Demokratie

ANARCHIE UND DEMOKRATIE
DIE GLEICHSETZUNG DES UNVEREINBAREN

Trotzdem: AnarchistInnen für die (verbesserte) Demokratie


1. Einleitung
2. Siebenmal: Anarchie und (Basis-)Demokratie sind unvereinbar!
3. Anarchistische Kritik an Staat und Demokratie
4. Trotzdem: AnarchistInnen für die (verbesserte) Demokratie
5. Positiver Bezug auf das Volk
6. Demokratie als Entscheidungsform in der Anarchie?
7. Kritik der Demokratiebefürwortung
8. Links und Materialien

Eigentlich also scheint es klar: "Die parlamentarische Demokratie mag die beste aller möglichen Regierungsformen sein - die anarchistische Parlamentarismuskritik richtet sich jedoch gegen die Zumutung, überhaupt regiert zu werden. Es geht dem Anarchismus nicht um eine alternative Regierung, sondern um Alternativen zur Regierung." (Quelle) Das gilt im Kleinen wie im Großen. Doch die Wirklichkeit sieht ziemlich anders aus. Demokratie, selbst im Allgemeinen, also auf staatlicher Ebene, übt auch in anarchistischen Kreisen eine seltsame Anziehungskraft aus und wird zum Inbegriff des Guten - der menschlichen Art des Herrschens.

Im Original: Anarch@s loben Demokratie
Aus Fotopoulos, Takis (2003): "Umfassende Demokratie", Trotzdem in Grafenau (S. 248 ff.)
Ich denke, hier liegen zwei Problemkreise vor, die getrennt voneinander untersucht werden müssen, nämlich erstens die Frage, ob Demokratie immer noch "Herrschaft" ist, und zweitens, wie Minderheiten, selbst Minderheiten, die nur aus einer Person bestehen, geschützt werden können. In bezug auf das erste Problem ist offensichtlich, dass diejenigen, die - wie wir in Kapitel 5 gesehen haben irrtümlich - annehmen, Demokratie bringe eine Form von "Herrschaft" mit sich, die nicht-staatliche Form von Demokratie mit deren staatlichen Formen verwechseln. Dabei ignorieren die Libertären, die diesen Einwand gegen die Demokratie erheben, ganz einfach die Tatsache, dass in einer nicht-etatistischen Konzeption von Demokratie kein Konflikt zwischen der Demokratie und der Freiheit des sozialen Individuums besteht, weil alle sozialen Individuen in gleichem Maß an der Macht teilhaben und am Entscheidungsprozeß teilnehmen können. Außerdem weist Bookchin zu Recht darauf hin, dass die von diesen Kräften vorgeschlagene Alternative, nämlich der Konsens, "die individualistische Altemative zur Demokratie" (Murray Bookchin, "The democratic dimension of anarchism", Democracy and Nature, Vol. 3, Nr. 2 (1996)) ist - eine Alternative, die in Wirklichkeit so tut, als gebe es die individuelle Verschiedenartigkeit, die von der Demokratie angeblich unterdrückt wird, überhaupt nicht!

Interview mit dem Comic-Autor Jacques Tardi, in: Graswurzelrevolution 4/2007
Das Interessante an der Pariser Commune ist der Entwurf einer Demokratie von Menschen für Menschen. Das war ein echter ArbeiterInnenaufstand.


Aus Sternstein, Wolfgang: "Die gewaltfreie Revolte gegen 'Stuttgart 21'", in: GWR Dez. 2010 (S. 7)
Wer zivilen Ungehorsam leistet, dem geht es um die Verbesserung der Demokratie, nicht um ihre Zerstörung. Durch ihre Bereitschaft, Nachteile und Strafen hinzunehmen, bekunden sie ihren Respekt vor dem Recht als solchem und appellieren an die Regierung und die Parlamente, die angefochtenen Entscheidungen noch einmal zu überdenken.

Aus dem Text "Parlamentarismus vs. Basisdemokratie" und auf: "Anarchie" Nr. - / + 2004)
Genau genommen ist das Wort Demokratie theoretischer Unsinn: Wenn das Volk alle sind, und das Volk herrscht, über wen herrscht es dann? Jeder über jeden? Keiner über keinen? Demokratie, radikal verstanden, käme der Anarchie, Akratie, also Herrschaftslosigkeit gleich. Dennoch wird - in Ermangelung besserer Begriffe - von AnarchistInnen öfters das Wort Basisdemokratie der heutigen Repräsentativdemokratie gegenübergestellt.

