zu haben. Bemerkenswerter als das Programm selbst sind dabei oft die Prozesse, in denen diese formuliert werden. Mitunter entstehen in solchen Phasen sogar interessante Debatten, die zu mehr führen als einen Neuaufguss des Vorherigen, also alten Wein in neuen Schläuchen.

Kann es auch eine anarchistische Programmatik geben? Lohnt der Streit um Zukunftsentwürfe und konkrete Forderungen? Ja und Nein. Ja, weil es immer sinnvoll ist, um Positionen und Ideen zu streiten. Dafür braucht es ein innovatives Debattenklima und eine anregende Streitkultur. Anarchistische Theorie ist überwiegend deutlich veraltet und braucht die Auffrischung. Herrschaftsfreiheit und Emanzipation sind schließlich keine Rückbesinnung auf frühere Phasen der Geschichte, die zurückgewonnen werden sollen - so wie es manch bürgerliche Oppositionelle mit ihren Forderungen nach Reregulierung der Weltwirtschaft versuchen (nebenbei gesagt: Eine wenig durchdachte Position auf einer bemerkenswert schlecht analysierten politischen Lage einschließlich der Epochen, in die das Rad der Geschichte zurückgedreht werden soll).
Anarchie ist ein Modell der Zukunft. Das funktioniert nicht als nostalgische Rückschau auf 100 Jahre alte Bücher und irgendwelche kurzen Kampfphasen unter anarchistischer Flagge. Darum braucht es die offensive Debatte, das Ringen um Entwürfe - utopische und viele kleine für die heutige Situation.

Gleichzeitig aber muss der Idee einer anarchistisches Programmatik ein klares Nein entgegengestellt werden. Anarchie ist die Abwesenheit von Sicherheiten, denn diese sind immer nur sozial konstruierte Scheinklarheiten, die Menschen für konkrete Arten des Lebens bereit und breitklopfen sollen. Anarchie ist dynamisch und immer eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Das gilt bereits für die Debatte und das Entwerfen von Zukünften und Vorschlägen. Es wird dieser viele geben - und das wäre kein Nach-, sondern ein Vorteil, wenn es gelingt, eine vorwärtstreibende Debatten- und Streitkultur zu entwickeln. Noch besser wäre es, wenn anarchistische Debatten in andere gesellschaftliche Auseinandersetzungen und auch in wissenschaftliche Kreise hineinstrahlen könnten, damit neues Wissen einbezogen werden kann in die Überlegungen, wie Befreiung und Selbstorganisierung vorangebracht werden können.

Im Original: Anarchistische Programmatik?
Errico Malatesta: Ein anarchistisches Programm. In: Gesammelte Schriften Band 1, Karin Kramer Verlag, Berlin, 1977
1. Abschaffung des Privateigentums an Boden, an Rohstoffen und Werkzeugen, damit niemand mehr die Mittel habe, von der Ausbeutung fremder Arbeitskraft zu leben und jeder, da er der Mittel zur Produktion und zum Leben sicher ist, wahrhaft unabhängig sei und in der Lage, sich freiwillig mit anderen um eines gemeinsamen Zieles wegen zu vereinigen, und zwar entsprechend seinen ganz persönlichen Sympathien.
2. Abschaffung von Herrschaft und jeder Gewalt, die Gesetze macht und sie den anderen aufzwingt: daher Abschaffung der Monarchien, Republiken, Parlamente, Armeen, Polizeikräfte, Magistraturen und jeder Art von Institutionen, die mit repressiver Gewalt ausgestattet ist.
3. Organisation des sozialen Lebens durch freie Assoziation und Förderationen von Produzenten und Konsumenten, die gemäß den Wünschen ihrer Mitglieder geschaffen und verändert werden, durch Wissenschaft und Erfahrung geleitet werden und frei sind von jeder Art Zwang, der nicht natürlichen Bedürfnissen entspringt, denen sich jeder freiwillig unterwirft, weil ihn ein Gefühl unabdingbar Notwendigkeit überzeugt hat.
4. Die Mittel zum Leben, zur Entfaltung aller Fähigkeiten und zum Wohlsein werden Kindern und all denjenigen, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen, garantiert.
5. Krieg den Religionen und allen anderen Lügen, selbst denen, die sich den Mantel der Wissenschaftlichkeit umwerfen. Fortgeschrittene wissenschaftliche Bildung für alle.
6. Krieg den Rivalitäten und den nationalen Vorurteilen. Abschaffung der Grenzen; Brüderlichkeit zwischen allen Völkern.
7. Regeneration der Familie, wie sie sich aus der Praxis der Liebe ergeben wird, die von jedem gesetzlichen Zwang, jeder ökonomischen Unterdrückung, jedem religiösen Vorurteil befreit ist.


