Demokratie

AUSGRENZUNG BEIM CASTORPROTEST IN LÜNEBURG

Erster Castor-Platzverweis


1. Erster Castor-Platzverweis
2. Bericht zum Anna&Arthur-Plenum am Freitag, den 8.11. mit Rauswurf(versuch)
3. Persönlicher Erfahrungsbericht zu den Verboten im Clamart Park

oder: Warum es dringend nötig ist, Eliten zu überwinden – auch in den eigenen Reihen!

Sonntag, 12.10.2002, Lüneburg. Die Elite des Castorprotestes trifft sich zum sogenannten Delegiertentreffen. Probleme mit StellvertreterInnentum gibt es hier von vorneherein nicht. Doch die Elite will Elite sein – mit allen modernen Mitteln der Herrschaft. Und so erfolgte als Tagesordnungspunkt 1, auf Antrag des Delegierten einer autoritären Partei, der Rauswurf eines Akteurs aus dem Treffen. Was in der Debatte um diesen Rauswurf geschah, zeigt deutlich, wie sich Eliten organisieren und verteidigen. Welche Rolle ihre willfährigen UnterstützerInnen spielten und warum es nötig ist, endlich einen Schlußstrich zu ziehen unter Jahrzehnte herrschaftsförmiger politischer Arbeit gerade in Deutschland.

Überraschend war das alles nicht. Rein zufällig verabredeten sich in Lüneburg im gleichen Haus und zur gleichen Zeit zwei „Szenen“ zu einer Vorbesprechung zu den Castortransporten. Einerseits die Eliten der Anti-Atom-Bewegung, vor allem älterer Männer (und wenige Frauen), die in immer ähnlicher Zusammensetzung die Köpfe der unabhängigen Anti-Atom-Zusammenhänge bilden. Sie sind neben X-tausendmalquer und dem NGO-Spektrum eine der großen Drei im Anti-Atom-Filz, der zwar das gegenteilige Ziel verfolgen, aber eine ähnliche Struktur aufweist wie die Pro-Atom-LobbyistInnen und die ihnen zuarbeitende Staatsgewalt. Die Anti-Atom-Konferenzen sind ihre Großtreffen, einige Rundbriefe und die anti atom aktuell überwiegend ihr Sprachrohr. Soweit – sogut. Das allein wäre noch nicht herrschaftsförmig. Doch die Wichtig-Männer (und wenige Frauen) der Szene betreiben die Absicherung ihres Elitedaseins durchaus systematisch.
Die zweite Runde, die sich am gleichen Ort traf, war kleiner und zu dem Zeitpunkt noch unvollständig. Anwesend waren schon zwei Menschen aus verschiedenen Städten, die miteinander im „Netzwerk für kreativen Widerstand“ vernetzt sind und dort mit anderen über Ideen gegen den Castor diskutiert hatten. In diesem Zusammenhang gibt es kein StellvertreterInnentum, keine SprecherInnenräte, PressesprecherInnen und andere Formen von Eliten. Herrschaftsverhältnisse treten dort auch auf (leider), ihr Abbau ist aber ständig Gegenstand von Debatte und Handeln.

