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SELBSTENTFALTUNG

Einleitung


Einleitung · Egoismus als Antrieb · Wie geht's? · Was hindert uns?

Dieser Text ist Teil der Gesamtabhandlung "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen" ... zum Anfang.

„Selbstentfaltung“ soll hier gemeint sein als individuelles Entwickeln. Der Mensch lebt seine eigene Subjektivität, er wird zur eigenen Persönlichkeit. Der Begriff Selbstentfaltung soll anschaulich machen, dass es um die schrittweise und zunehmende Realisierung menschlicher Möglichkeiten geht. Das jeweils erreichte Niveau bildet den Ausgangspunkt weiterer Entfaltung. Diese ist also einerseits ein Prozess, d.h. kein Austausch von Eigenschaften, andererseits unbegrenzt. Er trifft daher etwas besser als der gebräuchliche Begriff der Selbstbestimmung, weil dieser suggeriert, es könne ein bestimmtes Ziel, einen zu erreichenden Endpunkt geben. Mit Vorschlägen, der Mensch müsse seine eigentliche Bestimmung erreichen oder sein wahres Inneres freilegen, docken esoterische Vorstellungen an einem solch statischen Konzept an. Das ist ähnlich beim Begriff „Selbstverwirklichung“. Vielfach meinen Menschen mit all diesen Wörtern aber inhaltlich Ähnliches.
Es geht also nicht nur darum, eine persönliche „Anlage“ oder „Neigung“ in die Wirklichkeit zu bringen, sie wirklich werden zu lassen. Diese Vorstellung individualisiert und begrenzt die eigentlichen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Menschen: Wenn es „wirklich“ geworden ist, dann war's das. Eine individualisierte Auffassung von „Selbstverwirklichung“ reproduziert den ideologischen Schein eines Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft unter bürgerlichen Verhältnissen. Sie bedeutet im Kern ein Abfinden mit und sich Einrichten in beschissenen Bedingungen. Die unbeschränkte Selbstentfaltung freier Menschen gibt es jedoch nur in einer freien Gesellschaft - und sie führt in einen Kampf um sie. Auf dem Weg dorthin ist die Selbstentfaltung Quelle von Veränderung. Denn wo die Entfaltung an Grenzen stößt, gehört es zu ihr dazu, diese Grenzen zu überwinden. Sie schafft also ihrer eigenen Möglichkeiten.

Im Original: Definitionen
Gruppe Gegenbilder (1. Auflage 2000): "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen", SeitenHieb-Verlag in Reiskirchen (S. 25)
„Selbstentfaltung“ kann man fassen als individuelles Entwickeln und Leben der eigenen Subjektivität, der eigenen Persönlichkeit. Selbstentfaltung bedeutet die schrittweise und zunehmende Realisierung menschlicher Möglichkeiten auf dem jeweils aktuell erreichten Niveau. Selbstentfaltung ist also unbegrenzt und geht nur im gesellschaftlichen Kontext, denn Realisierung menschlicher Möglichkeiten ist in einer freien Gesellschaft gleichbedeutend mit der Realisierung gesellschaftlicher Möglichkeiten. Selbstentfaltung geht niemals auf Kosten anderer, sondern setzt die Entfaltung der anderen notwendig voraus, da sonst die eigene Selbstentfaltung begrenzt wird. Im Interesse meiner Selbstentfaltung habe ich also ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen. Diese sich selbst verstärkende gesellschaftliche Potenz läuft unseren heutigen Bedingungen, unter denen man sich beschränkt nur auf Kosten anderer durchsetzen kann, total zuwider.
Manche sprechen statt von Selbstentfaltung auch von „Selbstverwirklichung“ und meinen damit inhaltlich das Gleiche. Es gibt aber auch eine sehr eingeschränkte Auffassung von „Selbstverwirklichung“, die hier nicht gemeint ist. Es geht nicht darum, eine persönliche „Anlage“ oder „Neigung“ in die Wirklichkeit zu bringen, sie wirklich werden zu lassen. Diese Vorstellung individualisiert und begrenzt die eigentlichen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Menschen: Wenn es „wirklich“ geworden ist, dann war's das. Eine individualisierte Auffassung von „Selbstverwirklichung“ reproduziert den ideologischen Schein eines Gegensatzes von Individuum und Gesellschaft unter bürgerlichen Verhältnissen. Sie bedeutet im Kern ein Abfinden mit und sich Einrichten in diesen beschissenen Bedingungen. Die unbeschränkte Selbstentfaltung freier Menschen gibt es jedoch nur in einer freien Gesellschaft. Auf dem Weg dorthin ist die Selbstentfaltung Quelle von Veränderung - der Bedingungen und von sich selbst.


