Keine A49

THEORIE FÜR ANARCHIE. EIN UPDATE

Das neue Subjekt: Alle, aber unterschiedlich


1. (Neue) AnarchistInnen braucht das Land!?
2. Herrschaftsanalyse modernisieren
3. Wissensbasierte Radikalität
4. Emanzipation: Der Mensch im Mittelpunkt
5. Das neue Subjekt: Alle, aber unterschiedlich
6. Strategie für die Anarchie
7. Seiten zur Anarchie auf www.projektwerkstatt.de und anderswo

Wo keine Hierarchien, keine kollektiven Identitäten, keine privilegierte Steuerungsmacht über Normen und Diskurse bestehen, bestehen neben den Menschen und ihren freien Zusammenschlüssen keine weiteren Subjekte. Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland. Das Volk regiert auch nicht mehr und niemand bildet irgendwo das Sprachrohr höherer Moral, des Guten oder Schönen. Es waren schon immer die Menschen, die Geschichte schrieben, aber bislang hatten sie sehr unterschiedlichen Einfluss auf die Abläufe. Das wäre in der Anarchie anders. Dort sind zeitweise Machtverhältnisse, Privilegien oder ungleiche Verteilung von Produktionsmitteln auch allgegenwärtig, weil nur selten oder nie genug für alle Bedürfnisse zur gleichen Zeit vorhanden ist. Daher muss eine Anarchie kommunikativ sein, um eine Verteilung im Einverständnis aller jeweils Beteiligten sicherstellen zu können. Wichtig ist, dass sich die frei vereinbarten Verteilungen auf Zeit nicht zu Privilegien verfestigen. Denn diese sind ein sich selbst stabilisierendes Vorrecht, weil jemand, der Privilegien hat, diese nutzen kann, um weitere durchzusetzen.

Es ist Prinzip der Emanzipation, alle gesellschaftlichen Vorgänge aus dem Blickwinkel der Einzelnen und ihrer freien Zusammenschlüsse zu betrachten und zu deren Gunsten zu organisieren. Anarchie als radikalste Form der Emanzipation anerkennt keine Subjekte neben den Menschen. Auch die freien Zusammenschlüsse sind keine eigenständig handelnden Subjekte, sondern Kooperationen der Handelnden. Es gibt kein "Volk", keine Firma oder Verein als Selbstzweck. Das gilt für die Organisierung im Alltag, für Produktion und auch für politische Aktion.

  • Selbstorganisation
    Um unabhängig entscheiden und für sich die passende Wege des Lebens auswählen zu können, bedarf jeder Mensch des Willens, der Fähigkeit und der Möglichkeit, selbständig zu leben und sich zu organisieren. Das ist deutlich mehr als das blanke Überlebensnotwendige, sondern es schließt alles ein, was für die Selbstentfaltung nötig oder hilfreich ist. Die Begrenztheit der Ressourcen und der bei vielen Menschen vorhandene Drang zu Effizienz legt Kooperationen nahe. Die Willensstärke, sich selbst zu organisieren, wird stark von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt. In einer Welt, in der - wie der heutigen - eigene Ideen und Kreativität unerwünscht sind, stromlinienförmiges Funktionieren hingegen belohnt wird, verkümmert der Willen zur eigenen Lebensgestaltung.
    Fähigkeit bedeutet, über das nötige Knowhow zu verfügen, etwas Erwünschtes auch zu erreichen - von Kochrezepten über technisches oder handwerkliches Wissen. Zumindest muss die Chance gegeben sein, sich dieses Wissen anzueignen. Die Möglichkeit zur Selbstorganisierung ist eine Frage des Zugangs zu Ressourcen, z.B. Produktionsmittel aller Art, auch einfachen Werkzeugen, Räumen, Rohstoffen oder Anleitungen. Anarchie ist das System, in dem alle Zugänge maximal und für alle Menschen möglichst gleich vorhanden sind, ohne dass eine Institution der Verteilung diese Zugänglichkeit garantieren muss. Denn wer das Potential hat, einen Zugang zu garantieren, kann ihn auch versperren. Das aber wäre ein Privileg, d.h. eine Machtposition.
  • Horizontale Kommunikation und freie Kooperation
    Damit aus den Fähigkeiten und Möglichkeiten der Einzelnen mehr wird als das Nebeneinander dessen, was Menschen allein schaffen, bedarf es einer intensiven Kommunikation und der Anbahnung von Kooperation. Ein freier Mensch kann sich dort selbst entfalten, wo er nicht auf sich allein gestellt ist, aber andererseits so unabhängig, dass er frei entscheiden kann, welche Kooperationen er eingeht und welche wieder verlässt. Horizontale Kommunikation und freie Kooperation hängen davon ab, dass alle Menschen diese wieder verlassen können. Gleichzeitig erweitert die Chance zur Kooperation die Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen, so dass viele das Interesse haben werden, Kommunikation und Kooperation nicht dem Zufall zu überlassen. Das wird Motiv genug sein, Orte und Wege aufzubauen, an denen Menschen sich einander möglichst einfach helfen. Das erweitert deren Handlungsmöglichkeiten und ist deshalb emanzipatorisch. Will Anarchie das in der radikalsten Form umsetzen, so ist sie nur vorstellbar als hochkommunikative Gesellschaft, in der viel und auf unterschiedlichste Weise kooperiert wird. Das allerdings wird nie erzwungen, sondern als Möglichkeiten angeboten.

