Demokratie

KURZNACHRICHTEN ZU REPRESSIONSTHEMEN

2021


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November
Gericht bestätigt: Laienverteidigung darf wie Anwält*innen auf Gefängnisbesuch
Eine als (Laien-)Verteidigerin zugelassene Aktivistin hat vor dem Landgericht Lübeck geklagt gegen die Verweigerung eines Verteidigungsbesuchs im Knast und gewonnen. Die Entscheidung besagt, dass sich das Verteidigungsverhältnis auf das Verfahren inklusive Strafvollzug erstreckt, also ein Besuch zulässig gewesen wäre. Der hätte kein normaler Besuch, sondern eine Besprechung in Rahmen der Verteidigung sein müssen, also unüberwacht, in der Dauer nur auf die Geschäftszeiten im Gefängnis begrenzt und ohne Abzüge beim sonstigen Besuchsrecht der inhaftierten Person. Die Entscheidung steht in anonymisierter Form online zur Verfügung. Ein Kommentar dazu.

Corona im Knast
In einem Brief vom 18. Oktober 2021 informierte ein Gefangener über zwei Corona-Ausbrüche in der Justizvollzugsanstalt Untermaßfeld vom 29. September und 18. Oktober. Die JVA reagiert darauf mit dem Einschluss der gesamten betroffenen Station, d. h. volle Isolation der Gefangenen, ohne Hofgang, über mehrere Tage. Die Gefangenengewerkschaft unterstützt die Forderungen nach Hofgängen und mehr Freiheiten mindestens für Geimpfte. Quelle

Videoaufnahmen von Polizei im öffentlichen Raum sind legal
Das Landgericht Osnabrück hat am 24.9.2021 festgestellt, dass Videoaufnahmen von Polizeieinsätzen in der Regel straffrei sind (Az. 10 Qs 49/21). Auszug: „Die von den Polizeibeamten vorgenommenen Diensthandlungen seien im öffentlichen Verkehrsraum vorgenommen worden. Die insoweit gesprochenen Worte seien in faktischer Öffentlichkeit gesprochen, weil der Ort frei zugänglich gewesen sei. Die Strafvorschrift des § 201 StGB, die die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes unter Strafe stelle, erfasse solche Äußerungen nicht. Die Vorschrift schütze die Unbefangenheit der mündlichen Äußerung. Diese Unbefangenheit sei bei dienstlichem Handeln, das rechtlich gebunden sei und der rechtlichen Überprüfung unterliege, nicht tangiert. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass gem. § 201 a StGB das Anfertigen von Bildaufnahmen im öffentlichen Raum – von wenigen Ausnahmenfällen abgesehen – straffrei sei. Es sei kein Grund ersichtlich, warum das Aufnehmen von Tonaufnahmen im öffentlichen Raum strenger geahndet werden sollte als die Fertigung von Bildaufnahmen in demselben Umfeld.“

Angriffskriege, Menschenrechte und Strafverfolgung
Der überstürzte Abzug aus Afghanistan, fortgesetzte Kriege und Besetzungen afrikanischer und asiatischer Staaten durch NATO-Truppen sowie die Destabilisierung unerwünschter Regierungen weltweit werfen die Frage auf, wieso die Verantwortlichen selten vor Gericht stehen. Stattdessen wird staatliche Gewalt, wenn sie von demokratisch gewählten Regierungen ausgeht, als Einsatz für die Menschenrechte verschleiert, obwohl sie als ungewollte oder gezielte Wirkung oft Regimes an die Macht bringt, die dann zwar imperialistische Interessen bedienen, aber die sog. Menschenrechte missachten. In zwei eindrucksvollen Bänden „Quellen zur Geschichte der Menschenrechte“ hat Daniel Stahl (2021, Wallstein-Verlag in Göttingen, 946 S., 92 €) viele Dokumente zusammengestellt, die politische Hintergründe und, aus der Sicht der Betroffenen oder direkt vor Ort Handelnden, den praktischen Kampf um Menschenrechte durchleuchten. Zudem hat Eugenia Goncearova in ihrer Dissertation „Das Verbrechen der Aggression nach dem Rom-Statut und die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes“ genauer untersucht (2021, LiT-Verlag in Münster, 364 S.). Eine große Rolle spielt dabei das Ringen um die Definition der Aggression – ein Einfallstor zur Durchsetzung politischer Interessen. Deutlich werden auch Verfolgungshindernisse durch Immunitätsregelungen und nationale Zuständigkeiten.

