Projektwerkstatt Saasen

BENJAMIN BARBER: STARKE DEMOKRATIE

Input-orientierte und output-orientierte Demokratie


1. Aus dem Buch "Demokratie" (SeitenHieb-Verlag)
1. Texte aus Klassikern und aktuellen Theoriewerken (Übersicht)
3. Das Grundlagenprogramm
4. Staat ohne Herrscher
5. Input-orientierte und output-orientierte Demokratie
6. Von den natürlichen Bedingungen der Menschheit im Hinblick auf ihr Glück und Unglück
7. Hamilton/Madison/Jay: Verfassungskommentar
8. Revolution der Demokratie
9. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein
10. Niklas Luhmann: Die Zukunft der Demokratie
11. Vom Gesellschaftsvertrag
12. Joseph Schumpeter: Elitetheorie
13. Max Weber: Politik als Beruf
14. Die bürgerliche Elite zu ihrem Liebling "Demokratie"
15. Der Staat
16. Thomas von Aquin: Über die Herrschaft des Fürsten
17. Input-orientierte und output-orientierte Demokratie
18. Führungsschicht und einzelner Bürger
19. Die Machtfrage bei Hobbes und Spinoza
20. Vom Staatsrechte, oder dem Rechte in einem gemeinen Wesen
21. Hardt/Negri: Multitude

Aus Benjamin Barber: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen. Aus dem Amerikanischen von Christiane Goldmann und Christel Erbacher-von Grumbkow, mit einem Nachwort von Hubertus Buchstein und Rainer Schmalz-Bruns. Hamburg 1994 (Original: Benjamin Barber: Strong Democra(y. Participatory Politicsfor a New Age, Berkeley: University of Cafifornia Press 1984). Gekürzter Auszug, S. 146-152, zitiert in: Massing, Peter/Breit, Gotthard (2002): „Demokratie-Theorien“, Wochenschau Verlag Schwalbach, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (S. 269 f.)

Die Zukunft der Demokratie liegt in der starken Demokratie - in der Wiederbelebung einer Form von Gemeinschaft, die nicht kollektivistisch, einer Form des öffentlichen Argumentierens, die nicht konformistisch ist, und einer Reihe bürgerlicher Institutionen, die mit einer modernen Gesellschaft vereinbar sind. Starke Demokratie ist durch eine Politik der Bürgerbeteiligung definiert: sie ist buchstäblich die Selbstregierung der Bürger, keine stellvertretende Regierung, die im Namen der Bürger handelt. Tätige Bürger regieren sich unmittelbar selbst, nicht notwendigerweise auf jeder Ebene und jederzeit, aber ausreichend häufig und insbesondere dann, wenn über grundlegende Maßnahmen entschieden und bedeutende Macht entfaltet wird. Selbstregierung wird durch Institutionen betrieben, die eine dauerhafte Beteiligung der Bürger an der Festlegung der Tagesordnung, der Beratung, Gesetzgebung und Durchführung von Maßnahmen (in der Form "gemeinsamer Arbeit“) erleichtern. Die starke Demokratie setzt kein grenzenloses Vertrauen in die Fähigkeit der Individuen, sich selbst zu regieren, hält aber wie Machiavelli daran fest, daß die Menge im großen und ganzen eben so einsichtig, wenn nicht gar einsichtiger als die Fürsten sein wird. Sie pflichtet Theodore Roosevelts Ansicht bei, daß "die Mehrheit des einfachen Volkes tagein tagaus weniger Fehler machen wird, wenn sie sich selbst regiert als jene kleine Gruppe von Männern, die versucht das Volk zu regieren".
Als Antwort auf die Dilemmata der politischen Ausgangsbedingungen betrachtet, läßt sich starke Demokratie formal so definieren: Starke Demokratie als Bürgerbeteiligung löst Uneinigkeit bei Fehlen eines unabhängigen Grundes durch den partizipatorischen Prozeß fortwährender, direkter Selbstgesetzgebung sowie die Schaffung einer politischen Gemeinschaft, die abhängige, private Individuen in freie Bürger und partikularistische wie private Interessen in öffentliche Güter zu transformieren vermag.