Es ist eine spannende Aufgabe an eine moderne, anarchistische Theorien, Zukunftsentwürfe und dorthin führende Strategien zu entwerfen, die ohne kollektive Subjekte auskommen, aber den Menschen trotzdem - oder gerade deshalb - als soziales Wesen sehen, das seine Handlungsmöglichkeiten aus der Autonomie und der Kooperation schöpft.

Der Verzicht auf privilegierte Macht und der Umgang mit der bestehenden Macht
Ein weiteres Feld anarchistischer Strategieentwicklung ist die Formulierung von Mitteln und Wegen gesellschaftlicher Intervention. Hier tun sich Abgründe weitreichender Fragen auf, die mit Sicherheit nie vollständig beantwortet werden können ohne das Experiment einer Umsetzung, die aber der Überlegung bedürfen, um Ziele formulieren, Teilschritte und Handlungsmethoden entwerfen zu können.
Ein schwieriges Feld ist der Umgang mit der Macht. Kann Befreiung "von oben" kommen? Oder stimmt, was die dogmatisch Gewaltfreien für ihr Hauptthema behaupten: Dass das Gute nicht durch das Schlechte zu erreichen ist? Gibt es nicht weitere Varianten? Ist es überhaupt sinnvoll, allgemeingültige Festlegungen treffen zu wollen? Denn schließlich wäre das ja etwas, was über die Handlungsautonomie der Einzelnen und ihrer freien Zusammenschlüsse gehängt wird - also nicht mehr emanzipatorisch wäre. Bedeutet Anarchie als radikalste Form emanzipatorischen Denken nicht den konsequenten Verzicht auf alle Dogmen und Vorfestlegungen? Dann wäre alles der bewussten Abwägung der Menschen überlassen - aber, wie in der Anarchie ja erwünscht und dann hoffentlich auch üblich, in ständiger Kommunikation und so auch Reflexion.

Das würde auch für den Umgang mit der Macht gelten. Eine pauschale Ablehnung, Macht zu erobern oder umzufunktionieren, würde den Menschen bevormunden. Es gäbe plötzlich einen höheren Wert als die freie Entscheidung der Einzelnen und die Vereinbarung der Mehreren. Außerdem fehlt - ähnlich wie beim dogmatischen Verzicht auf Gewalt - ein plausibler Grund für diese Selbstbeschränkung und für das dahinterstehenden, mangelnde Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeit der Menschen. Ein Dogma würde Tausende noch unbekannter Fälle in unterschiedlichen Rahmenbedingungen pauschal über einen Kamm scheren - ein deutlicher Verlust von Handlungsfreiheit.