Ein sich selbst entfaltendes ist ein soziales Individuum
Selbstentfaltung wäre beschränkt, wenn sie außerhalb des gesellschaftlichen Kontext realisiert würde. Denn jede entfaltete Eigenschaft, Kraft oder Idee steht in einer freien Gesellschaft allen zur Verfügung, d.h. sie ist gleichbedeutend mit der Realisierung gesellschaftlicher Möglichkeiten. Selbstentfaltung, die auf Kosten anderer läuft, nimmt sich selbst Möglichkeiten, denn die Entfaltung der Anderen ist eine wichtige, mitunter notwendige Voraussetzung für die eigene Selbstentfaltung. Das vereint Eigennutz und Gemeinnutz: Im Interesse meiner Selbstentfaltung habe ich ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen. Diese sich selbst verstärkende gesellschaftliche Potenz läuft unseren heutigen Bedingungen total zuwider, unter denen mensch sich nur auf Kosten Anderer weiterentwickeln kann, weil dabei durchsetzen muss.

Im Original: Selbstentfaltung und Gesellschaft
Aus Schlemm, Annette: "Ums Mensch sein geht es" (S. 13)
Das Gesellschaftliche ist nicht die Beschränkung des Individuellen, sondern seine Grundlage: vgl.: Vernunft und Freiheit als Vernunftwesen ist nicht mehr Vernunft und Freiheit, sondern ein Einzelnes; und die Gemeinschaft der Person mit anderen muss daher wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden. (Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, Hegel-W. Bd. 2, S. 82)

"dass nichts bleibt, wie es ist ...", Band II (S. 23)
So ist der Mensch die reale Möglichkeit alles dessen, was in seiner Geschichte aus ihm geworden ist und vor allem mit ungesperrtem Fortschritt noch werden kann (Bloch).
Aus dem Gesagten folgt, dass es weniger die Aufgabe ist, den Menschen für irgendwelche gesellschaftlichen Aufgaben zu "trainieren", als vielmehr alles dafür zu tun, dass sich jeder angemessen entfalten kann. Und das bedeutet auch in Bezug auf Erziehung etwas völlig anderes, als das, was gewöhnlich unter Erziehung und Bildung verstanden wird. Niemand wird nur von der menschlichen Gesellschaft geformt. Das menschliche Leben beginnt nicht bei Null. Jeder Mensch bringt von Anbeginn etwas mit.
Wir haben darauf zu vertrauen, dass jeder einzigartig ist und alle verschieben. Das muss zur vollen Blüte gebracht und in Kooperation mit anderen zusammengeführt werden, damit etwas entsteht, was höchste Flexibilität hat. Flexibilität ist das Rezept der Natur zur besten Anpassung von höher entwickelten Wesen an zukünftige Anforderungen. Sie sind nicht optimiert auf ganz bestimmte Situationen, sondern sie sind optimiert auf etwas, was prinzipiell unbekannt ist, eben auf eine Zukunft hin, die wesentlich offen ist.