Aus P.M. (2012): "Kartoffeln und Computer", Nautilus in Hamburg
Wahrung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat sind für eine postkapitalistische Gesellschaft unverzichtbar. … (S. 7)
Wenn es gelingt, den Wandel als einen integrativen, demokratischen Prozess zu gestalten, dann wird es vielleicht möglich sein, ihn ohne den Preis gewaltsamer Konflikte zu erreichen. … (S. 8)
Alle sollten in allen Angelegenheiten gleichermaßen stimmberechtigt sein. …
Erst ein Rahmen von Zuverlässigkeit und Gleichheit, sowohl in der Kommunikation als auch in der Selbstorganisation (echte Demokratie), bietet die Voraussetzung für die Nutzung gemeinsamer Güter. Ohne einen solchen gesellschaftlichen Konsens wird der ungeregelte Umgang mit unseren gemeinsamen Gütern in einer Tragödie enden, da dieser Planet ökologische Grenzen hat. Gemeinschaftlichkeit heißt nicht Formlosigkeit, sie braucht Institutionen. Über mögliche Formen, Beziehungen und Proportionen müssen wir uns unterhalten und sie dann verbindlich machen. Eine gewisse Skepsis gegenüber unspezifischem Vertrauen und spontaner Selbstorganisation kann dabei nicht schaden.
Elinor Ostrom … nennt sieben Regeln …
1) Klar definierte Grenzen und einen wirksamen Ausschluss von externen Nichtberechtigten. …
4) Überwachung der Einhaltung der Regeln.
5) Abgestufte Sanktionsmöglichkeiten bei Regelverstößen. … (S. 10f.)
Daher ist ein Aufbruch zu einer umfassenden Demokratie, die nicht nur auf eine willkürlich abgetrennte politische Sphäre begrenzt ist, unabdingbar. Der Kampf für Demokratie ist der Kampf für das Leben auf diesem Planeten. (Vgl. Moore Lapp: "Das Hungerproblem ist ein Demokratieproblem.") … (S. 11)
Wir brauchen einen Konsens über ein "gutes Leben" für alle Erdbewohner im Einklang miteinander und mit dem Planeten. … (S. 12)
Ich habe bereits zwei "Ebenen" von Demokratie erwähnt, die Nachbarschaft und die Kleinstadt bzw. den Bezirk. Die Nachbarschaft ist kein Teil der allgemeinen Dienstleistungen, sondern vielmehr eine Art Großhaushalt, der von seinen Mitgliedern gestaltet wird. Diese Art direkter Demokratie ist bereits weltweit in zahlreichen Kooperativen auf vielfältige Weise erprobt worden. Sie hat ihre Grenzen und Probleme, aber es gibt keine bekannte Alternative, wenn wir die Kontrolle über unser alltägliches Leben nicht anonymen Behörden überlassen wollen, die zu wissen glauben, was das Beste für uns sei. …
Hier können bestehende öffentliche Dienstleistungen ausgebaut, verbessert und demokratisch beaufsichtigt werden. … (S. 26f.)
Öffentliche Verkehrsunternehmen übernehmen die Entwicklung von Transportmitteln, dem Schulsystem werden Druckereien, Papierhersteller, Möbelhersteller, Bauuntemehmen etc. eingegliedert. Die Versorgung wird so demokratischer, transparenter und planbarer.
Der nächste Kreis sind Regionen oder sehr große Städte in der Größenordnung von Hunderttausenden bis Millionen Menschen. Hier gibt es zusätzliche Dienstleistungen und Industriezweige: Krankenhäuser, Universitäten, Energieerzeugung, Baustoffherstellung, Opernhäuser, Zoo, Museen, Eislaufbahn etc. Auch sie können demokratisch gestaltet werden. … (S. 30)
Die Gemeinschaften basieren auf einer klar geregelten, allgemeinen demokratischen Mitbestimmung, die keine ethnischen, kulturellen oder physischen Unterscheidungen akzeptiert. (S. 70)