Die neue Masche der Polizei: Kostenbescheide und zivilrechtliche Forderungen
Baumbesetzungen, Abseil- und Ankettaktionen an wichtiger Infrastruktur – die Weiter-so-Fraktionen in Kapital und Politik sehen sich vermehrt mit Aktionsformen konfrontiert, die spektakuläre Bilder liefern, zudem sehr geschickt die strafrechtlich bleibenden Möglichkeiten ausnutzen und so starke Wirkung entfalten können. Um politischen Protest dennoch einschränken zu können, werden den Aktivistis immer häufiger die Kosten von Polizei- und Feuerwehreinsätze auferlegt. Außerdem organisieren Anwaltskanzleien, oft auf Anregung der Ort agierenden Polizei, Schadenersatzklagen derer, die vom Protest gestört werden. Den Menschen, die gewollt oder ungewollt unter den Pfändungsgrenzen (ca. 1200 €/Monat) leben, werden diese Forderungen kaum bedrohlich erscheinen. Alle anderen sollten sich aber darauf vorbereiten. Informationen bietet ein neuer Flyer zum Zivilrecht.

Oktober
Berufungsverfahren im Ella-Prozess
"Ella" steht inzwischen als Synonym für eine bizarre Rachekultur des Staates gegen Menschen, die ihm eines seiner Lieblingsspielzeuge wegnehmen wollen - das Auto. Am 26.11.2020 wurde eine bis heute namentlich unbekannte Person (genannt: Ella oder UP1) im Dannenröder Forst verhaftet, monatelang eingesperrt und dann vom Amtsgericht Alsfeld zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Die ganze Sache basierte auf erfundenen Abläufen seitens der Polizei. Staatsanwaltschaft und Gericht waren die Lügen bekannt, aber die Verurteilung war politisch beschlossene Sache zur Abschreckung aller Aktiven. Nun sind für die Berufungsverhandlung am Landgericht Gießen die Termine festgelegt worden. Es beginnt am 13. Januar um 9 Uhr. Die weiteren Termine (geplant): Freitag, 14.1., Mittwoch, 19.1., Mittwoch, 2.2. Sicherungstermin, Freitag 4.2. und Montag, 14.2.*
Internetseite: ella.siehe.website (mit Film "Ella" über die Abläufe und die Lügen seitens Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht)
*Termine verschoben auf 17., 19., 25.1. und 4., 9, 15. und 15.2.

Absurdes Urteil gegen Aktionsschwarzfahrer
„Der Angeklagte trug bei allen Fahrten deutlich sichtbar einen gelben Zettel an seiner Kleidung, auf dem unter anderem stand: ‚Ich fahre umsonst (d. h. ohne gültige Fahrkarte)‘. Zudem verteilte er in den Zügen an Fahrgäste einen Flyer, der über den Hintergrund seines Fahrens ohne Fahrerlaubnis aufklärte und insbesondere seine Ansicht zum Thema Klimawandel darlegte.“ Das steht im Urteil des Amtsgerichts Düren vom 5.7.2021 (Az. 507 Js 146/21-82/21). Trotzdem sah das Gericht darin eine „Erschleichung von Leistungen“ nach § 265a Strafgesetzbuch. Denn: „Im Zug ging er nicht aktiv auf die Mitarbeiter der Deutschen Bahn AG zu, sondern offenbarte sein Mitfahren ohne gültigen Fahrausweis erst im Rahmen einer routinemäßigen Kontrolle.“ Das widerspricht jeglicher bisheriger Rechtsprechung, die immer davon ausgeht, dass es um den Eindruck gegenüber einem beliebigen Dritten geht. Schließlich wird die Verurteilung von Fahrenden ohne Ticket gerade mit dem „Anschein der Ordnungsmäßigkeit“ begründet, der eben nicht gegenüber einem Bediensteten des Fahrunternehmens erweckt werden muss, sondern allgemein (Urteilstext). Die Berufungsverhandlung findet am Landgericht Aachen am 1. Februar 2022 um 9 Uhr statt.
Ganz anders liefen zwei Verfahren in Gießen: Zwei Prozesse wegen einer Aktionsschwarzfahrten wurde kurz vor dem Termin eingestellt – auf Staatskosten.