Insofern bleibt als emanzipatorische Perspektive nur die Offenheit bei maximaler Aneignung von Handlungskompetenz und Förderung von Kommunikation, um die typische Fehlerquote von Ad-hoc-Reaktionen zu verringern. Macht und Gegenmacht werden eine Nachdenkfeld dieser Art sein: Sind alle Befreiungen ohne eine macht- und mitunter auch gewaltförmige Zurückweisung der Obrigkeit möglich?
Zudem können Teilschritte sinnvoll erscheinen, vor allem wenn sie die Handlungsmöglichkeiten für dann folgende Schritte erweitern. Die Debatte um Reform und Revolution gewinnt eine völlig neue Dimension, wenn es nicht mehr auf die Quantität von Veränderung, sondern auf deren emanzipatorische Qualität ankommt. Dann würden die meisten, heute als Reformen vorgebrachten Vorschläge politischer Veränderung immer noch "durchfallen" - aber nicht weil sie nur Teilschritte sind, sondern weil sie Macht nicht abbauen, sondern oftmals sogar Kontrolle und staatliche Macht einfrodern oder sogar erweitern.

Im Original: Die Klaviatur der Macht spielen?
Macht und Gegenmacht
Aus: Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 15)
Beschränkt sich der Faktor eigener Macht in den meisten Fällen auf die Rolle sogenannter "Gegenmacht", so erscheint die Problematik noch überschaubar. Sie erreicht jedoch eine andere Dimension, wenn sich die Rolle des gesellschaftlichen Agierens vom Revoltieren weg - hin zur Neugestaltung gesellschaftlicher Realität wandelt. Die Schwierigkeiten im Umgang mit Macht traten in der anarchistischen Geschichte deshalb immer dann am deutlichsten zu Tage, wenn es gelungen war, libertäre Philosophie aus den Diskussions- und Widerstandszirkeln in breitere soziale Zusammenhänge wirken zu lassen, sprich wirkliche gesellschaftliche Relevanz zu ereichen.

Nischen, Freiräume, Konkurrenzen in den Eliten nutzen
Aus: Wilk, Michael (1999): "Macht, Herrschaft, Emanzipation", Trotzdem Verlag in Grafenau (S. 21)
Auch in einem System moderner Staatlichkeit, das durch Einbindung und soziale Sicherungssysteme weitreichende Identifizierungsebenen schafft, die Formen staatlicher Herrschaft als positiv und den Menschen zugewandt erscheinen läßt, gibt es Brüche des Funktionierens. Sei es die Durchsetzung von Großprojekten (AKW's, Flughäfen etc.), sei es Entgarantierung und das Ausdünnen sozialer Sicherungs systeme zugunsten der Profite, oder auch offen rassistische Ausgrenzung von anderen Menschen, all dies (und vieles mehr) ist geeignet Aufmerksamkeit gegenüber staatlichem Agieren zu wecken. Diese Situationen, in denen Staat durchaus erkennbar autoritär und unmenschlich erscheint, sind geeignet Widerstand hervorzurufen. Der, soll er nicht auf der Ebene reinen Unmuts verharren, eine eigene Potenz, bis hin zur Gegenmacht entwickeln muß.

Anarchie ist die anspruchsvollste aller gesellschaftslichen Theorien, weil sie keine festen Regeln und Schemata kennt. Ihr Anspruch ist, die Unterschiedlichkeit der Menschen zur vollen Blüte zu bringen, weil genau diese dann gar nicht mehr kontrollier- und berechenbare Menge an Kreativität, individuellen Handlungsimpulsen und die folglich auch sehr vielfältige Form von Kommunikation und Kooperation die besten Voraussetzungen für Fortschritt im Sinne der Selbstentfaltung und besserer Lebensmöglichkeiten bringt.

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