Dabei auch klare Grenzziehung (Innen-Außen) und institutionelle Macht befürwortend:
Klar definierte Grenzen und einen wirksamen Ausschluss von externen Nichtberechtigten. ... (S. 11)
Selbst wenn es im Moment noch pompös erscheint, über "planetarische Planung" zu sprechen, so werden wir langfristig nicht darum herumkommen, globale Ressourcen gerecht zu verteilen und dafür geeignete Institutionen zu schaffen. … (S. 12)
Nachbarschaften sind bewusst "kühle" soziale Einheiten, die eine formelle Organisation brauchen und damit die Bildung von Machtklüngeln und Gruppenegoismen verhindern. (S. 19)

Wahre Demokratie verzichtet auf Herrschaftssysteme ... sagt David Graeber
Aus David Graeber (3. Auflage 2013), "Frei von Herrschaft" (S. 12)
Sie sollen verstehen lernen, was Demokratie niemals bedeutet: auf spezialisierte Ordnungskräfte zu verzichten. Natürlich beruht der Amarchismus darauf, dass wahre Demokratie genau das bedeutet.


Als logische Konsequenz werden AnarchistInnen zum Fanblock der Demokratie - mit der Forderung zu deren Rettung oder Stärkung. Hand in Hand stehen sie mit dem bürgerlichen RechtsstaatsschützerInnen, träumen von Weltregierungen und anderen Führungsebenen, die das Gute darstellen, wenn sie nur ordentlich demokratisch ist.

Im Original: AnarchistInnen als Demokratiebewegung
Verklärung der Demokratie zu einer egalitären Gesellschaftsform
Ralf Burnicki, "Die anarchistische Konsensdemokratie", Transkription eines Videos von O. Ressler ( aufgenommen in Bielefeld, Deutschland, 29 Min., 2005)
Die Merkmale dieser nicht-hierarchischen Demokratie wären eine aus den persönlichen Interessen der einzelnen Gruppen, die sich föderieren, synthetisierte anti-hierarchische Organisation von unten, und ein fraktaler und dezentraler Aufbau der Kooperation und der Föderationen. Diese Kooperationen finden jederzeit statt, können aber auch jederzeit abgebrochen werden, wenn es den Bedürfnissen der Betroffenen entspricht. Ein weiteres Charakteristikum ist der prozessuale Aufbau von Entscheidungen. Entscheidungen können nur dann herbeigeführt werden, wenn sie von den Individuen ausgehen. Diese Entscheidungen beziehen sich auf Bedürfnisse von Individuen und nicht auf Bedürfnisse von Herrschenden, die diese Individuen aus irgendeinem Grund kontrollieren oder kontrollieren wollen. ...
Demokratie ist nicht an ihrem denkbaren Ende, sondern nimmt gerade erst ihren Anfang.


Aus dem Entwurf der Gründungserklärung der Libertären - Basisdemokratien, in: Darwin Dante (1993): "5-Stunden sind genug", Manneck Mainhatten Verlag in Frankfurt
In Übereinstimmung mit dem Grundgesetz der BRD und der Respektierung aller in diesem Staat bestehenden Rechte und Gesetze machen wir Libertären - Basisdemokraten es uns zur Aufgabe, die Vollendung der Demokratie zur Basisdemokratie vorzubereiten und durchzuführen. ... Als Mittel zur Umsetzung unserer Gesellschaftsvorstellungen wählen wir die Aufklärung, über die wir eine landesweite 3/4-Zustimmungsmehrheit in der Bevölkerung erreichen wollen. Allein über diese 3/4-Mehrheit wollen wir auf demokratischem Wege in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz eine Umgestaltung des Grundgesetzes durchsetzen. ...
Insbesondere soll die anarchistische Rätestruktur ein Sprachrohr für die in den Libertären - Basisdemokraten zusammengeschlossenen anarcho-syndikalistischen Verbindungen und Kooperativenverbände sein ...
Ein demokratisches mehrheitlichers Mitbestimmungsrecht besitzt hier Vorrang vor jedem Eigentumsrecht an Produktionsmitteln und Lebensgütern ... Anarcho-Kommunismus und Demokratie gehören zusammen, ergänzen einander und können NIE miteinander im Widerspruch stehen!
Die Schüler bestimmen selbst ihre Wünsche und Anforderungen an IHR SCHULSYSTEM durch den Mehrheitsbeschluß der Schülervollversammlung ...