Immer mehr Verfahren um Verkehrswende-Aktionen
Als zur Eröffnung der IAA Mobility am 7.9.2021 etliche Autobahnen Richtung München durch spektakuläre Kletteraktionen blockiert wurden, packte der Staat seine repressiven Waffen aus und sperrte etliche Aktivistis für mehrere Tage ein. Das Landgericht Landshut bezeichnete die Inhaftierungen später als illegal. Doch Justiz und Polizei rüsten gegen die entschlossener werdende Klimagerechtigkeits- und Verkehrswendebewegung auf. Das Urteil gegen „Ella“ (siehe oben) war da nur der Anfang. Etliche Verfahren werden gegen Personen vorbereitet, die in den vergangenen Monaten ähnliche Aktionen durchführten wie zur IAA. Die Vorwürfe, sollten sie zur Verurteilung führen, könnten mehrmonatige oder mehrjährige Gefängnisstrafen bedeuten. Da lohnt es, sich in die rechtlichen Grundlagen einzuarbeiten – das Straf- und Versammlungsrecht, aber auch das Verkehrsrecht. Das ist nämlich nicht nur was für diejenigen, die (meist im Auto) am Verkehr teilnehmen und dort mit den Regeln oder anderen Beteiligten in Konflikt geraten. Vielmehr bietet es auch Hinweise auf Handlungsmöglichkeiten im Ringen um eine Verkehrswende. So enthält die StVO neben der Verpflichtung zur allgemeinen Rücksicht, welche ständig mit den (Blei-)Füßen getreten wird, auch Regelungen, die den Radverkehr stärken, oder zum Beispiel mit den §§ 25 oder 27 die Rechtsgrundlage für Aktionsformen wie Gehzeug oder Critical Mass schaffen. Passend dafür ist die dritte Auflage von „Gesamtes Verkehrsrecht“ bei Nomos (Baden-Baden, 3738 S., 178 €) erschienen. Herausgeber sind Klaus-Ludwig Haus, Carsten Krumm und Matthias Quarch. Mit seinen über 3700 Seiten ist der Kommentar sehr umfassend und hilft, den jeweiligen Gesetzestext genauer zu verstehen – angefangen von der Straßenverkehrsordnung (StVO) bis zum Ordnungswidrigkeiten- und Strafrecht. Die Kommentierungen sind als Text gut lesbar, da die Quellen als Fußnoten übersichtlich auf jede Seite gesondert angegeben sind.

Gesammelte Rechtshilfetexte für politisch Aktive
Inzwischen gibt es für mehrere Bundesländer Rechtshilfebroschüren, in denen Informationen zu den jeweiligen Landespolizeigesetzen, Tipps zum Umgang mit Kontrollen und Verhaftungen sowie viele weitere rechtliche Hinweise gegeben werden. Eine Sammlung zum Download befindet sich auf ende-gelaende.org/rechtshilfebroschuere/.
Eine besondere Infoseite über die aktuellen und geplanten Polizeigesetze der Bundesländer gibt es auf polizeigesetz.nirgendwo.info.

August
Keine Zwangsbehandlung bei wirksamer Patientenverfügung
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die wirksame Patientenverfügung eines untergebrachten Patienten in jedem Fall gemäß § 1901a BGB bindend ist – auch im Maßregelvollzug. Eine bloße „Beachtung“ reiche nicht aus. Die Wirksamkeit der Patientenverfügung sei in einem zweistufigen Verfahren zu prüfen, wobei keine überhöhten Anforderungen oder medizinische Kenntnisse des Verfügenden gefordert werden könnten. Das Berliner Werner-Fuß-Zentrum hat die Entscheidung kommentiert. Danach kann eine psychiatrische Zwangsbehandlung nur durch eine, die entsprechende Zwangsbehandlung explizit bewilligende, vorher mit freiem Willen verfasste, Patientenverfügung gerechtfertigt werden. Der Versuch, den Art. 2 GG so zu interpretieren, dass eine Einwilligungsunfähigkeit unter bestimmten Bedingungen eine zu erduldende Körperverletzung von Menschen rechtfertigen könne, hat das BVerfG mit seiner Entscheidung verworfen, weil es gegen das absolute Folterverbot verstößt. Einer Patient*innenverfügung (passende Vorschläge unter www.PatVerfü.de) ist damit der Status von jus cogens eingeräumt worden, wie RA Dr. David Schneider-Addae-Mensah in einer Pressemitteilung mitteilte. Auch der Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juan E. Méndez, hatte gefordert, dass „alle Staaten ein absolutes Verbot aller medizinischen nicht einvernehmlichen bzw. Zwangsbehandlungen von Personen mit Behinderungen verhängen sollten, einschließlich nicht-einvernehmlicher Psychochirurgie, Elektroschocks und Verabreichung bewusstseinsverändernder Drogen, sowohl in lang- wie kurzfristiger Anwendung. Die Verpflichtung, erzwungene psychiatrische Behandlung wegen einer Behinderung zu beenden, ist sofort zu verwirklichen und auch knappe finanzielle Ressourcen können keinen Aufschub der Umsetzung rechtfertigen.“ Ohne Patient*innenverfügung sind Menschen aber weiterhin ungeschützt der Zwangspsychiatrie ausgeliefert. Sie können sich zudem nur schwer gegen eine tatsächliche oder unterstellte „Fremdgefährdung“ verteidigen, die zu einer legalisierten Zwangsbehandlung führen kann. Allerdings, so das BVerfG, darf diese auch dann nur erfolgen, wenn die Rechte anderer verletzt würden – und das zudem immer nur verhältnismäßig!
Die Pressemitteilung des Verfassungsgerichts mit Link zum vollständigen Text.