Anarchie als kultureller Impuls
Der Wille zu Selbstorganisierung und Verlassen vorgegebener Bahnen und Rollen ist mehr als eine akademische Übung - und erst recht mehr als eine identitäre Kein-Bock-Negation, die ein paar Monate, seltener Jahre hält, um dann der schleichenden Akzeptanz des offensichtlich Unabwendbaren zu weichen.
Anarchie verspricht eine Welt ohne oder - das wird sich dann erst noch herausstellen, wie weit etwas gehen kann - mit deutlich reduzierten Zwängen, Rollenerwartungen, Zurichtungen und Hierarchien. Der Mensch in seiner Eigenartigkeit rückt in den Mittelpunkt des Geschehens. Das aber wird nur funktionieren, wenn die Menschen die Lücke auch füllen, d.h. die Dominanz der Fremdbestimmung muss einer erwachenden Selbstbestimmung weichen. Sie bedeutet Willensstärke, Aneignung von Fähigkeiten, aktive Kommunikation, Anbahnung von Kooperation und Teilnahme an Debatte bzw. Streit. Zu der heutigen Welt und den Zurichtungen, die Menschen im Laufe ihrer sogenannten Erziehung kassieren, steht das in krassem Gegensatz. Diesen Gegensatz auszuleben, neue Vorschläge in die Gesellschaft zu tragen, sich an dieser zu reiben, Experimente zu starten und den eigenen Willen zu stärken, das Handeln in die Hand zu nehmen, bedeutet bereits heute einen kulturellen Wandel im Kopf: Weg von der Instantgesellschaft, weg von den vorgegebenen und vorgetrampelten Pfaden des Lebens hinein in eine aktive Rolle. Heutige anarchistische und alternative Projekte, selbstverwaltete Zentren und offene Räume zeigen, wie wichtig diese Selbstveränderung, diese Stärkung des eigenen Willens ist. Denn dort, wo im emanzipatorischen Experiment Hierarchien und Zwänge verschwinden, baut sich zur Zeit regelmäßig eine apathische Stimmung auf. Deutlich ist zu spüren, dass der Wille, das Leben und die freien Zusammenschlüsse selbst zu gestalten, fehlt. Gleichgültigkeit und die Flucht in fremde Orientierungen - von Cliquen über Verbandsidentitäten bis zum Internet mit seiner Fremdsteuerung über die angebotenen Links - sind an der Tagesordnung. Prickelndes, sich selbst entfaltendes Leben sieht anders aus. Das gilt auch für politische Bewegung, wo vorgefertigte Aktionsangebote die Protestlandschaft beherrschen - von Instant-Protestschreiben über durchgeplante Massenaktionen bis zur Reduzierung auf Spenden und Mitgliedschaft. Damit mögen politische Gruppen im Detail etwas erreichen. Insgesamt aber stärken sie das, was die heutige Gesellschaft ausmacht: Fremdbestimmung und Fremdorientierung.
Für eine emanzipatorische Veränderung aber bedarf es der Befreiung, nicht zusätzlicher eingefahrener Gleise. Das ist auch ein Appell an alle, die sich schon als AnarchistInnen fühlen oder definieren. Eine Stärkung des Individuellen ist Sache der einzelnen AkteurInnen selbst. Es gilt, sich selbst zu ermächtigen, das eigene Leben und die Kooperation mit anderen zur eigenen Sache zu machen. Sich von Bewegungsagenturen oder Organisationen steuern zu lassen, ist ebenso wenig emanzipatorisch oder anarchistisch wie das Hineintauchen in die Geborgenheit von Cliquen mit Revolutionssymbolik oder in die fremdgesteuerten Welten des Internets. Wer die ständige Bevormundung von außen ablehnt, muss Willensstärke entwickeln und Knowhow tanken. Sonst erscheint die Rückkehr in die vorgegebenen Gleise herrschaftsförmiger Welten irgendwann als erstrebenswert.