Aus einem Bericht über den G8-Gipfel-Protest 2007 in der Jugendzeitung "Utopia", Ausgabe Nr. 1 / Herbst 2007 (Download über www.jugendzeitung.net)*
Doch die Gewaltszenen beherrschten die Wahrnehmung in den Medien. Somit wurde der Protest für eine friedlichere, demokratischere, sozialere und ökologischere Welt von einigen wenigen Militanten und den Medien weniger glaubwürdig gemacht.

Aus David Graeber (2012): "Inside Occupy", Campus in Frankfurt
Anarchismus bedeutet keineswegs die Verneinung von Demokratie - oder wenigstens nicht der demokratischen Aspekte, an der der größte Teil der Amerikaner historisch Gefallen gefunden hat. Anarchismus bedeutet, demokratische Prinzipien zu ihrem logischen Schluss zu führen. ... (S. 103f.)
Die Demokratie wurde nicht im antiken Griechenland erfunden .Sie wurde überhaupt nicht erfunden. Ebenso wenig ist sie aus einer bestimmten intellektuellen Tradition hervorgegangen. Sie ist noch nicht einmal wikrlich eine Regierungsform. Im Wesentlichen ist sie nur der Glaube, dass die Menschen im Grunde alle gleich seien und man ihnen erlauben sollte, ihre kollektiven Angelegenheiten auf egalitäre Art und Weise zu regeln. (S. 119)
Anarchismus: Ein Komplet an Theorien und sozialen Bewegungenb, deren Ziel die Erreichung der "herrschaftsfreien Gesellschaft" ist - eine Gesellschaftsfoom, in der nicht Entscheidungen gegen den Willen der von ihnen Betroffenen durchgesetzt werden. Stattdessen sollen der im Diskussions prozess herauszufindende Gemeinwille und die zahlreichen Einzelwillen zu einem Konsens finden. Damit ist Anarchismus die extremste Form der identitären Demokratie. ... (Beileger "Der Revolutions-Guide")

Aus Ilija Trojanow, "Freiheit, Skepsis, Totenkopf" in: "Anarchistische Welten" (2012, Nautilus in Hamburg, S. 6)
Als würde er an den jungen Börne anschließen wollen, postuliert der Berliner Publizist Thomas Wagner in seinem Essay, der diesen Band eröffnet, Herrschaftsfreiheit als unabdingbares demokratisches Prinzip. Eine weit gefasste, integrative Definition könnte lauten: Anarchismus ist ein Projekt, anhand radikaldemokratischer Prinzipien einen geeigneten gesellschaftlichen Rahmen für eine größtmögliche individuelle Freiheit zu schaffen, bei größtmöglicher Gleichheit und Gerechtigkeit.
Und Thomas Wagner fragt im gleichen Buch auf S. 23 sorgenvoll: "Hat die Demokratie noch eine Zukunft?"

Gepaart ist diese Werbung für eine richtig gute Demokratie mit Distanzierungen, pro-demokratisch zu sein, wenn in anarchistischen Debatte Kritik an solchen Haltungen gibt. In der "Dokumentation zu den Methoden der politischen Diffamierung des Jörg Bergstedt" schrieben GWR-HerausgeberInnen: "Als eine der wenigen Zeitungen hat sich die Graswurzelrevolution in den 90er Jahren gegen alle Formen "demokratischer Disziplinierung" gewandt." Die obigen Zitate belegen deutlich das Gegenteil.

Geht wählen! Aufrufe und Konzepte für noch mehr Demokratie
Geht die Befürwortung der Demokratie noch in der allgemeinen Nebeligkeit anarchistischer "Theorien" (das Wort ist meist schon eine Übertreibung) unter, so wird spätestens dann Absurdistan ganz betreten, wenn AnarchistInnen (und durchaus deren führende Vielredner) sogar das Wählen befürworten - sei es in romanhaften Utopien oder ganz platt im laufenden Wahlkampf. So stand neben einem Werbeartikel zur Basisdemokratie in der "utopia" im Mai 2009 (S. 2) gleich der Aufruf "Für ein Wahlrecht ohne Altersgrenze" mit Angabe der Internetadresse "Ich-will-waehlen.de" (!) und dem Satz, dass ausgerechnet das Nichtwählenkönnen schlimm sei: "Wenn Menschen aber aufgrund ihrer vermeintlich fehlenden Intelligenz das Recht auf politische Beteiligung aberkannt wird, ist das zutiefst undemokratisch."