Internetseiten mit Demotipps neu gefüllt
Die Internetseiten demotipps.siehe.website sind neu strukturiert und um Auszüge zu den vielen Verkehrswendedemo-Entscheidungen rund um die Danni-Camps, die A14-Besetzung und die Raddemos Anfang Juni, speziell die Durchführung auf Autobahnen, ergänzt worden. Sie bilden nun eine noch umfangreichere Fundgrube über Möglichkeiten und Fallstricke, Anmeldeformalität und Klageformen im Versammlungsrecht.

Ella-Prozess geht in zweite Runde
Es war ein abschreckendes Urteil nach einer langen Untersuchungshaft: Die immer noch „unbekannte Person 1“ wurde vom Amtsgericht Alsfeld zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Das dramatische Gerichtsverfahren basierte komplett auf Lügen. Mehrere SEK-Polizisten tischten eine frei erfundene Story von Fuß- und Knietritten, Lebensgefahr und Verletzungen auf. Geschwärzte Atteste mit gar nicht zum Tattag passenden Daten wurden als Beweise akzeptiert. Am 2. Dezember 2021 – nach einem weiteren halben Jahr Verzögerung – soll am Landgericht Gießen die nächste Runde eingeläutet werden. Ganz offensichtlich geht es den Gerichten darum, das Verfahren so lange zu verzögern, bis „Ella“, wie die unbekannte Person (UP1) genannt wird, die Strafe abgesessen hat. Das bisherige Verteidigungsteam ist sich nämlich sicher, am Ende einen Freispruch erwirken zu können. Da das Amtsgericht die Beweise für die Lügen jedoch nicht zur Kenntnis nehmen wollte, haben sie in akribischer Recherchearbeit einen Dokumentationsfilm erstellt, der klar belegt, was an dem verhängnisvollen 26.11.2020 im Dannenröder Forst wirklich ablief. Der Film wird am 1. Oktober, dem Jahrestag des Polizeiangriffs auf die Waldbesetzung, an vielen Orten aufgeführt. Informationen für alle, die solche Vorführungen organisieren oder besuchen wollen, finden sich auf ella.siehe.website.
Da passt das Buch „SEK – Ein Insiderbericht“ von Peter Schulz (2013, Bastei Lübbe in Köln, 269 S., 16,99 €). Laut Werbung soll es auf Schwachstellen der Sondereinsatzkommandos aufmerksam machen. Das gerät aber nicht nur in den Hintergrund, sondern wird ins Gegenteil verkehrt. Die Analyse beschränkt sich auf die zwei Hauptforderungen: Mehr Geld (und Anerkennung) und mehr Macht (bei der Entscheidungsfindung im Einsatz). Dass riskante Einsätze rabiate Vorgehensweisen befördern und SEKs viele Opfer erzeugen, wird im Buch verschwiegen. Für eine Erwähnung der Skandale um Rechtsradikale in SEK-Truppen ist das Buch zu alt – es hätte aber auch nicht gepasst.

Mai
Schwerpunkt: Aktuelle Fragen in Strafprozessen
Autobahnabseilaktionen – eine Straftat?

