Demokratie

AKTUELLE THEORIEANSÄTZE: WORÜBER ANARCHISTINNEN NACHDENKEN, WENN SIE DENKEN

Verschlafen oder vergessen: Moderne Herrschaftsanalyse


1. Einleitung
2. Zu wenig: Das traditionelle Verständnis von Herrschaft
3. Verschlafen oder vergessen: Moderne Herrschaftsanalyse
4. Das Menschenbild im Anarchismus
5. Links

Die bisher genannten Herrschaftsverhältnisse sind in politischen Protestbewegungen weitgehend bekannt, wenn auch bei weitem nicht überall das Wissen in eine angemessene Praxis mündet. Wer eineN AnarchistIn befragt, welche Herrschaft bekämpft werden soll, so ist bei den meisten wahrscheinlich, dass - neben mehr oder weniger differenziertem Hass auf "die da oben" - die Unterdrückung von AusländerInnen, Frauen und Nicht-Heterosexuellen sowie Nicht-KapitalbesitzerInnen benannt würde. Schwieriger wird es, die verschiedenen Formen in Zusammenhang zu bringen. Meist stehen sie so lose nebeneinander, wie auch die Teilbereichsbewegungen nur seltenmiteinander zu tun haben oder sich gegenseitig missionieren, dass ihr jeweils behandeltes Thema doch das wichtigste und deshalb auch von anderen zu verfolgen sei. Wirre Erwartungen wie die, dass mit Überwindung des Kapitalismus die Befreiung von Frauen, Nichtdeutschen usw. automatisch einhergehen würde, wechseln mit Weltuntergangspsychologie, die Umweltzerstörung hätte so dramatische Folgen, dass jetzt wichtig sei, dass erstmal alle dieses Problem bekämpften, bevor es wieder in die Teilbereichskämpfe zurückginge. Das legitimiert - nicht zu selten - rückwärtsgewandte, anti-emanzipatorische Strategien, wenn z.B. die Frauen am Herd gegen Müllberge aktiviert oder die EinwohnerInnen des am dünnsten besiedelsten Kontinents (Afrika) zu Sündenböcken einer vermeintlichen Bevölkerungsexplosion gemacht werden.

Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 47 f., mehr Auszüge)
In den Beziehungen zwischen den Geschlechtern wie auch in denen der Männer untereinander gab es also keinen plötzlichen Sprung von dem sexuellen Egalitarismus früher schriftlosen Gesellschaften zu einer männlichen "Priorität“. Wie Biehl bereits deutlich machte, ist es ziemlich unmöglich, die Herrschaft des Mannes über die Frau von der Herrschaft des Mannes über andere Männer zu trennen. Diese beiden Momente standen immer in dialektischer Interaktion miteinander; das Prinzip von Befehl und Gehorsam durchdrang allmählich die gesamte Gesellschaft und führte sogar bei den Frauen zu - wenn auch weniger stabilen - Hierarchien. Am unteren Ende einer jeden sozialen Leiter standen immer die Außenseiter - ob Mann oder Frau - und die Menge der Kriegsgefangenen, die sich im Zuge der ökonomischen Veränderungen zu einem beträchtlichen Sklavenheer auswuchsen.

Zwar tauchte in den 90er Jahren eine neue Begrifflichkeit auf, die vermeintlich das Zusammenhängende von Beherrschung in seinen verschiedenen Facetten bezeichnen sollte. Doch diese "Unity of Oppression", stark gemacht vor allem aus der aufkommenden Tierrechtsszene, die den drei vorhandenen eine vierte Kategorie, die der Unterdrückung nicht-menschlicher Tiere, hinzufügen wollte, war wieder nichts anderes als die Aneinanderreihung von Unterdrückungsverhältnissen unter weitgehendem Verzicht auf eine Analyse, was denn da eigentlich abgeht bei der Schaffung von Kategorien, bei der Durchsetzung und Sicherung von Privilegien und der Erzeugung von Abhängigkeiten.
Das wäre eigentlich Sache von AnarchistInnen gewesen. Schließlich müsste, wer eine herrschaftsfreie Gesellschaft will, doch besonders motiviert sein, genauer zu erfassen, was denn diese Herrschaftsformen ausmacht, wie sie wirken, entstehen und ob sie überwunden werden könnten - und wie. Doch weit gefehlt. Neuere Theoriebücher sind auf anarchistischen Büchertischen höchst selten, die wenigen anarchistischen Zeitungen beschränken sich, wenn sie überhaupt theoretische Texte bieten, auf die klassischen Kategorien der Unterdrückten und in anarchistischen Gruppen ersetzt oft die Parole das Nachdenken. Ein dringend erforderliches Update anarchistischer Debatte und Praxis beginnt daher mit der Auseinandersetzung über die Komplexität, Ursachen und Wirkungsmechanismen von Herrschaft - ohne beim jetzigen Stand stehenzubleiben. Es wäre ein wichtiger Beitrag eines lebendigen Anarchismus, aus einer radikalen, herrschaftsfeindlichen Perspektive heraus die Debatte mitzuführen, voranzutreiben und immer wieder darauf zu bestehen, sich nicht mit Teillösungen für Teilprobleme zufrieden zu geben. Sie können als Schritt in die richtige Richtung sinnvoll sein, ohne das größere Ganze aus dem Auge zu verlieren. Wird aber eine Verbesserung im Detail zur Legitimation oder Stärkung der allgemeinen Herrschaftsverhältnisse, so bedarf es einer klaren Kritik. AnarchistInnen sind nicht die Einzigen, die das aus ihrer Sichtweise heraus so vollziehen können. Aber es wäre typisch für sie. Ihr weitgehendes Fehlen ist daher eine Schwächung emanzipatorischer Positionen.