Im Original: Mehr wählen!
Aus Stehn, Jan (1995): "Eine Struktur für die Freiheit"
Libertäre Demokratie ...
Anstelle von Regierungen und Parlamenten, die über fast alles entscheiden dürfen, treten Fachräte (z.B. Ökorat) mit klar begrenzten Aufgabenbereichen.
Dezentralisierung der politischen Strukturen, z.B. Konflikträte auf kommunaler Ebene, Kapitalräte auf Ebene von heutigen Bundesländern.
Machtteilung durch Parallelstrukturen, Minderheiten können eigenen Konfliktrat, eigenen Kapitalrat wählen.
Nicht nur Personen sondern auch ihr Programm wird gewählt und ist verbindliche Grundlage für die Arbeit der Räte.

Ralf Landmesser von A-Laden in Berlin im Werberundschreiben für den A-Kalenda am 18.7.2005:
Übrigens: geht um Bakunins Willen wählen! Denn wir wollen doch nicht die schwarze Pest wieder am Ruder der Titanic. Nie wieder Kohlsuppe und schon gar nicht mit Ferkel-Einlage! Fasenken wa den Kahn selba!! Ein Revolutiönchen gefällig? Bitte. Gerne. Wenn ihr das hinkriegt. Und wenn nich, dann wählt gefälligst. Is zwar nich ejal wer dran is, aber kaputt machen muß mensch den Staat trotzdem, ne, wegens die Menschlichkeit. Nur müssen wir ihm ja nich noch helfen UNS kaputtzumachen.

Offenbar aber hört das Denken nicht ganz auf. So blieb den ProtagonistInnen der Demokratie im A-Gewand doch nicht verborgen, dass es bereits demokratische Gesellschaften gibt und diese Menschen ausbeuten, Umwelt zerstören, Kriege führen und die gesamte Sammlung von althergebrachten und modernisierten Schrecken der Marken Patriarchat, Antisemitismus, Rassismus, Kapitalismus usw. in sich tragen. Statt daraus nun die Konsequenz zu ziehen, dass demokratische Bomben auch töten und deshalb nicht besser sind, wird verzweifelt versucht, die herrschende Demokratie als gar nicht richtige Demokratie zu definieren und zu einem Feldzug für die Verwirklichung endlich der wahren Volksherrschaft aufzurufen.

Im Original: Für eine bessere, "echte" Volksherrschaft
Text, gefunden auf einer Anarchie-Internetseite
Viel schärfer als der autoritäre Kommunist erkennt und entlarvt der/die AnarchistIn die strukturellen Mängel der bürgerlichen „Demokratie". Der Parlamentarismus hat mit Demokratie, also Volksherrschaft nichts zu tun.

Aus Grosche, Mona (2003): "Anarchismus und Syndikalismus in Deutschland", Syndikat A in Moers (S. 7)
Dem Zentralismus des Staates setzen die AnarchistInnen die 'natürliche' Ordnung der Gesellschaft auf förderativer und freiwilliger Basis entgegen, in ihr wird die einzige wirkliche Form des demokratischen Zusammenlebens gesehen.
Die Autorin verweist bei diesem Satz auf das Buch Guerin, Daniel (1967): Anarchismus. Begriff und Praxis, Frankfurt

Prinzipienerklärung der Bildungssyndikate in der FAU (Stand: 29.9.2003)
Die parlamentarische Demokratie ist nur eine scheinbare Demokratie. Demokratie bedeutet urspruenglich "Volksherrschaft". Parlamentarische "Demokratie" äußert sich darin, dass die wahlberechtigten Bürgerinnen alle in Abständen die Wahl zwischen den verschiedenen Fraktionen der Herrschaft haben. Die gewählten Abgeordneten sind durch die Wähler nicht kontrollier- geschweige denn abwählbar. Daher ist die parlamentarische Demokratie nur eine Scheindemokratie. ... Jedes Land, das eine Regierung hat, ist ein vom Feind besetztes Land. Im Gegensatz dazu steht die "Direkte Demokratie", In der jederzeit abwählbare, dem Volk gegenüber rechenschaftspflichtige Delegierte, die aus dem Volk kommen, die jeweils anstehenden Entscheidungen treffen.