Als während der Räumung des Dannenröder Forstes im Herbst letzten Jahres mehrfach Personen seitlich an Autobahnbrücken klettern und dort große Transpis aufhängten, folgte ein großer Aufschrei. Überall stoppte die Polizei den Verkehr und pflückte die Aktivistis in mehrstündigen, aufwändigen Einsätzen wieder ab. „Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr“ und „Angriff in die Infrastruktur“ polterten Justiz und Politik über eine sie offenbar ins Mark treffende Aktionsform. Inzwischen werden die Brötchen kleiner gebacken. Schließlich hatten die Aktivistis sehr bewusst den Autobahnraum, der in 4,70m Höhe endet, nie betreten. Etliche Ermittlungsverfahren wurden daraufhin kleinlaut eingestellt. Andere Staatsanwaltschaften arbeiteten fieberhaft an einer Ersatzlösung, die im Nötigungsparagraphen gefunden schien. Doch wie das? Die Aktivistis hingen, weil deutlich über der Straße, niemensch im Weg. Kein Auto musste wegen ihnen stoppen. Das organisierte erst die Polizei. Die Justiz definierte diese nun als „willenloses Werkzeug“ der Aktivistis, d.h. die Polizeiwagen, die den Verkehr ausbremsten, wurden auf eine wundersame Art aus der Luft ferngesteuert – ohne jegliche Kommunikation, physischen Kontakt oder irgendetwas anderes. Sehr deutlich wird hier: Das Gesetz ist die Waffe der Stärkeren. Es wird so verwendet, wie es denen passt, die die dominanten Interessen durchsetzen. Da die Aktionen an unterschiedlichen Orten liefen, sind verschiedene Staatsanwaltschaften und Gerichte damit befasst. Eine hat schon abgewunken und die Straftat verneint. Andere machen weiter. Mehr auf autobahn.siehe.website.

Verteidigungschance beim Strafvorwurf Widerstand oder Landfriedensbruch
Wer Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte leistet, bekommt es mit den §§ 113 und 114 oder, falls die Situation größer und krawallartig war, mit dem 125 StGB (Landfriedensbruch). Die Vorwürfe basieren meist auf Aussagen der vermeintlich Betroffenen, also der Staatsdiener*innen selbst. Regelmäßig ist es kaum möglich, deren Glaubwürdigkeit zu erschüttern, selbst wenn die Widersprüche offensichtlich werden. Die größte Chance auf Einstellung oder Freispruch, zudem ein gutes Mittel, das Handeln der Polizei oder anderer Ordnungskräfte zu durchleuchten, bietet daher der Absatz 3 des Widerstandsparagraphen 113, der so auch für § 114 (tätliche Angriff) und § 125 gilt: „Die Tat ist nicht nach dieser Vorschrift strafbar, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist.“ Damit lässt sich der Gerichtsprozess umdrehen: Das Verhalten der Polizei oder anderer Behördenleute wird untersucht – und die sitzen noch im Zeug*innenstuhl, müssen also (eigentlich) antworten und die Wahrheit sagen. Wer sich so verteidigt, erreicht oft eine Einstellung. Aktuelles und bekanntes Fallbeispiel ist der Prozess gegen UP1, wie die namentlich immer noch unbekannte Person bezeichnet wird, die seit über einem halben Jahr in Untersuchungshaft sitzt, nachdem sie im Dannenröder Forst von einem Baum geräumt wurde. Mehrere Lügen der Klettercops sind schon belegt. Dennoch glauben Gericht und Staatsanwaltschaft bislang noch deren Behauptung, getreten worden zu sein. Dieser Vorwurf würde, ob bewiesen oder nicht, keine Rolle mehr spielen, wenn sich das konkrete Verhalten der Polizei oder die gesamte Räumung als rechtswidrig herausstellen. Daran arbeitet das Verteidigungsteam.
Ein weiterer Tipp für alle von solchen Vorwürfen Betroffener, wenn auch selten erfolgreich, ist die Nachfrage, welche Vollstreckung denn durchgeführt wurde. Nicht jede Behördenhandlung ist eine Vollstreckung.
Bei Landfriedensbruch gilt die Einschränkung des 113, Absatz 3 nur bei Auseinandersetzungen mit der Polizei. Zudem wird dieser Paragraf oft benutzt, um Ermittlungen zu legitimieren, wenn Einzelperson nichts Konkretes vorgeworfen wird. Eine Verteidigungsstrategie vor Gericht nützt dagegen wenig. Andererseits gilt: Nicht vorzeitig einschüchtern lassen, oft kommt nichts nach.