Für mehr Strategie und mehr StrategInnen in anarchistischer Theorie und Praxis
Das dünne theoretische Niveau der meisten anarchistischen Strömungen und Organisationen, gesteigert noch durch die ver(w)irrende Flucht auf das sicher scheinende demokratische Terrain, die schwache praktische Umsetzung von Ideen und fast überall fehlenden Strategien, wie Theorie und Praxis verbunden und entwickelt werden können, rückt das, was für Außenstehende als Anarchie sichtbar wird, oft in die Nähe durchgeknallter, spätpubertierender oder träumender Haufen. Bedauerlicherweise lässt sich dieser Eindruck unter anderem deshalb nicht abwenden, weil er vielfach schlicht zutrifft. Das ist nicht nur ein Problem, sondern schafft auch weitere. So wird der Anarchismus als Nische wahrgenommen. Seine AnhängerInnen verziehen sich in identitäre Cliquen und neigen auch bei großen Politaktionen zur Bildung einheitlicher Blöcke. Zudem schreckt der Mangel an Theorie und Strategie viele Menschen ab. Wer sich trotz des schlechten Niveaus anarchistischer Organisierung Knowhow zur Selbstorganisierung im Alltag oder zur durchdachten Durchführung von Aktionen aneignet, gelangt schnell zu der Erkenntnis, dieses in der Ablehnungsfront jeglicher Fremdbeherrschung, leider aber auch jeglicher Selbstorganisierung nicht sinnvoll anwenden zu können. Der Wille zur konsequenten Umsetzung anarchistischer Ideen ist fast nirgendwo vorhanden. Anarchie ist Verbalradikalismus plus Gefahr vermittelnder Attitüde und - blindes Huhn find' auch mal ein Korn - direkter Aktion als Ausnahmeabenteuer im sonst eher tristen Leben.
Diese Lage führt zum Exodus vieler Menschen, die sich Knowhow aneignen und strategischen Anspruch auf ihre Selbstorganisierung und Aktionen haben. Sie stehen vor der Wahl, nur noch allein oder in kleinen Kreisen zu agieren, das politische Leben zu beenden, im Sumpf des anarchistischen Vegetierens zu versinken oder die eigenen Inhalte zu verraten, um in alternativ wirkenden Firmen, Bewegungsagenturen, politischen Parteien oder NGOs wenigstens die erfolgreiche Umsetzung der dann leider inhaltlich nicht mehr überzeugenden Vorhaben zu erleben. So verliert der Anarchismus permanent die Köpfe, die für eine wirksame gesellschaftliche Einmischung so wichtig sind. Denen, die nur auf Wohlfühlatmosphäre in anarchistischen Cliquen und Bezugsgruppen oder auf anarchistische Label stehen, mag das nicht stören - sie würden sich vielleicht sogar aufgeschreckt fühlen aus ihren freundlichen Nestern, die als Nische in der bösen Wirklichkeit ein bisschen Wärme versprühen und einem selbst den Hauch des besseren Lebens verpassen. Wenn Anarchie aber Wirklichkeit werden soll, wird dieses Aufschrecken wohl nötig sein.


Zum nächsten Text über konkrete Vorschläge und neue Ansätze, dem zweiten Text im Kapitel über Perspektiven der Anarchie

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