Die entscheidenden Begriffe in dieser starken Formulierung von Demokratie sind: Tätigkeit, Prozeß, Selbstgesetzgebung, Schaffung einer Gemeinschaft und Transformation. Während schwach-demokratische Formen Uneinigkeit entweder auflösen (die anarchistische Disposition) oder unterdrücken (die realistische Disposition) bzw. tolerieren (die minimalistische Position), transformiert starke Demokratie Uneinigkeit. Sie macht aus Meinungsverschiedenheiten einen Anstoß zu Gegenseitigkeit und aus privaten Interessen ein erkenntnistheoretisches Werkzeug des öffentlichen Überlegens.
Eine Politik der Bürgerbeteiligung handhabt öffentliche Streitfragen und Interessenkonflikte so, daß sie einem endlosen Prozeß der Beratung, Entscheidung und des Handelns unterworfen werden. Jeder Schritt des Prozesses vollzieht sich auf eine flexible Weise im Rahmen anhaltender Verfahren, die in konkret historische Bedingungen, soziale und wirtschaftliche Gegebenheiten eingebettet sind. Starke Demokratie sucht nicht nach einem vorpolitischen, unabhängigen Grund oder einem veränderlichen rationalen Plan, vielmehr vertraut sie der Partizipation in einer Gemeinschaft, die sich weiterentwickelt, Probleme löst und öffentliche Zwecke schafft, wo es zuvor keine gab. All dies vermag die Gemeinschaft zu leisten, weil sie tätig ist und ihre eigene Existenz zum Brennpunkt des Verlangens nach wechselseitig anerkannten Lösungen wird. In Gemeinschaften dieser Art leiten sich öffentliche Zwecke weder aus etwas Absolutem her, noch werden sie in einem vorgängig existierenden, "verborgenen Konsens" entdeckt. Sie werden buchstäblich im Akt der öffentlichen Partizipation geformt und durch gemeinsame Beratung wie gemeinsames Handeln geschaffen, wobei eine besondere Rolle spielt, daß sich der Gehalt und die Richtung von Interessen ändert, sobald sie partizipatorischen Prozessen dieser Art ausgesetzt sind.
Starke Demokratie scheint demnach potentiell in der Lage zu sein, die Grenzen des Prinzips der Repräsentation und das Vertrauen auf vermeintlich unabhängige Gründe zu überschreiten, ohne so entscheidende demokratische Werte wie Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit aufzugeben. Tatsächlich gewinnen diese Werte eine reichere und gehaltvollere Bedeutung als ihnen jemals im instrumentellen Rahmen liberaler Demokratie zukommen könnte. Denn die starkdemokratische Lösung für die politische Ausgangsbedingung entsteht aus einer sich selbst zuarbeitenden Dialektik aktiver Bürgerbeteiligung und ununterbrochener Schaffung einer Gemeinschaft, in der Freiheit und Gleichheit gefördert und politisches Leben aufrechterhalten werden. Gemeinschaft erwächst ans Bürgerbeteiligung und ermöglicht zugleich Partizipation. Nehmen Individuen ihre Aufgaben als Bürger wahr, dann werden sie zugleich dazu erzogen, öffentlich als Bürger zu denken, so wie die Bürgerschaft die staatsbürgerliche Tätigkeit mit dem erforderlichen Sinn für Öffentlichkeit und Gerechtigkeit erfüllt. Politik wird zu ihrer eigenen Universität, Bürgerschaft zu ihrer eigenen Lehranstalt und Partizipation Zu ihrem eigenen Lehrmeister. Freiheit ist das, was diesen, Prozcß entspringt, nicht was in ihn eingeht (146-149).
Wie viele andere politische Begriffe hat auch die Idee der Bürgerschaft eine wesentlich normative Dimension - eine Dimension, die von dem Begriff der Bürgerschaft umrissen wird. Massen machen Lärm, Bürger beratschlagen, Massen verhalten sich, Bürger handeln, Massen stoßen zusammen und überschneiden sich, Bürger engagieren sich, teilen etwas miteinander und leisten einen Beitrag. In dem Augenblick wo "Massen" beginnen, sich zu beratschlagen, zu handeln und beizutragen, hören sie auf, Massen zu sein und werden zu Bürgern. Erst dann "nehmen sie teil“.
Wir können auch, aus einer anderen Richtung kommend, sagen: Bürger zu sein heißt, auf eine bestimmte, bewußte Weise an etwas teilzunehmen, auf eine Weise, die voraussetzt, daß man andere wahrnimmt und gemeinsam mit ihnen handelt. Aufgrund dieses Bewußtseins verändern sich die Einstellungen und gewinnt Partizipation jenen Sinn von wir, den ich mit Gemeinschaft assoziiert habe. Teilzunehmen heißt, eine Gemeinschaft zu schaffen, die sich selbst regiert und eine sich selbst regierende Gemeinschaft zu schaffen, heißt teilzunehmen. ja, vom Standpunkt starker Demokratie aus sind die zwei Begriffe, Partizipation und Gemeinschaft, Aspekt ein und derselben sozialen Daseinsweise: der Bürgerschaft (152).