Rechtsfehler überprüfen lassen: Die Revision im Strafrecht
Die oben aufgeworfenen Fragen lassen sich auf den unteren Instanzen oft nicht klären, weil die dort handelnden Richter*innen bei komplizierten Rechtsfragen passen müssen oder diese schlicht nicht beachten. Dann ist die Rechtsfehlerüberprüfung, auch Revision genannt, nötig. Revisionen zu schreiben, und das auch noch formgerecht, ist allerdings nicht ganz einfach – eher die Königsdisziplin der Strafverteidigung. Es gibt nur sehr wenige Bücher, die das dafür nötige Wissen verständlich vermitteln. Mit „Die Revision im Strafrecht“ von Mattias Weidemann und Fabian Scherf (3. Auflage 2017, Nomos in Baden-Baden, 207 S., 22 €) ist eines erschienen, welches für Studierende gedacht und deshalb gut für alle geeignet ist, die lernen wollen, sich vor Gericht selbst oder gegenseitig zu verteidigen. Auf allzu detaillierte Darstellung aller Möglichkeiten wird verzichtet, dafür sind die Anforderungen an eine formgerechte Revision sehr anschaulich beschrieben. Die Übungsaufgaben mögen Nicht-Studierende verwirren, können aber auch eine nützliche Hilfe für den Check sein, das Gelesene auch verstanden zu haben und anwenden zu können. Besonders praktisch: Die Checkliste am Ende des Buches.

Gericht für Gourmets
Spektakulär und am Ende erfolgreich für die Betroffenen waren Prozesse gegen Schwarzfahraktivistis in Gießen. Die hatten das Fehlen eines Fahrscheins offen gekennzeichnet und Flyer für den Nulltarif verteilt. Die Folge: Freisprüche und Einstellungen. Jetzt versucht es die Justiz erneut: Am 26.8.2021 um 11 Uhr am Amtsgericht – vermutlich ein Leckerbissen für Genießer*innen absurder Strafverfahren.

Klimaschutz im Rang eines Grundrechts
Das spektakulärste Urteil der vergangenen Monate fiel im Bundesverfassungsgericht. Auf Klage mehrerer, darunter junger Menschen bejahten die Richter*innen die Einklagbarkeit guter Lebenschancen künftiger Generationen als Teil der unverbrüchlichen Menschenrechte (1 BvR 2656/18). Damit wurde der bisher nur als Staatsziel vorhandene und deshalb weitgehend unwirksame Paragraph 20a des Grundgesetzes praktisch auf das Niveau eines Grundrechtes gehoben. Das Urteil könnte der Politik neben den vielen Aktionen einige Angst machen, erhalten Öko-Aktivistis damit doch ein weiteres Aktionsmittel. Dass die Richter*innen so entschieden, zeigte die Wirksamkeit direkter und kreativer Aktionen. Sie verändern Stimmungen, welche dann Entscheidungsträger*innen drängen bis zwingen, Positionen anzupassen.

März
Opfer aufpolierter Aufklärungsquoten
Jedes Jahr präsentieren Polizeieinheiten landauf und landab gesteigerte Aufklärungsquoten. Damit suggerieren sie der Bevölkerung, ihr Wirken sei für deren Sicherheit vorteilhaft. Die Liste der Ausblendungen ist dabei lang, unter anderem die Frage, wieviel Gewalt und Verbrechen durch die Präsenz und das Handeln der Polizei, durch Strafverfahren und Einsperren überhaupt erst hervorgerufen werden – ganz zu schweigen von Normierungen und der sich ständig vergrößernden Spanne zwischen arm und reich. Eine weitere Form der Manipulation zerstört den davon betroffenen Menschen ihr komplettes Leben. Aufgeklärt gilt ein Fall, wenn eine Person als Täter*in überführt wurde – sei es durch die Polizei oder durch ein Gerichtsurteil. Es kommt nicht darauf an, dass es die richtige Person ist. Dadurch werden viele Fälle als aufgeklärt bezeichnet, die tatsächlich ein Irrtum oder eine gezielte Fälschung sind. Das führt immer wieder zu Verurteilungen beliebiger Personen, um einen Fall abzuschließen statt aufzuklären. Drei krasse Fälle sind in dem Buch „Weggesperrt“ von Gudrun Rödel beschrieben – mit vielen abgedruckten Originaldokumenten, die die Abläufe belegen. Die Autorin selbst schreibt: „Diese drei Dokumentationen in meinem Buch sollen die katastrophalen Folgen aufzeigen, wenn in Institutionen wie Justiz und Polizei einfach (empirische) Beweise frei erfunden werden können, ohne dass irgendwelche drastische Konsequenzen für die Verursacher entstehen. Die sich dadurch ergebende folgenschwere Dynamik für weitere ähnlich gelagerte Fälle lässt die Frage aufkommen, wie groß wohl die Dunkelziffer von unschuldig verurteilten Straftätern in unserem Land sein muss.“