Im Folgenden sollen nun weitere Herrschaftsformen beschrieben werden, die bisher oft vergessen wurden, deren Überwindung aber notwendig ist auf dem Weg der Emanzipation.

Diskursive Herrschaft
Nicht der Polizeiknüppel, auch nicht eine Dienstanweisung des Arbeitsgebers, sondern schlicht gar kein formaler Zwang bringt uns dazu, in bestimmten vorgegebenen Bahnen und Normen zu denken. Dass wir Menschen in zwei Geschlechter einteilen, uns für Deutsche oder wahlweise einer anderen Nationalität zugehörig halten (und Andere nicht!), zwischen krank und gesund unterscheiden, Strafen und Knäste für notwendig erachten oder im dunklen Wald mehr Angst vor Kriminalität haben als in der Diskothek, basiert weder auf Erfahrungen noch auf überprüfbaren Zahlen - erst recht aber nicht auf einem direktem Zwang, das zu denken. Wir tun das quasi freiwillig in dem Sinne, dass wir keine direkten Nachteile erfahren würden, wenn wir es anders denken. Es könnte sogar von Vorteil sind, z.B. würde es die Gefahr krimineller Übergriffe verringern, sich mehr im Wald und weniger in Diskotheken (oder Familien, kirchlichen Heimen usw.) aufzuhalten.
Doch es kommt einem fremd vor, im Denken abzuweichen von dem, was scheinbar wahr ist, weil es alle denken und für wahr halten. Dabei sind fast alle Überzeugungen, Wertungen und Deutungen künstlich erzeugt. Sie entstammen meist nicht den Köpfen einzelner Autoritäten, sondern sind ein ständiger Fluss von Informationen und der mit ihnen verbundenen ideologischen Deutung. Solche Diskurse sind mächtige, kollektiv getragene Gedankensysteme. Sie beruhen nicht auf unveränderbaren Gesetzmäßigkeiten, sondern folgen Zeitgeist und der Steuerung durch privilegierte Kreise. Medien, Bildung und Politik sind drei Beispiele solcher Zentren, in denen wesentlich geprägt wird, was dann das allgemeine Denken ausmacht.