Der soziale Kontext aber schafft nicht nur Möglichkeiten, sondern auch Grenzen. Diese zu verschieben, könnte den Handlungsspielraum erweitern, d.h. emanzipatorische Ziele unterstützen. Innerhalb der Möglichkeiten kann zumindest ausgewählt werden, d.h. zur Entfaltung des Individuums gehört bereits die Entscheidung zwischen den Möglichkeiten - in jedem Einzelfall von Neuem.

Im Original: Möglichkeiten und Notwendigkeiten
Aus Schlemm, Annette: "Ums Mensch sein geht es" (S. 14)
"Da hier die Existenzsicherung nicht mehr unmittelbar von der Bedeutungsumsetzung abhängt, ist das Individuum aber durch die jeweils konkreten vorliegenden Bedeutungsbezüge in seinen Handlungen keinesfalls festgelegt, es hat im Rahmen der globalen Erfordernisse der eigenen Lebenserhaltung hier immer auch die "Alternative", nicht oder anders zu handeln, und ist in diesem Sinne den Bedeutungen als bloßen Handlungsmöglichkeiten gegenüber "frei"." (Holzkamp, S. 236)
"Einerseits sind in den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen objektive Notwendigkeiten enthalten, andererseits hängt es von meinem subjektiven Standort, meiner Situation, meiner Befindlichkeit und meinen Intentionen ab, ob und welche Handlungsmöglichkeiten ich für mich ergreife. Zu den Handlungsmöglichkeiten gehört damit auch, de Handlungsmöglichkeiten selbst zu ändern" (Lenz, Meretz, S. 68).
"Auch noch so eingeschränkte Handlungsalternativen bleiben immer noch Alternativen." (Holzkamp 1985, S. 345)
Spezifik der menschlichen Existenz: Möglichkeitsbeziehung (bewußtes-Verhalten-zu): der Mensch ist jeder Bedingtheit immer ein Stück voraus! (S. 355)
Für Intelligenzen gibt es "mannigfaltige Handelsmöglichkeiten, unter denen allen, wie es mir scheint, ich auswählen kann, welche ich will." (Fichte: Die Bestimmung des Menschen, Fichte-W. Bd. 2, S. 193)


Diese Selbstentfaltung ist das Leben selbst. Denn für das Leben gibt es keine höheren Werte, keine Moral, keine Instanz, die einen Sinn vorgeben kann. Möglich ist die Unterwerfung unter fremdbestimmte Leitbilder (siehe vorhergehendes Kapitel), aber das wäre nur ein Ersatz für eine Scheingeborgenheit, die der Mensch mit der Menschwerdung überwunden hat - positiv ausgedrückt. Die negative Formulierung wäre: Er hat sie verloren. So oder so: Sie ist weg. Typisch Mensch heißt also, sein eigenes Ding zu machen, das eigene Leben zu leben, sich zu entfalten. Das ist der Sinn des Lebens: Leben! Nicht als Kopie von Zurichtungen, sondern als Original. Das muss sich entfalten. Es hat kein Ende, es gibt keine Blaupause der Persönlichkeit. Es gibt nur und ständig immer wieder neu die Entscheidung zwischen dem Sprung in die Geborgenheit der Fremdbestimmung oder die weitere Entfaltung des Selbst.

Im Original: Der Sinn des Lebens ist: Leben!
Aus einem Interview mit Humberto R. Maturana, in: Freitag, 10. Januar 2003 (S. 18)
Das Leben, sagte ich mir, hat keine Bedeutung, keinen Sinn, es folgt keinem Programm des evolutionären Fortschritts. Meine tautologisch klingende Schlussfolgerung heißt, dass der Sinn und Zweck eines Lebewesens darin besteht, zu sein, was es ist. Der Zweck eines Hundes ist es, ein Hund zu sein; der Zweck eines Menschen besteht darin, ein Mensch zu sein. Was immer einem Lebewesen zustößt und geschieht, so wurde mir klar, hat mit ihm selbst zu tun. Wenn mich ein Hund beißt, weil ich ihm auf den Schwanz getreten bin, so beißt er mich, weil er den Schmerz vermeiden möchte. Das heißt: Lebende Systeme sind autonom; und sie müssen notwendig eine Grenze haben, eine Markierung dessen, was zu ihnen was nicht zu ihnen gehört.