Einzelne der beiden Runden kannten sich und so lud ein Mensch der ersten die beiden Anwesenden der zweiten ein, doch am Delegiertentreffen teilzunehmen, da ja über dasselbe geredet werden sollte und so eine Koordination möglich wäre. Tatsächlich verteilten LüneburgerInnen dann auch eine Tischvorlage mit Aktionsvorschlägen für Lüneburg – das wollen die Kreativ-Widerständler ja auch. Doch es gab einen kurzen Prozeß. Noch bevor es losging, fragte der für ständige Rauswurf-Anträge bekannte C. vom BundessprecherInnenrat der autoritären Partei Ökologische Linke: „Finden wir es o.k., daß wir hier im Raum mit jemandem zusammen tagen, der Kontakte zum VS hatte?“ Und damit begann das fröhliche Eindreschen auf eine Person, die mensch ohnehin weghaben wollte, war sie doch bekannt als entschiedener Gegner der Existenz von Eliten und hierarchischen Strukturen. Der eigentliche Vorwurf eines knapp 2 Jahre alten VS-Kontaktes (jenseits der Kritik an dem Kontakt gibt es keine konkreten Vorwürfe, daß Aussagen, Kooperation u.ä. vorgekommen seien) schien denen, die den Rauswurfen organisieren wollten, denn auch wenig zukräftig – und so wurde wild durcheinander alles mögliche festgestellt:
  • Der Betreffende sei „Kollaborateur“, sagte ein Mann aus Lüneburg (?) ohne weitere Begründung.
  • Der Eliteangehörige F. aus Bremen formulierte, daß der Betreffende seinen VS-Kontakt auch heute noch richtig findet. Da das Gegenteil zum einen bereits in dem Bericht über den VS-Kontakt zu finden ist und F. auch persönlich bekannt ist (Workshop auf dem Wendlandcamp dazu), ist klar, daß er hier bewußt log, um die Elite von einem Kritiker zu befreien.
  • Die beiden Hinzugekommenen seien keine richtigen Delegierten (was stimmt, da sie zwar aus einer Diskussion mehrerer Basisgruppen heraus auf das Treffen fuhren, aber diese eben nicht vertreten, weil solche Vertretung als Herrschaftsform abgelehnt wird) – und wer sich den Spielregeln der Elite nicht unterwerfe, sei nicht gewünscht.
  • Es sei jetzt alles unter Zeitdruck und deshalb könne nicht mehr drüber diskutiert werden – um aber den Castor-Widerstand nicht zu schwächen, möge die betreffende Person doch selbst gehen. Ein Mann aus Lüneburg (?) steigerte das zum Vorwurf des unsolidarischen Verhaltens. Die Täter-Opfer-Struktur wurde dadurch komplett umgedreht.
  • Nicht-dominante Personen in der Runde (von denen einige auch da waren) zeigten ein anderes Verhalten: Sie verließen unter Protest den Raum und kündigten an, erst wiederzukehren, wenn die betreffende Person weggegangen sei oder entfernt würde. Damit gaben sie „ihren“ Eliten ein neues Argument, nämlich den Hinweis darauf, daß es doch wichtig sei, daß die alle teilnehmen könnten – offenbar gibt es mindestens zwei Klassen ... die auf deren Anwesenheit verzichtet werden kann und die, die zum Clan gehören. Der Abgang einer weiteren Person als Reaktion auf den Rausschmiß z.B. war ALLEN Anwesenden komplett gleichgültig – eine exakte Wiederholung eines ähnlichen Vorkommnisses bei einem Treffen in Stuttgarter Zusammenhängen, nur daß dort ein ganz anderer Grund benannt wurde ... der ist ja auch weitgehend egal!
  • Das Gespräch lief ständig als Debatte von ca. 10 gegen 1. Zudem wurde die eine Person ständig unterbrochen und beschimpft bzw. aufgefordert, zu verschwinden (als Zwischenruf). Als die einmal den Ökoli-Vertreter, als dieser zum x-ten Mal unterbrach, anschnauzte „Halt doch mal Dein Maul!“, entstand sofort eine Debatte über den bösen Stil der betreffenden Person. Auch hier wird Wahrnehmung manipuliert. Unterbrechen, Beschimpfen usw. sind in elitär ausgerichteten Herrschaftsstrukturen immer dann akzeptiert, wenn sie sich gegen die richten, die sich der kollektiven Identität, dem Clan/Seilschaft entziehen und gegenüber dieser eine eigenständige Position beziehen.
  • Ein früherer Ausschluß gegen AktivistInnen rund um das Atomforum in Stuttgart wurde als Argument angebracht, daß alles schon diskutiert und eine erneute Entscheidung nicht nötig sei.
  • Immer wieder wurde sich auf einen „Konsens der Linken“ bezogen. Dieses Gerede ist typisch für das Ringen um Machterhalt der Eliten. Sie bestimmen, was die Meinung der Linken ist über gerichtete Kommunikation – und verklären diese Setzungen als „Konsens“, als hätte es jemals ein Treffen oder irgendeinen anderen Abstimmungsprozeß aller Linken gegeben. Solche Kritik an Abweichenden ist ja bereits in sich widersprüchlich, weil die Existenz von Kritik bereits beweist, daß es den Konsens nicht gibt.

Es ließen sich einige Beispiele für die Art von Herrschaftsausübungnennen. Doch das Detail ist ebenso uninteressant wie der konkrete Vorgangüberhaupt. Wichtiger ist etwas anderes: Insgesamt ist das Ganze nämlichnur ein kleiner Baustein für eine Praxis von herrschaftsförmigerOrganisierung, wie sie in den politischen Strukturen ganz besonders in Deutschlandgang und gebe ist: Ob in „linken“ Zeitungen, in Netzwerken oder NGO, Internetprojektenoder Camp-/Kongreßvorbereitungsgruppen – immer gibt es die Eliten,bestehend oft nur aus einer oder wenigen Personen. Sie sichern ihre Machtab über regulierte Informationsflüsse, abgeschottete Treffen, Sicherungdes Zugriffs auf Daten und Ressourcen (Geld, Materialien, Räume, Postenusw.). über gerichtete Kommunikation in Rundbriefen, bei Redebeiträgenauf Demos und Treffen bis hin zu Ausgrenzungen, wo das alles nichts hilft.Kein Zusammenhang in Deutschland ist zur Zeit sichtbar, wo das nicht so ist.
Das aber hat viel damit zu tun, wie wirksam politische Aktion in der Gesellschaftist. Die Strukturen entsprechend weitgehend dem Staat selbst. Die AkteurInnenverhalten sich kungelig nach innen, die Eliten absichernd, die Machtressourcenumklammernd. Nach außen (z.B. zu anderen politischen Zusammenhängenmit ähnlichen Innenstrukturen) verhalten sie sich dagegen hochkonkurrend.Eben wie Parteien zueinander, wie Nationen, Fußballmannschaften, usw.

