Demokratie

STREIT: ORGANISIERTE VIELFALT UND ANTRIEB FÜR DEN WEITEREN PROZESS

Anbahnung von Kommunikation und Kooperation


1. Einleitung
2. Anbahnung von Kommunikation und Kooperation
3. Kreative Streitorte schaffen und Methoden "erfinden"
4. Alltagstauglichkeit: Direkte Intervention üben
5. Links

Streit kann viele Ursachen haben. Eine davon ist, dass die Handlung des einen (oder mehrerer Personen) der anderen in den Weg gerät. Ein Interessenskonflikt entsteht. Wird er nicht erkannt, setzt sich eine Auffassung mit der Macht des Faktischen durch - und kann nachgelagerte Konflikte produzieren, die auf Unzufriedenheit und dem Gefühl, übergangen worden zu sein, basieren.
In einer herrschaftsförmigen Gesellschaft, z.B. dem demokratischen Rechtsstaat, ist das Alltag und interessiert in der Regel nicht. Die InhaberInnen privilegierter Stellen wissen sich im Besitz legitimierter Gewalt, d.h. sie können ihre rechtlich verbrieften Handlungsvorteile durchsetzen. Bei auftretenden Probleme dürfen sie eine Ordnungstruppe einsetzen, die denen auf die Finger (oder Köpfe) haut, die der Interessensdurchsetzung widersprechen. Das Recht ist hier als Faustrecht gut erkennbar - ironischerweise bezahlen die Verprügelten ihre PrüglerInnen auch noch selbst (wenn nicht: nochmal Prügel). Das heißt, die Existenz von Herrschaft macht den Gebrauch selbiger einfach, weil Entscheidungen über die Köpfe anderer möglich sind. Solange keine besonderen Ungeschicklichkeiten hinzukommen (wie im Herbst 2010 im Zuge der Umsetzung des Projektes Stuttgart 21, wo ein selten dummer Polizeieinsatz die Durchsetzungskraft der Regierenden stark schwächte, die erst eine geschickt inszenierte Schlichtungsshow wieder herstellte), funktioniert das Modell.

Die Abwesenheit von Streit kann daher immer ein Zeichen dafür sein, dass Interessen und Gegensätze ausgeblendet oder niedergeworfen werden. Entsteht Streit, so ist schon mal wahrscheinlicher, dass die Unterschiede wenigstens zur Kenntnis genommen werden. Das bereits ist ein Grund für eine Streitkultur. Der Streit sollte wortwörtlich gesucht werden - nicht in dem Sinne, dass künstliche Meinungsunterschiede zur eigenen Inszenierung vom Zaun gebrochen werden (wie es Opposition in ihrer Rolle oft tut), sondern dass genau hingeguckt wird, welche Auswirkungen Projekte oder Positionen haben und wo sich Gegenmeinung bilden könnte.
Erst wenn das gelungen ist, stellt sich die weitere Frage, wie nun diese Meinungsunterschiede ausgetragen werden können. Dass dieser Prozess ingangkommt, ist die Voraussetzung für viel, u.a. für die Entwicklung neuer Vorschläge und für Kooperationen bei der Umsetzung. Auch das ist ein Grund, warum unter den heutigen Verhältnissen ein produktiver Streit regelmäßig unterbleibt. Das Projekt ist wegen des Rückgriffs auf die Durchsetzungstruppen auch ohne breite Akzeptanz durchsetzbar, und es braucht auch nicht nach der besten Lösung gerungen werden, wenn doch eine schlechtere auch durchprügelbar ist (oder schlimmer: nicht einmal durchgeprügelt werden muss, weil die sanfteren Methoden der Diskurssteuerung oder faktischen Macht ausreichen).

Ja/Nein-Entscheidungen können eine zusätzliche Ursache sein, Streit zu verhindern, der eigentlich nötig wäre - oder seine Form in Richtung des intellektuellen Armdrückens zu verändern. Diese Wirkung haben parlamentarische Abstimmungen genauso wie BürgerInnenbeteiligung und Volksabstimmungen, die immer auf nur einen, bereits ausgearbeiteten Vorschlag Bezug nehmen. Zum einen liegt das Machtpotential bei Ja/Nein-Abstimmungen darin, die Frage entwerfen zu können. Denn die Formulierung steuert bereits sehr stark die Wahrnehmung des Problems und die spätere Entscheidung. Bei Konsensabstimmungen mit Vetorecht kann die Entscheidung, wie herum die Frage gestellt wird, wichtiger sein als der Abstimmungsprozess selbst (wer z.B. will, dass das Licht ausgeschaltet wird, formuliert die Frage "Soll das Licht anbleiben?" und sorgt für ein Veto). Dieser erhebliche Einfluss bei der Fragestellung schafft ein unüberwindliches Dilemma, da die Fragestellung dem eigentlichen Streitvorgang vorausgeht, also oft intransparent und von Hegemonialinteressen durchzogen verläuft.
Das zweite Problem ist die Verkürzung der Frage. Sie blendet Varianten und zunächst nebensächlich erscheinende Widersprüche aus. Menschen müssen sich den beiden Positionen zusortieren, statt in Grautönen oder "bunt", d.h. in frei entwickelten Alternativen zu denken.