Aus Erich Fromm, "Psychoanalyse und Ethik" (S. 148)
Der Mensch hat nur ein einziges wirkliches Interesse: die vollkommene Entfaltung der Möglichkeiten, die ihm als menschlichem Wesen gegeben sind.

Intersubjektivität statt Instrumentalisierung
Der Mensch produziert und reproduziert sein Leben vermittels der gesellschaftlichen Möglichkeiten, oder anders formuliert: Die individuelle Existenz des Menschen ist gesamtgesellschaftlich vermittelt (vgl. Holzkamp 1985, 192). Wenn wir diese Vergesellschaftung als Vermittlung zwischen Individuen und Gesellschaft begreifen, schließt das zwei immer wieder anzutreffende einseitige Sichtweisen aus: Weder steuert der Mensch sein Leben völlig autonom und kann alles direkt bestimmen, noch wird er vollständig von den Bedingungen bestimmt und gesteuert. Der erstgenannte Irrtum zeigt sich z.B. in der leichtfertigen Annahme, mensch könne alle Dinge in der Kleingruppe regeln (Selbstversorgung, Autarkie); die andere zeigt sich als deterministischer Bedingungsfatalismus, etwa so, als ob alle Menschen wie Spielpuppen durch eine unsichtbare Hand geführt werden und man daher nichts machen könne. Beide Sichtweisen spiegeln zwar Teile von Realität wider, verwechseln jedoch Einzelaspekte mit den Gesamtverhältnissen.
In der deterministischen Sicht zeigt sich die reale subjektlose selbstlaufende Verwertungsmaschine, in der sich die Menschen gleich Rädchen im Getriebe als den Bedingungen vollständig unterworfen empfinden. Die personalisierende Sicht ist die andere Seite der gleichen Medaille: Da den Menschen die Verfügung über ihre Bedingungen entzogen ist, scheinen alle beeinflussbaren Umstände ausschließlich im nahen persönlichen Bereich zu liegen. Viele Konflikte sind hier jedoch nicht lösbar, da ihre Ursachen im scheinbar unverfügbaren gesellschaftlichen Bereich liegen. Dieser Widerspruch provoziert Unsicherheit, Aggressionen und gegenseitige Schuldzuweisungen. Ein Teufelskreis, denn das Schwanken zwischen Ohnmachts- und Ausgeliefertheitsgefühlen auf der einen und Aggression im persönlichen Umfeld als Resultat der Personalisierung von Konflikten auf der anderen Seite hängen eng zusammen.
Aus der Vermittlungsbeziehung des Menschen zur gesellschaftlichen Realität folgt jedoch zwingend: Menschliches Handeln ist nicht bedingungsgetrieben, sondern möglichkeitsoffen. Die gesellschaftlichen Bedingungen stellen niemals bloße Determinanten des Handelns dar, sondern bilden einen Möglichkeitsraum, in dem wir uns bewegen. Zudem sind sie beeinflussbar. Wäre das anders, hinge nicht nur der einzelne Mensch hoffnungslos als Fahne im Wind, sondern jede Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse prinzipiell ausgeschlossen. Dass das nicht so ist, beweist die Geschichte, die ja ein Zeitstrahl der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse ist.
In welcher Weise die grundsätzlich vorhandenen Möglichkeiten individuell genutzt werden, ist ebenso nicht festgelegt wie die Unverrückbarkeit der Bedingungen. Dass viele diese Freiheit nicht ausnutzen, ja nicht einmal wahrnehmen und erleben, ist leider eine mögliche Folge genau dieser tatsächlich vorhandenen, relativen Freiheit. Denn es ist eben eine menschliche Möglichkeit, sich als bedingungsgetrieben zu erleben und danach in selbstbeschränkender Weise zu handeln. Der Mensch kann die ohnehin vorhandenen Einflüsse, sich klein und ohnmächtig zu fühlen, selbst übernehmen und sich für ohnmächtig erklären, nicht mehr auf Möglichkeiten achten und die eigenen Fähigkeiten verkümmern lassen oder nicht weiter entwickeln.
Emanzipation muss hier für die Alternative werben, nämlich dem Suchen nach und Ergreifen von Möglichkeiten, der Erweiterung der individuellen Handlungsfähigkeit und der Einflussnahme auf die Bedingungen, die zunächst unverrückbar scheinen.