Jetzt über den Lüneburger Vorgang, die Selbstverteidigung der Elite*gegen ihre Infragestellung, zu diskutieren, ist verkürzt. Wichtig wäreeine grundsätzliche Debatte – und vor allem das Handeln. Gegen herrschaftsförmigeGesellschaft, gegen Markt und Staat, Diskriminierung und gerichtete Kommunikationkann nur eine Bewegung erfolgreich sein, die diese „Spielregeln“ nicht selbstreproduziert. Und zwar nicht, weil Herrschaft nur ohne Herrschaft gebrochenwerden kann (solche Axiomen, d.h. Dogmas ohne weitere Begründung, setzeneher die FetischistInnen der Gewaltfreiheit oder der ArbeiterInnenklassenlehre),sondern weil Emanzipation niemals ein einmaliger Akt sein kann, sondern nurein immerwährender Prozeß – der aber nicht gelingen kann, wennnur eine Elite durch die andere ersetzt wird oder zu einen Elite (Staat,Konzerne, Medien & Co.) eine weitere in den internen Strukturen hinzukommt.
Hinzu kommt, daß Eliten immer untereinander durchlässig sind unddas gemeinsame Interesse verfolgen, als Elite zu bestehen. Staat und Marktstützen Eliten, so fordert z.B. das Demorecht eine Demoleitung und Ordner,das Vereinsrecht einen Vorstand, die Presse fordert SprecherInnen – und diemeisten politischen Gruppen unterwerfen sich diesen Spielregeln ... oft auchgerne, denn das eigene Bedürfnis der Eliten, Elite zu sein, wird sozusätzlich abgesichert. Ebenso springen Menschen, die in der Elite agieren,zwischen Eliten hin und her. Die Leitungsgremien, Geschäftsstellen usw.von NGOs, Parteien, Konzernen, Netzwerken, Medien usw. sind untereinanderdurchlässig ... dazu bedarf es keiner neuen Beweisführung unterdem Label „attac“, solche Prozesse sind sei Jahrzehnten Praxis.

Das Gegenmodell ist das der „Organisierung von unten“. Niemand vertritt mehrjemanden anders. Keine Runde kann per se Entscheidungen treffen, die anderebetreffen. Alles ist das Miteinander, die freie Kooperation und Vereinbarungder AkteurInnen und ihrer Zusammenschlüsse. Wo immer darüber diskutiertwird, was dann viele angehen soll, müssen auch diese immer zugelassenwerden. Es gibt keine Form von „Illegalität“, sprich der Ausgrenzungals Übernahme der Spielregel soziale Ausgrenzung oder Ausweisung vonMenschen. Nichts gilt per se, sondern alles ist Gegenstand der Vereinbarung.Die Organisierung erfolgt ebenso als Handeln der konkreten Menschen und ihrerGruppen. Ein umfangreicheres Ideenpapier dazu ist auf einen Treffen zu „Organisierungvon unten“ entstanden. Es ist ein Diskussionspapier, parallel dazu entwickeltesich eine Praxis der Organisierung, z.B. die offenen Presseplattformen (stattin Eliten ernannter oder selbsternannter PressesprecherInnen) oder der Aufbauoffener Infrastruktur bei Aktionen (Direct-Action-Points) oder dauerhaft(Projektwerkstätten usw.).

Diese Modelle stehen grundsätzlich gegeneinander. Über besondersextreme Formen der Machtausübung, wie in Lüneburg geschehen, zustreiten, wäre falsch. Es wäre eine Debatte, die die Herrschaftder Eliten modernisiert. Die Frage, die nötig ist, ist die nach derExistenz der Eliten. Sie machen seine Fehler, ihre Existenz ist der Fehler.Sie sind Teil einer Organisationsstruktur, die die Spielregeln der existierendenGesellschaft übernimmt und eine Kollektivität konstruiert, dieder Nation im Kleinen ähnelt. Dieses grundsätzlich zu überwindenund eine Form kreativer Widerständigkeit und selbstorganisierter Selbstbestimmungin Alltag und Politik zu entwickeln, wäre die grundsätzliche Alternative.

Fuck Eliten! Hier und überall! Herrschaft runterfahren!

Über den/die AutorIn dieses Textes darf spekuliert werden– das machen Eliten und ihre willigen Vollstrecker gern. Weitere Infos zu Organisierung jenseits von Elitismus und Herrschaft und auf dieser Seite. Der Text ist verfaßt worden für das "Streitblatt" in Lüneburg und auf deren Anfrage hin.

*Elite ist keine abgegrenzte „Schicht“ oder „Klasse“. Die Personen könnenwechseln (wenn auch ein Eindringen in Eliten meist der Akzeptenz der bestehendenElite bedarf), es können auch neue Teile von Elite entstehen – immeraber gibt es die Elite als strukturell mehr oder weniger gut erkennbare Ebene.Neuere Eliten in der Bewegung oder der Gesellschaft entstanden z.B. durchattac oder die Antideutschen – jenseits der Kritik an ihren politischen Konzeptenbzw. Konzeptionslosigkeit sind beide von Beginn an als Elite organisiert).

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