Aus Colin Ward: "Anarchismus als Organisationstheorie" (Quelle), zur Anarchie:
Man könnte meinen, dies sei eine Art idealisierte Vorstellung von der Demokratie. Wenn das zutrifft, ist sie aber weit von der Art der Demokratie entfernt, die wir kennen. Denn der Begriff der Demokratie im Sinne von Selbstregierung des Volkes ist seit langem durch ein Konzept ersetzt worden, das unter Demokratie den Wettkampf rivalisierender, sich aber ähnelnder Eliten um die Stimmen des Volkes versteht.

Aus Fotopoulos, Takis (2003): "Umfassende Demokratie", Trotzdem in Grafenau (S. 427 ff.)
Politische Demokratie erfordert die Schaffung von Institutionen direkter Demokratie auf der politischen Ebene, so dass alle Entscheidungen von den demotischen Versammlungen getroffen werden, d.h. den örtlichen Bürgerversammlungen auf der Ebene des demos. ...
Wirtschaftliche Demokratie erfordert die Schaffung von Institutionen kollektiven Eigentums an den produktiven Ressourcen (d.h. den Quellen des gesellschaftlichen Reichtums) sowie kollektive Kontrolle über diese Institutionen durch die demotischen Versammlungen.

Aus FAU Stuttgart u.a.: "Libertäres Positionspapier zu S21", in: GWR Dez. 2010 (S. 9)
Das ist nicht unser Verständnis von Demokratie - wir fordern hierarchielose Entscheidungsprozesse. VertreterInnen in Gremien und Räten sind somit nur mit einem imperativen Mandat auszustatten und an die Beschlüsse der "Basis" gebunden. Alles andere führt zu Machtkonzentration, zu einer Entdemokratisierung und Klüngelwirtschaft (sic!).



Sogar eine herrschende Klasse wünscht sich Michael Schmidt-Salomon, der sich lange Zeit anarchistisch gab und im anarchistischen Verlag Alibri verlegte (bis er mit seinen Büchern Geld verdienen konnte und ins Lager der Kapitalist_innen wechselte (im Vortragsmitschnitt von Keine Macht den Doofen, nach ca. 52 min):
Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, dass der politischen Klasse eine zentrale Aufgabe in unserem Gemeinswesen zukommt und zukommen sollte.