Im Original: Der Text aus der ersten Auflage
Gruppe Gegenbilder (1. Auflage 2000): "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen", SeitenHieb-Verlag in Reiskirchen (S. 25)
Menschliches Dasein ist immer gesellschaftliches Dasein. Auch ein isolierter, einsamer Mensch ist qua Natur ein gesellschaftlicher Mensch, denn Isoliertheit bedeutet das relative Ausgeschlossensein aus gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die gesellschaftliche Natur kommt dem Menschen genetisch zu, und diese Potenz muss der Mensch entfalten, will er sein Leben reproduzieren. Ein ungesellschaftliches Reproduzieren menschlichen Lebens ist nicht möglich. Doch wie funktioniert die Schaffung und Erhaltung menschlichen Lebens auf gesell-schaftliche Weise?
Der Mensch produziert und reproduziert sein Leben vermittels der gesellschaftlichen Möglichkeiten, oder anders formuliert: Die individuelle Existenz des Menschen ist gesamtgesellschaftlich vermittelt (vgl. Holzkamp 1985, 192). Das Begreifen der Vergesellschaftung, wie wir sie in Kap. 2.2 für die verschiedenen Epochen dargestellt haben, als Vermittlung zwischen Individuen und Gesellschaft schließt zwei immer wieder anzutreffende einseitige Sichtweisen aus: Weder verfügt der Mensch unmittelbar über alle Bedingungen seines Lebens und kann sie direkt bestimmen, noch wird er vollständig von den Bedingungen bestimmt und gesteuert. Dennoch finden sich diese Auffassungen sehr häufig auch unter kritischen Menschen. Die eine zeigt sich als personalisierende Sichtweise auf Beziehungen, etwa so, als ob man alle Dinge in der Kleingruppe schon regeln könne; die andere zeigt sich als deterministischer Bedingungsfatalismus, etwa so, als ob alle Menschen gleich Spielpuppen durch eine unsichtbare Hand geführt werden und man daher nichts machen könne. Beide spiegeln zwar Teile von Realität wider, jedoch in einer verqueren Weise.
In der deterministischen Sicht zeigt sich die reale subjektlose selbstlaufende Verwertungsmaschine, in der sich die Menschen gleich Rädchen im Getriebe als den Bedingungen vollständig unterworfen empfinden. Die personalisierende Sicht ist die andere Seite der gleichen Medaille: Da den Menschen die Verfügung über ihre Bedin-gungen entzogen ist, scheinen alle beeinflussbaren Umstände ausschließlich im nahen persönlichen Bereich zu liegen. Viele Konflikte sind hier jedoch nicht lösbar, da ihre Ursachen im scheinbar unverfügbaren gesellschaftlichen Bereich liegen. Dieser Widerspruch provoziert Unsicherheit, Aggressionen und gegenseitige Schuldzuweisungen. Ein Teufelskreis, denn das Schwanken zwischen Ohnmachts- und Ausgeliefertheitsgefühlen auf der einen und Aggression im persönlichen Umfeld als Resultat der Personalisierung von Konflikten auf der anderen Seite hängen eng zusammen.
Aus der Vermittlungsbeziehung des Menschen zur gesellschaftlichen Realität folgt jedoch zwingend: Menschliches Handeln ist nicht “bedingungsgetrieben”, sondern “möglichkeitsoffen”. Die gesellschaftlichen Bedingungen stellen niemals bloße Determinanten des Handelns dar, sondern bilden einen Möglichkeitsraum, in dem wir uns bewegen. Sonst wäre, nebenbei bemerkt, jede Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse prinzipiell ausgeschlossen - und das ist nicht so, wie wir aus der Geschichte wissen. In welcher Weise die grundsätzlich vorhandenen Möglichkeiten individuell genutzt werden, ist jedoch keineswegs festgelegt. Es ist eben auch eine menschliche Möglichkeit, sich als bedingungsgetrieben zu erleben und danach in selbstbeschränkender Weise zu handeln. Aber hier kommt es uns auf die zweite Alternative an, die wir stark machen wollen, und das ist die Alternative der Erweiterung der individuellen Handlungsfähigkeit in einer für alle nützlichen Form. Um diese Alternative deutlich herauszuarbeiten, kontrastieren wir die beiden Formen menschlicher Beziehungen, um die es uns hier geht.