Streitkultur: In Farben denken
Ein produktiver Streit ist mehr als Entscheidungsfindung. Er ist sogar vor allem das Andere, denn das Entscheiden schafft Schwarz-weiß-Denken - entweder das Eine oder das Andere, ich oder die/der andere. Über die Veränderung der Abstimmungsmethodik können auch Grautöne entstehen, also Kompromisse oder Konsense zwischen den Vorschlägen. Streitkultur will aber vor allem Kreativität hervorbringen, neue Ideen und Kombinationen zu entwickeln. Das Ergebnis will über die Ausgangspositionen hinausgehen. Streit also muss aufklärerisch sein, scheinbare Vorgaben (Diskurse, Normen ...) einreißen, Ängste abbauen, innovatives und kreatives Denken fördern. Das ist ein methodischer Anspruch mit dem Ziel, eine Buntheit an Handlungsalternativen zu erreichen.


Abbildung: Von Schwarz-weiß bis bunt - die Möglichkeiten der Streitkultur (aus dem Reader "HierarchNIE!")


Im Original: Sich einigen statt richten
Aus "Papa, Du störst" in: Süddeutsche Zeitung, 21.9.2013 (S. 39)
Klohr hat sich drei neue Regeln ausgedacht, und er legt Wert darauf, dass es keine Spielregeln sind, sondern Anstandsregeln. ... Drittens: Es wird ohne Schiedsrichter gespielt. Ein Schiedsrichter, der nicht da ist, kann von keinem aufgebrachten Vater beleidigt werden, der seine verlorenen Träume in sein Kind hineinprojiziert; und auch von keinem überambitionierten Trainer, der zu viel Klopp geguckt hat. Bei Klohrs Modell sollen die Kinder selbst entscheiden, wer den Ball ins Aus geschossen und wer gefoult hat. Sie sollen lernen, Regeln einzuhalten, die viele Erwachsene vergessen haben. Das Erstaunliche ist: Es funktioniert - so lange die Eltern als "Störparameter" (Klohr) auf Distanz gehalten werden. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so erstaunlich. Auf dem Bolzplatz funktioniert es ja auch. Wenn sich das Modell im organisierten Spielbetrieb durchsetzt, wäre es trotzdem eine kleine Revolution. "Damit würden wir den Kindern einen riesigen Gefallen tun", sagt Hink. Klohr spricht sogar vom "größten Präventionsprojekt, das dieses Land je gesehen hätte". Soweit ist es noch nicht. Aber es geht langsam los. Im Fußballkreis Aachen, wo Klohr herkommt, wurde 2007 erstmals eine sogenannte "Fair Play Liga " für die F-Jugend getestet. ... Seit 2009 sind die neuen Regeln in den meisten Kreisen im Fußballverband Mittelrhein von der G- bis zur E-Jugend verbindlich. Nach udn nach wurde das Konzept am Niederrhein sowie in den Landesverbänden Rheinland, Südwest, Hessen, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bayern und Saarland ausprobiert. Seit diesem Sommer ist auch Berlin dabei. Die Kinder übernehmen die Macht über ihren Fußball. ...
Die Idee vom modernen Bolzplatz erfordert einen Mentalitätswandel bei Vereinen, Betreuern und Eltern. Das kann dauern. Zu dieser Idee gehört auch, dass keine Spielergebnisse an den Verband gemelet, keine Tabellen geführt udn keine Staffelmeister gekürt werden. Nicht um das Siegen, sondern um das Spielen soll es gehen. Kinder verstehen das offenbar ohne Probleme, Erwachsene haben damit größere Schwierigkeiten. Beim Berliner Fußballverband wissen sie, dass sich viele Trainer und Eltern neuerdings untereinander anrufen, um Ergebnisse auszutauschen und Tabellen zu erstellen.


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