Verwirrungen
Ganz so eindeutig rollt das Ganze aber nicht. Offenbar entspringt der positive Bezug auf eine irgendwie gute Demokratie bei gleichzeitiger Distanzierung von der real existierenden Demokratie nicht einer Analyse gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, sondern auch oft auch dem Bedürfnis, in der Mitte der Gesellschaft Anerkennung zu finden. Oder platter: Spenden. Denn wer sich als KritikerIn der Demokratie zeigt, hat im gut betuchten, spendenbereiten BildungsbürgerInnentum schlechte Karten.
Bizarr mutet dieser Spagat vor allem bei den gewaltfreien BasisdemokratInnen an, die in ihrer Eigenwahrnehmung anarchistisch fühlen und denken. Das zeigte eine interne Debatte um den Umgang mit der Staatsgewalt rund um die Stuttgart-21-Proteste 2010 und 2011. Auslöser war ein Gerichtsprozess gegen einige AktivistInnen, die nicht nur Protestlieder sangen und Schilder hochhielten, sondern einen Abrissbagger am Stuttgarter Hauptbahnhof bestiegen und dadurch blockierten. Ihren Protest gegen das dahinterstehende System setzten sie als Angeklagte im Gerichtssaal fort. Wolfgang Sternstein, Autor der Graswurzelrevolution und Urgestein der Gewaltfreienszene in Deutschland, riss das zu folgenden Bemerkungen hin: "Ich war vom Verhalten der angeklagten Aktivistin und einiger Zuhörer derart angewidert, dass ich nach einer Stunde den Gerichtssaal verließ. ... Da die Richterin aber offenbar der Meinung war, sie müsse die Gerichtsverhandlung durchziehen, hätte ich sie gewähren lassen, denn zum gewaltfreien Widerstand gehört der Respekt vor dem politischen Gegner, den Gerichten und der Polizei selbst dann, wenn wir uns weigern, den Anweisungen von Polizeibeamten Folge zu leisten. Auch sollte die Strafe, sofern sie nicht ganz unverhältnismäßig ist, klaglos hingenommen werden. Ungebührliches Betragen, Beleidigungen, Beschimpfungen, ganz zu schweigen von Gewalthandlungen gehören aber mit Sicherheit nicht zum gewaltfreien Widerstand." (mehr Auszüge) Doch damit nicht genug. Er setzte eine Grundsatzbemerkung pro Demokratie oben drauf: "Wer zivilen Ungehorsam leistet, dem geht es um die Verbesserung der Demokratie, nicht um ihre Zerstörung. Durch ihre Bereitschaft, Nachteile und Strafen hinzunehmen, bekunden sie ihren Respekt vor dem Recht als solchem und appellieren an die Regierung und die Parlamente, die angefochtenen Entscheidungen noch einmal zu überdenken." (Quelle: GWR Dez. 2010, S. 7)
Dem nun widersprechen in der Sommerausgabe 2011 besaline und Lou Marin. Letzterer ist GWR-Herausgeber, im HerausgeberInnenkollektiv bekannt u.a. für Vetos und Zensur unerwünschter Texte und damit eine besonders prägende Person der GWR (zumal der langjährige Chefredakteur Bernd Drücke ähnliche Durchgriffsmethoden befürwortet und anwendet). Seine Entgegnung ist selbst Ausdruck der Zerrissenheit, die entsteht, wenn mensch gleichzeitig gerne Anarchist und Demokratiefan sein will. In dieser Schizophrenie politischer Motivationen fordert Marin erst, die Demokratie sei "ein auf Gewalt gebautes System, das - gewaltfrei, aber gründlich - zerstört werden muss", macht dann aber doch selbst wieder Zweiteilung in gute und schlechte Demokratie auf mit einem vermeintlichen "Grundsatz direkt- und basisdemokratischer Gesellschaftsvorstellungen, der in eindeutigem Gegensatz steht zur parlamentarischen Demokratie".

Im Original: Entgegnungen auf Sternsteins Demokratiejubel
Ausgangszitat von Wolfgang Sternstein in der GWR Dez. 2010 (S. 7)
Wer zivilen Ungehorsam leistet, dem geht es um die Verbesserung der Demokratie, nicht um ihre Zerstörung. Durch ihre Bereitschaft, Nachteile und Strafen hinzunehmen, bekunden sie ihren Respekt vor dem Recht als solchem und appellieren an die Regierung und die Parlamente, die angefochtenen Entscheidungen noch einmal zu überdenken.

Aus Lou Marin, "Wir kämpfen nicht für Demokratie", in: GWR Sommer 2011 (S. 18)
Ausdruck der redaktionellen, pluralistischen Toleranz dieser Zeitung ist, was Positionen aus der gewaltfreien Bewegung anbetrifft ...
Hier soll daran erinnert werden, dass der Kern sowohl der Gewaltfreiheit als auch des zivilen Ungehorsams eine - auch von Sternstein selbst immer wieder beschworene - sogenannte Ziel-Mittel-Relation ist, die sich umgangssprachlich in den Slogans "Das angestrebte Gesellschaftsziel muss sich in den angewandten Mitteln ausdrücken" oder "Der Weg ist das Ziel" widerspiegelt. ...
Die Demokratie ist ein auf Gewalt gebautes System, das - gewaltfrei, aber gründlich - zerstört werden muss ...
Wer dem gewaltfreien Grundsatz der Ziel-Mittel-Relation ernst nimmt, kann deshalb nicht für Demokratie kämpfen. ...
Das ist ein Grundsatz direkt- und basisdemokratischer Gesellschaftsvorstellungen, der in eindeutigem Gegensatz steht zur parlamentarischen Demokratie ...
Damit einheit ging die Vorstellung: "Die Polizei ist nicht unser Gegner", die leider auch heute wieder auf vielen Anti-Atom-Demos fröhliche Urstände feiert. Doch: Die Polizei ist unser Gegner, wenn wir als Ziel unserer Aktionen eine herrschafts- und gewaltfreie Gesellschaft anstreben. Nur wer die Demokratie als Ziel anstrebt, für den/die ist die Polizei kein Gegner.


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