Ein stark demokratisches Programm zur Wiederbelebung der Bürgerschaft

1. Ein landesweites System von Nachbarschaftsversammlungen, die aus jeweils eintausend bis fünftausend Bürgern bestehen; sie hätten anfangs nur Beratungsfunktionen, später dann auch legislative Kompetenzen im kommunalen Bereich. 2. Eine nationale Kommunikationsgenossenschaft der Bürger, die die staatsbürgerlich förderliche Nutzung neuer Kommunikationstechnologien regelt und überwacht, und gleichzeitig Debatte und Diskussion von Fragen beaufsichtigt, die zur Volksabstimmung vorliegen.
3. Ein Videotext-Dienst und eine Postverordnung zur staatsbürgerlichen Erziehung, um den Zugang zu Informationen für alle zu gewährleisten und die staatsbürgerliche Erziehung aller Bürger zu fördern.
4. Versuche in Entkriminalisierung und informeller Laienjustiz durch eine engagierte Bürgerschaft.
5. Elin nationales Volksbegehren- und Volksabstimmungsverfahren, das Volksbegehren und Volksabstimmungen über die Gesetzgebung des Kongresses möglich macht. Dazu gehören ein Multiple-Choice-Format und ein Abstimmungsprozess in zwei Phasen.
6. Versuche mit elektronischer Abstimmung, anfangs ausschließlich zu erzieherischen Zwecken und zur Meinungsforschung, unter Supervision der Kommunikationsgenossenschaft der Bürger.
7. Besetzung kommunaler Ämter in ausgewählten Bereichen durch Losentscheid, mit finanziellen Anreizen.
8. Versuche mit einem internen Gutscheinsystem für ausgewählte Schulen, öffentlichen Wohnungsbau sowie Transport und Verkehr.
9. Ein allgemeiner Bürgerdienst, mit der Möglichkeit für alle Bürger, Militärdienst zu leisten.
10. Öffentliche Finanzierung von kommunalen Programmen mit Freiwilligen.
11. Öffentliche Förderung von Versuchen zur Demokratisierung der Arbeitswelt, wobei öffentliche Einrichtungen als Beispiele alternativer Wirtschaftsformen zu dienen hätten.
12. Eine neue Architektur des öffentlichen Raumes.
Dieses Programm ist keine Illusion starker Demokratie; es ist starke Demokratie. Wird es umgesetzt, bekommt die hier von uns entwickelte Theorie die Lebendigkeit echter Praxis (290-291).


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