Im Original: Gegen Abstraktionen und Kategorien
Aus Bakunin, Michail: Gott und der Staat (Nachdruck 1995 im Trotzdem Verlag, Internet)
Die menschliche Individualität, ebenso die der unbeweglichsten Dinge, ist für die Wissenschaft gleichfalls unfaßbar und sozusagen nicht existierend. Deshalb müssen auch die lebenden Individualitäten sich gegen sie verwahren und schützen, um von ihr nicht wie das Kaninchen zum Nutzen irgendeiner Abstraktion geopfert zu werden; wie sie sich gleichzeitig gegen die Theologie, gegen die Politik und gegen die Rechtswissenschaft verwahren müssen, die alle gleichfalls an jenem abstrahierenden Charakter der Wissenschaft teilhaben und das unheilvolle Streben besitzen, die Individuen dem Vorteil derselben Abstraktion zu opfern, die nur mit verschiedenen Namen belegt wird; die Theologie nennt sie die göttliche Wahrheit, die Politik das allgemeine Wohl, die Rechtswissenschaft die Gerechtigkeit. ... (S. 82 f.)
In ihrer gegenwärtigen Organisation, als Monopolisten der Wissenschaft, die als solche außerhalb des sozialen Lebens bleiben, bilden die Gelehrten eine abgeschlossene Kaste, die viele Ähnlichkeiten mit der Priesterkaste hat. Die wissenschaftliche Abstraktion ist ihr Gott, die lebenden und wirklichen Individuen sind die Opfer; sie sind die geweihten und patentierten Opferpriester. ...
Die Wissenschaft kann ebensowenig die Individualität eines Menschen wie die eines Kaninchens erfassen. Das heißt, sie steht beiden gleich uninteressiert gegenüber. Nicht, daß ihr das Prinzip der Individualität unbekannt wäre. Sie erfaßt es vollständig als Prinzip, aber nicht als Tatsache. Sie weiß sehr gut, daß alle Tierarten, die Gattung Mensch inbegriffen, nur wirklich existieren als unbestimmte Zahl von Individuen, die geboren werden und sterben und neuen, ebenso vorübergehenden Individuen Platz machen. ... (S. 84)
Die Wissenschaft weiß das alles, aber sie geht nicht weiter und kann nicht weiter gehen. Da die Abstraktion ihre wahre Natur bildet, kann sie wohl das Prinzip der wirklichen und lebenden Individualität erfassen, aber sie kann nichts mit den wirklichen und lebenden Individuen zu tun haben. Sie beschäftigt sich mit den Individuen im allgemeinen, aber nicht mit Peter und mit Jakob, nicht mit diesem oder jenem Individuum, die für sie nicht existieren, nicht existieren können. Ihre Individuen sind, nochmals bemerkt, nur Abstraktionen. ... (S. 85)
Der ungeheure Vorzug der positiven Wissenschaft vor der Theologie, Metaphysik, Politik und dem juristischen Recht besteht darin, daß sie statt der von diesen Lehren verkündeten lügenhaften und unheilvollen Abstraktionen wahre Abstraktionen aufstellt, welche die allgemeine Natur oder die Logik der Tatsachen selbst, ihre allgemeinen Beziehungen und die allgemeinen Gesetze ihrer Entwicklung ausdrücken. (S. 87)


Eng verbunden damit sind das Ringen um Wahrheit und Definitionsmacht. Denn die Fähigkeit, Wahrheit definieren zu können, verhilft zu bemerkenswerter Macht via Beeinflussung der Menschen, die von der Wucht der Wahrheit erdrückt werden. Sie wagen ihre abweichende Auffassung nicht mehr zu formulieren oder verdrängen sie, die ja, wenn der Wahrheit entgegenstehend, als falsch gebrandmarkt ist.

  • Auch hierzu findet sich ein Abschnitt bei "Freie Menschen in freien Vereinbarungen"

Im Original: Wahrheit
Aus Bakunin, Michail: Gott und der Staat (Nachdruck 1995 im Trotzdem Verlag, Internet)
Die wahre Geschichtswissenschaft zum Beispiel ist noch nicht, und man beginnt heutzutage kaum, sich von ihren unendlich verwickelten Bedingungen eine Vorstellung zu machen. Aber nehmen wir an, diese Wissenschaft bestehe: Was wird sie uns geben können? Sie wird das treue, wohldurchdachte Bild der natürlichen Entwicklung der allgemeinen, materiellen und ideellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen, religiösen, philosophischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaften geben, welche eine Geschichte gehabt haben. (S. 87)

Kollektive Identitäten und Vereinnahmung
Ganz ohne direkten Zwang, wohl aber über massive Beeinflussung und Diskursbildung werden kollektive Identitäten geschaffen. Diese funktionieren über den Mechanismus von Ein- und Ausschluss, Dabei- und Draußensein, Dazugehören und nicht, Innen und Außen. Nur selten sind sie mit Formalien verbunden, wie der Nationalität oder einer Vereinsmitgliedschaft. Wichtiger als Formales ist die Produktion des Wir-Gefühls und die Konstruktion von Merkmalen, welche angeblich für die eigene Gruppe oder "die Anderen" typisch sein sollen. Kollektive Identität entsteht über das Gefühl des Wahrheitsgehaltes solcher Deutungen, die sich aber tatsächlich nur durch gerichtete Wahrnehmung verstetigen. Wer von der Richtigkeit z.B. einer typischen Verhaltensweise einer abgegrenzten Gruppe ausgeht, wird diese mit hoher Wahrscheinlichkeit in ihr auch immer wieder entdecken.