Deutliches Plädoyer gegen die Haftstrafe
Die Debatte ist nicht neu, die Kernaussage auch nicht umstritten: Haftstrafen vergrößern das Risiko krimineller Karrieren und bieten keine Ansatzpunkte zur sogenannten Resozialisierung. Mit Fallbeispielen und aus der eigenen Anschauung als Bediensteter in der Justizverwaltung gewonnener Überzeugung untermauert Prof. Bernd Maelicke in seinem Buch „Das Knast-Dilemma“ (2. Auflage 2019, Nomen Verlag in Frankfurt, 254 S., 17,90 €) dieses Wissen. Er plädiert dafür, mit Ausnahme schwerer Verbrechen auf die Haftstrafe ganz zu verzichten und beschreibt einige, meist noch kleinere, Modellprojekte dieser Art, die zeigen, dass eine solche Strategie Erfolg haben könnte.

Bilanz der Repression rund um die „Danni bleibt“-Kämpfe
Hunderte von Festnahmen, etliche mehrwöchige, zum Teil bis heute dauernde Verhaftungen und ein merkwürdig vertuschender Umgang mit Übergriffen der Polizei: Die Räumung der Baumhäuser und der Umgang mit Protesten auf und um die Trasse der geplanten Autobahn A 49 zeigte einmal mehr, wie einseitig der Staat seine Sichtweise von Recht und Ordnung auslegt. Wurden Angriffe von Polizist*innen auf Besetzer*innen selbst dann, wenn sie erkennbar absichtlich eine deutliche Gefährdung von Leben und Gesundheit herbeigeführten, stets sofort als Versehen oder fahrlässig eingestuft, waren Würfe oder Bewegungen von Aktivist*innen in Richtung der Polizei versuchter Totschlag oder gar Mord. Begleitet war diese wohl eher auf die Wirkung in Medien ausgelegte Taktik von sehr seltsamen Rechtsauslegungen seitens der Behörden. So stützte sich die gesamte Räumung auf das Waldgesetz, welches aber ausschließlich dem Ziel des Walderhaltes dient, also für Waldzerstörungen nicht hätte herangezogen werden dürfen. Zu einem besonderen Eskalationspunkt entwickelte sich das Versammlungsrecht. Im Zeitraum rund um den Beginn der Räumung versuchte das als Versammlungsbehörde per Selbsteintritt agierende Regierungspräsidium (RP) Gießen, alle Camps und dauerhaften Einrichtungen zu verbieten. Erst fast 50 Klagen und zwei gewonnene Verfassungsbeschwerden später konnte ein einigermaßen handhabbarer Rahmen für die Protestcamps und Mahnwachen erstritten werden. Das RP ist Teil der Landesregierung Hessen, die selbst der Bauherr der A49, also klar befangen war.