Die einschränkende und selbst beschränkende Beziehungsform ist die der Instrumentalbeziehungen. Ich betrach-te andere Menschen als Instrument meiner Ziele, Interessen und Bedürfnisse, die ich auf ihre Kosten durchsetze. Diese Form ist nicht nur für andere einschränkend, sondern auch für mich selbst beschränkend, weil die anderen Menschen in umgekehrter Weise genauso mich zum Instrument ihrer Interessenerreichung machen, wie ich umgekehrt sie. Es ist leicht vorstellbar, dass ich mein Bestreben, die anderen zu instrumentalisieren, nur durchsetzen kann, wenn ich stets etwas “besser” bin als diese. Doch da die anderen in der Abstiegsspirale der Zersetzung menschlicher Beziehungen ebenfalls reagieren, schlagen meine “Anstrengungen” wieder auf mich zurück, oder anders formuliert: Ich werde mir selbst zum Feinde! Diese Handlungsweise darf jedoch keinesfalls zum individuellen Defekt erklärt werden, der einem selbst “nicht passieren könne”: Instrumentelle Beziehungen sind die in der kapitalistischen Gesellschaft nahegelegte Beziehungsform, da sie den Konkurrenzkampf innerhalb der ökonomischen Wertmaschine widerspiegelt. Der Kapitalismus kennt nur instrumentelle Beziehungen und die dazugehörigen Partialinteressen und kann auch nur solche hervorbringen. Der Kampf der einen Partialinteressen gegen die anderen wird dann “Demokratie” genannt.
Die Alternative von Beziehungen, die auf allgemeinen Interessen beruhen, kann der Kapitalismus nicht hervorbringen: Er kennt keine allgemeinen Interessen. Subjektbeziehungen, wie wir die Alternative nennen (Holzkamp 1985, 370), basieren auf verallgemeinerbaren Interessen. Verallgemeinerbare Interessen sind solche, die nicht auf Kosten anderer, sondern nur im Interesse aller erreicht werden können. Subjektbeziehungen müssen aktiv gegen die nahegelegten Tendenzen zur Instrumentalisierung durchgesetzt werden - und das ist nicht einfach. Auch wohlmeinende Worte wie “Freiheit “ und “Emanzipation” schützen vor Instrumentalisierung nicht: “Die meisten von uns haben gelernt..., dass Emanzipation die Freiheit bedeute, den Anderen und die dingli-che Welt auf deren Nützlichkeit für die Befriedigung der eigenen Interessen zu reduzieren” (Baumann 1992, 247)
Es gäbe kaum Hoffnung, wenn die Instrumentalisierung tatsächlich dem “natürlichen menschlichen Wesen” entspräche. Zur radikalen Veränderung der Gesellschaft, wie wir sie anstreben, gehört unbedingt eine Entfaltung der Subjektivität des Einzelnen, die die Entfaltung der Subjektivität der anderen notwendig mit einschließt. Subjektbeziehungen sind in allgemeinen Interessen gegründet: “Subjektbeziehungen sind Beziehungen zwischen Menschen, in denen das gemeinsame Ziel der Beteiligten prinzipiell mit allgemeinen gesellschaftlichen Zielen zusammenfällt” (Rudolph 1996, 45).
Allgemeine Ziele sind dabei weniger inhaltlich bestimmt, sondern dadurch, “dass sie sich nicht gegen die Interessen bestimmter Personen oder Gruppen richten können” (Holzkamp 1980, 210). Dabei muss sich der Einzelne keinem Ganzen unterordnen, sondern sein ganz individuelles Sein - wie das der anderen - schafft die Gesellschaft. Wenn er sich ganz für sich und seine Interessen einsetzt, setzt er genau damit das Stückchen Gesellschaftlichkeit in die Welt, das seiner Individualität entspricht. Die individuelle Subjektivität ist die
“Gewinnung der bewußten Bestimmung der eigenen Lebensumstände in gleichzeitiger Überschreitung der Individualität, da durch Zusammenschluß mit anderen unter den gleichen Zielen die Möglichkeiten der Einflußnahme auf die eigenen Lebensbedingungen sich potenzieren” (Rudolph 1996, 45).
Subjektbeziehungen und Instrumentalbeziehungen können wir dementsprechend wie folgt skizzieren (Rudolph 1996, 46):