Jeder Mensch lebt in verschiedenen kollektiven Identitäten. Es ist möglich, diese zu demaskieren und für sich selbst aus dem Denken zu streichen, dennoch bleibt die Wirkung auf das Außen und die Vereinnahmung. So kann, wer deutsch spricht und so aussieht, wie Bio-Deutsche* (bei aller Unterschiedlichkeit) durchschnittlich so aussehen, nicht verhindern, von anderen als Deutscher wahrgenommen zu werden. Ebenso wenig ist zu verhindern, dass privilegierte Andere im Namen aller Deutschen, also auch von einem selbst, irgendwelche Erklärungen abgeben.
Möglich ist zwar, sich bewusst als "multikulturelles" Wesen zu begreifen, d.h. verschiedenen Identitäten zugehörig bzw. im Laufe der Zeit, oft schon des Tagesverlaufs wechselnd. Gänzlich beenden lassen sich die Mechanismen der Zuordnung zu Gruppenidentitäten und die Vereinnahmung durch irgendwelche SprecherInnen der kollektiven Identität aber nicht allein durch eigenes Erkennen des Problems. Die Zerschlagung kollektiver Identitäten ist eine anstrengende Sache, denn sie werden durch diskursiv erzeugte Wahrheiten und formalisierte Privilegien gespeist.

  • Abschnitt zu "Wir"-Gefühl und kollektiven Identitäten bei "Freie Menschen in freien Vereinbarungen"
  • *Bio-Deutsche: Der Begriff meint Deutsche nach Abstammungsrecht. In der BRD gilt die-/derjenige als deutsch, welcheR von deutschen Eltern abstammt (Geburts-Nationalität).

Funktions- und Deutungseliten
Im Fokus vieler Herrschaftskritiken stehen formale Machtinstanzen, oft grob als "Staat" oder "Kapital" zusammengefasst. Eine genauere Beschreibung, wie die funktionieren, worauf ihre Macht beruht und wie sie wirkt, folgt seltener. So fehlen meist Analysen, wer in dieser Gesellschaft wie Einfluss ausübt und über Privilegien verfügt. Diese auf formale Posten oder Besitz an Produktionsmitteln zu beschränken, ist nämlich höchst unvollständig. Tatsächlich gibt es unzählige Stellschrauben, an denen gesellschaftliche Verhältnisse verändert werden können. Wer formale Gewalt hat, kann deshalb noch lange nicht am besten Diskurse beeinflussen. Das können Medien und Bildungseinrichtungen am besten, deren führende Figuren folglich eine prägende Rolle im Konzert der Mächtigen einnehmen. Andere verfügen über bessere Beziehungen, vernetzen verschiedene Sphären oder setzen mit populistischen Zuspitzungen auf die Macht der Demagogie.
In einer Gesellschaft der Deutungen und Funktionen bilden solche Menschen die Elite. Das schafft eine offene Sphäre der Privilegierten, zu denen natürlich weiterhin die Besitzenden oder - heute ja häufiger - VerwalterInnen und EntscheiderInnen über Produktionsmittel sowie die InhaberInnen formaler Macht in Regierungen, Behörden und Gerichten gehören.


Alters- und Bildungspyramiden
Dass die drei Hauptkategorien, gegen deren Diskriminierungswirkung sich "linker" Protest hauptsächlich richtet (Klasse, Geschlecht, Rasse), nicht alle Unterdrückungsformen widerspiegeln, wurde bereits erwähnt. Tatsächlich stehen in dieser Gesellschaft viele Pyramiden nebeneinander und überlagern sich. Menschen werden nach vermeintlichen Merkmalen sortiert und gestuft. Das gilt für Alter, Abschlüsse, Titel und zertifizierter Bildungsgrad, Sprache und Rhetorik, Kleidung und viele soziale Codes.

Metropole und Peripherie
Schließlich sei als Beispiel noch das Gefälle zwischen den Zentren von Verwaltung, Kapital und Kultur zu den dünner besiedelten Außenräumen benannt. Letztere dienen der materiellen Reproduktion der Metropolen. Hier werden Rohstoffe gewonnen, gleichzeitig müssen sie das Ausgeschiedene der Metropolen aufnehmen. Dieses Prinzip verändert sich auch nicht, wenn innerhalb von Metropolen Teilzonen ausgegliedert und zu Peripherien erklärt werden, z.B. Ghettos oder Gefängnisse. Ebenso wenig ändert sich das Prinzip, wenn sich in globalen Peripherien, z.B. armen Ländern, einzelne Metropolen bilden. All das führt nur zu einer komplexeren Überlagerung und Ineinander-Verschachtelung, löst aber das Verhältnis von Metropole und Peripherie nicht auf. Dieses stellt im Großen etwas Ähnliches dar wie die Rollenverteilung in der patriarchalen Kleinfamilie, wo die Frau das reproduktive Hinterland des fremdbestimmt Arbeitenden war (der absurderweise "Ernährer" genannt wurde, obwohl diese Tätigkeit ihm nun gerade nicht zufiel).

Texte zur modernen Herrschaftsanalyse

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