Januar
Politische Strafverteidigung mit dem rechtfertigenden Notstand
Eigentlich ist die Sache klar: „Beruft sich der Angeklagte auf Ausnahmeregeln von einer Strafbarkeit (wie etwa Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe oder auf einen Rücktritt vom Versuch), muss das Gericht ihm nachweisen, dass diese Umstände nicht vorliegen. Ist das Gericht zu diesem Beweis nicht in der Lage, muss zu Gunsten des Angeklagten entschieden werden. Dies gilt auch für Umstände, die die Strafzumessung betreffen.“ (aus Hasso Lieber, 2008: "Leitfaden für Schöffinnen und Schöffen“, (S. 52). Doch die Praxis sieht meist anders aus. Gerichte verweigern jegliche Auseinandersetzung mit Rechtfertigungsgründen. Sie ahnen vermutlich – und das zu Recht! -, dass ein Eingehen auf Rechtfertigungen den Prozess deutlich komplizierter macht, viele politische Fragen aufwirft, Versagen von staatlichen Stellen und Firmen ans Licht bringt und eine Verurteilung schwierig machen könnte. Denn der § 34 im Strafgesetzbuch (StGB) erlaubt quasi Straftaten, wenn mit denen ein höherrangiges Ziel verfolgt wird, mildere Mittel nicht zu finden sind und die Handlung zumindest zum Ziel hätte führen können: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“ Ein wichtiger Durchbruch war der Gerichtsentscheid des Oberlandesgerichts Naumburg am 24.4.2013. Die Revisionsinstanz zur Genfeldbefreiung in Gatersleben hob ein Urteil des Landgerichts Magdeburg auf und legte Kriterien für die Ablehnung des rechtfertigenden Notstandes fest. Wenig später sprach die offensichtlich lernfähige Magdeburger Strafkammer einige Tierrechtsaktivist*innen frei – nach § 34! Es macht folglich Sinn, bei Handlungen mit politischem Hintergrund das Verfahren auf diese Weise zu politisieren. Bei allen Aktivitäten, die zu einem Strafverfahren führen, aber einen politischen Zweck verfolgt haben, sollte daher geprüft werden, ob eine Verteidigung der § 34 Strafgesetzbuch in Frage kommt (ganz oder als Teil-Strategie). Denn dann können Beweisanträge zu dessen Kriterien gestellt werden wie Notwendigkeit, Versagen staatlicher Stellen, Ausmaß der Gefahr usw. (mehr: 34stgb.siehe.website). Das politisiert einen Prozess sehr stark und ist den dadurch in das Verfahren hineingezogenen Behörden und Firmen oft sehr unangenehm. Geplant ist eine solche Verteidigung bei dem in Kürze anstehenden Verfahren gegen Beteiligte an der VW-Blockade vom 13.8.2019. Der Prozess beginnt am 23.3.2021 um 11 Uhr am Amtsgericht Wolfsburg.

Wie entwickelt sich die Strafverteidigung?
Menschen mit Strafe bedrohen und auch tatsächlich bestrafen zu können, gehört zu den wichtigsten Pfeilern eines jeden Herrschaftssystems. Folgerichtig braucht Widerstand gegen bestehende Verhältnisse Schutzmechanismen gegen Straforgien, die sonst eine jede soziale Bewegung schwächen würden. Daher sind Strafgesetze und ihre Auslegung stets umkämpft – und mit ihr auch die Möglichkeiten der Strafverteidigung. Jörg Arnold hat aktuelle „Entwicklungen der Strafverteidigung“ in einem Sammelband zusammengetragen (2019, Lit in Berlin, 311 S., 34,90 €). Besonders spannend ist das mittlere Kapitel um die Frage der Verknüpfungen juristischer Prozesse und politischer Positionen. Davor geht es vor allem um frühere Entwicklungen, danach um internationale Themen. Insgesamt sind alle Kapitel von einer bedauerlichen Ferne der realen Kämpfe in und um die Gerichtssäle geprägt. Denn die Praxis sieht oft sehr anders aus als die Debatten in Fachzeitschriften.

Lesenswert: Texte über Polizei, Gefängnisse und mehr
Thomas Meyer-Falk berichtet aus der JVA Freiburg, wie sich Corona auf den Alltag hinter Mauern und Stacheldraht auswirkt: de.indymedia.org/node/134880. Aus Frankreich stammt ein Text, der die Möglichkeiten aufzeigt, wie ein soziales Miteinander und der Umgang mit übergriffigem Verhalten (im Text noch immer als Straftaten bezeichnet) die Polizei überflüssig machen kann. Die deutsche Übersetzung mit Link zum Original auf de.indymedia.org/node/135938. Die Unterstützungsplattform der IT-Branche für NGOs stellte Tipps für Smartphones zusammen, wie die dortigen Daten geschützt werden können: hausdesstiftens.org/acht-tipps-fur-ein-sicheres-smartphone. Das Bundesverfassungsgericht hat im Beschluss vom 1 BvR 1024/19 festgestellt, dass eine Schmähkritik nur dann vorliegt, wenn sie keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Beschlusstext und Leitsätze: hrr-strafrecht.de/hrr/bverfg/19/1-bvr-1024-19.php.

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