Subjektbeziehungen

  • Die gemeinsamen Ziele der Einzelnen fallen mit allgemeinen gesellschaftlichen Zielen zusammen.
  • Es handelt sich um Beziehungen ohne Unterdrückung.
  • Das Interesse an der Subjektentwicklung des anderen Beteiligten ist das Interesse eines jeden.
  • Daraus entsteht eine begründbare Grundlage für wechselseitiges Vertrauen.
  • Angstlosigkeit, Freiheit, Offenheit und Eindeutigkeit in der gegenseitigen Zuwendung.

Instrumentalbeziehungen
  • Ein Zusammenschluß von Gleichgesinnten findet statt unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzbarkeit gleicher individueller Ziele gegenüber nicht Gleichgesinnten (oder gesellschaftlicher Partialinteressen gegeneinander).
  • Sie werden hergestellt und zusammengehalten über die Vorteile, die die Beziehung dem Einzelnen oder allen Beteiligten gegenüber anderen bringt.
  • Sie werden reguliert durch Zwang, Abhängigkeit, Druck, Unterdrückung.

Die konkrete Utopie intersubjektiver Beziehungen beschreibt Iris Rudolph so: “Ich möchte eine Welt, in der die Menschen sich nicht gegenseitig benötigen, in der sie einfach durch das, was sie tun und alles lassen, für sich tun und lassen, gleichzeitig auch das Beste für alle anderen tun” (Rudolph 1998, 78).
Es ist einsichtig, dass das Ziel der Erringung der “Epoche der Menschen” auf Grundlage intersubjektiver Beziehungen niemals auf dem Wege instrumenteller Ausnutzung erreicht werden kann. Kein noch so “positives Ziel” rechtfertigt die Durchsetzung individueller Interessen auf Kosten anderer. Ein Ziel, dass auf Kosten anderer er-reicht oder angestrebt wird, ist kein allgemeines, sondern in Partialinteressen begründet, und die Durchsetzung von Partialinteressen ist immer mit Instrumentalbeziehungen verbunden. Die Übereinstimmung von Weg und Ziel ist damit keine moralische Forderung, sondern eine immanent logische! Verstoße ich dagegen, ist das kein Grund für ein schlechtes Gewissen oder moralische Verdammnis, sondern ein Anlaß, die Gründe für das Durchschlagen partieller Interessendurchsetzung auf Kosten anderer anzusprechen. Dabei ist der selbstschädigende Charakter solcher Handlungen offenzulegen. dass hierbei Angstlosigkeit, Freiheit und Offenheit eine Voraussetzung für die Klärung von Konflikten bilden, ist deutlich. Es wird klar: Subjektbeziehungen kann man nicht erzwingen, sie sind dennoch unhintergehbar die Voraussetzung auf dem Weg in eine herrschaftsfreie Gesellschaft.
Grundsätzlich können wir kaum vorschreiben, wie diese neue Gesellschaft ihre Kooperation zu organisieren hat. Eins jedoch muss gewährleistet sein: die Einzelnen müssen die Möglichkeit haben, wählen und neu schaffen zu können. Sie müssen aus dem jeweils Gegebenen auch “herausgehen” können. Dies ist die einfachste und grund-legendste Voraussetzung für Freiheit: “Nur das macht freie Kooperation aus: dass man sie aufkündigen oder einschränken kann, um Einfluß auf ihre Regeln zu nehmen.” (Spehr 1999, 236).
Wenn dies unserem grundlegenden Ziel entspricht, entsteht eine Übereinstimmung mit den Wegen, auf denen wir nur dahin gelangen können. Die Forderung, dass der Weg dem Ziel entsprechen müsse, ist also hochaktuell. Es ist jedoch nicht damit getan, die bisherigen Herrschaftsmittel fortzuräumen. Damit die geschaffenen Freiräume auch wirklich durch die Menschen im emanzipatorischen Sinne genutzt werden, müssen Erfahrungen von Subjektbeziehungen in den Freiräumen möglich sein. Die Möglichkeit intersubjektiver Beziehungen muss prak-tisch als real besser, angenehmer, herausfordernder und perspektivreicher erlebt werden als die alltäglichen Erfahrungen mit instrumentellen Beziehungen, die wir alle immer wieder machen. Dabei gilt, dass Subjektbeziehungen nicht aufgrund einer neuen “political correctness” den neuen moralischen Anpassungsmaßstab für individuelles Handeln bilden - das wäre absurd, ja geradezu kontraproduktiv: Subjektbeziehungen sind niemals vorstellbar als Resultat einer Anpassung an den “Gruppendruck” oder was auch immer. Subjektbeziehungen sind das Gegenteil der Übernahme des Nahegelegten, ob im Verhältnis zur gesellschaftlichen Wertmaschine oder zu einer Initiative, Gruppe etc. Jede Kritik, die im vorgeblichen Interesse der Gruppenharmonie unterbleibt, ist eine verlorene Chance - für die Gruppe und für mich.
Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln sich permanent, das gilt auch für intersubjektive Beziehungen. Die praktischen Erfahrungen in der Kooperation mit anderen, bei der Aktion, beim Streik, bei der Blockade oder beim Flugblatt schreiben bilden eine wichtige Grundlage. Widerstand ist deshalb auch Subjektwerdung wie sie z.B. Peter Weiss im Roman “Ästhetik des Widerstands” (1983) ausführlich beschreibt. Hier haben auch so begrenzte Formen wie Zukunftswerkstätten, das Konzept “New Work” (nur das tun, was ich “wirklich, wirklich” tun will) oder Tauschringe, die Fixierungen auf Lohnarbeit und Geld aufbrechen, ihren berechtigten Platz. Voraussetzung ist, dass sie nicht die Integration in den gegebenen Kapitalismus befördern, sondern Widersprüche hervorrufen, die zu weiteren Auseinandersetzungen beitragen. “Soziale Erfindungen” sind unverzichtbar, doch die Inhalte dürfen dahinter nicht zurückbleiben.


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