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DIE SELBSTVERTEIDIGUNG VOR GERICHT
RECHTE, HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN, ANTRÄGE, AKTIONEN FÜR ANGEKLAGTE MIT UND OHNE RECHTSBEISTAND/ANWÄLTIN

Urteil


1. Tipps für Angeklagte mit und ohne Rechtsbeistand/AnwältIn
2. Tipps in der Vorphase des Prozesses
3. Tipps für den Prozess selbst (Gerichtsverhandlung)
4. Beweisaufnahme
5. Plädoyers und Letztes Wort
6. Urteil
7. Aussagen und Sachverständige
8. Berufung, Revision & Co. - nach dem ist vor dem ...
9. Das Publikum
10. Angst vor Gericht(en): Einschüchterungsgründe vor Gericht und Umgang mit denen
11. Berichte und weitere Links
12. Direct-Action-Hefte zum Thema und weitere Materialien

Wenn alle Aktionen und offensive Prozessführung nichts genutzt haben, fällt am Ende dennoch ein Urteil. Die Paragraphen dazu:

StPO § 260
(1) Die Hauptverhandlung schließt mit der auf die Beratung folgenden Verkündung des Urteils.
(2) Wird ein Berufsverbot angeordnet, so ist im Urteil der Beruf, der Berufszweig, das Gewerbe oder der Gewerbezweig, dessen Ausübung verboten wird, genau zu bezeichnen.
(3) Die Einstellung des Verfahrens ist im Urteil auszusprechen, wenn ein Verfahrenshindernis besteht.
(4) Die Urteilsformel gibt die rechtliche Bezeichnung der Tat an, deren der Angeklagte schuldig gesprochen wird. Hat ein Straftatbestand eine gesetzliche Überschrift, so soll diese zur rechtlichen Bezeichnung der Tat verwendet werden. Wird eine Geldstrafe verhängt, so sind Zahl und Höhe der Tagessätze in die Urteilsformel aufzunehmen. Wird die Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten, die die Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung zur Bewährung ausgesetzt, der Angeklagte mit Strafvorbehalt verwarnt oder von Strafe abgesehen, so ist dies in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen. Im übrigen unterliegt die Fassung der Urteilsformel dem Ermessen des Gerichts.
(5) Nach der Urteilsformel werden die angewendeten Vorschriften nach Paragraph, Absatz, Nummer, Buchstabe und mit der Bezeichnung des Gesetzes aufgeführt. Ist bei einer Verurteilung, durch die auf Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren erkannt wird, die Tat oder der ihrer Bedeutung nach überwiegende Teil der Taten auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen worden, so ist außerdem § 17 Abs. 2 des Bundeszentralregistergesetzes anzuführen.


StPO § 261
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.


"Freie Beweiswürdigung" nennt sich das, was laut § 261 ein Gericht dann am Schluss macht. Es ist eine andere Formulierung für Willkür, wie Anwalt Tronje Döhmer in seinen Aufsätzen nachweist.

Es gibt einige weitere Paragraphen zum Urteil. Das Urteil bildet den Abschluss und traurigen Höhepunkt des Prozesses. Es ist der bedeutendste Akt der Herstellung von Objektivität und Wahrheit, der religiöse Kernakt in der Vollziehung von Rechtsstaats-Liturgie. Für Aktionen ist der wichtigste Zeitpunkt gekommen, denn hier werden die sakrale Ordnung, die antiemanzipatorische Logik von Mobiliar, Sprache, dem unterwürfigen Aufstehen aller usw. auf die Spitze getrieben. Und: Es kann niemandem mehr schaden, jetzt Aktionen zu machen, denn das Urteil steht fest. Auch kann mensch nichts mehr verpassen, beim Rauswurf nur noch die Urteilsverlesung. Da das Urteil zum Prozess dazu gehört, kann es für Berufung oder Revision sogar von Vorteil sein, nun das Gericht zu unüberlegten Handlungen, z.B. der Räumung des gesamten Saales zu provozieren.

Im Namen des Volkes
Am Beginn des Urteil stehen die Wort, die den anti-emanzipatorischen Gehalt von Gerichtsprozessen und Rechtsstaat am deutlichsten machen: "Im Namen des Volkes". Das ist aus vielerlei Hinsicht eine üble Bevormundung:
  • Das "Volk" ist bereits als solches ein anti-emanzipatorisches Konstrukt. Es gibt keine Völker. Sie werden durch Setzungen von oben erfunden, begleitet von einer - sich dann aber auch selbsttragenden - Propaganda des "Wir" und des ausgrenzenden "Ihr" bzw. "die Anderen" oder "das Fremde". Es entsteht eine meist sehr unscharf umrissene Masse von Menschen als gefühlte, d.h. Schein-Einheit. Die meisten Menschen eines "Volkes" kennen sich nicht und wären auch nie auf die Idee gekommen, miteinander eine Einheit zu bilden. Insofern ist schon die Benennung, dass es ein Volk überhaupt gibt, eine anti-emanzipatorische, d.h. die Selbstbestimmung brechende Behauptung.
  • Im Namen des Volkes zu sprechen ist dann eine brutale Vereinnahmung der Menschen, die erst zum Volk konstruiert wurden, d.h. in dieses ohne jegliche Befragung hineingepresst wurden, und in deren Namen dann auch noch Einzelne zu sprechen meinen.
  • Im Gericht wird diese Logik noch einmal gesteigert. Das Volk, das es gar nicht gibt, aber was ge- und erdacht wird, wären z.B. auch die im Zuschauerraum oder auf der Angeklagebank sitzenden Menschen. Die Institution, die häufig Menschen kaltschnäuzig in Knäste abschiebt, erdreistet sich, auch noch im Namen der Angeklagten zu sprechen, deren soziales Leben es gleichzeitig ruiniert. Ebenso spricht es im Namen der Menschen im Zuschauerraum, die aber während des Prozesses zum Schweigen verdammt sind und in krasse Regeln gepresst werden. Machen sie trotzdem dem Mund auf, fliegen sie raus - das sog. Volk wird mundtot gemacht, um ungestörter in seinem Namen reden zu können.
  • Auch der Blick in die Geschichte ist belastend: Die ausgeprägteste Form der Logik, dass Gerichte das Sprachrohr des Volkes sind, haben die Nazis mit ihren Volksgerichtshöfen geschaffen. Die Logik ist, wenn auch nicht in dieser Ausprägung, unverändert vorhanden.

StPO § 268
(1) Das Urteil ergeht im Namen des Volkes.
(2) Das Urteil wird durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe verkündet. Die Eröffnung der Urteilsgründe geschieht durch Verlesung oder durch mündliche Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts. Die Verlesung der Urteilsformel hat in jedem Falle der Mitteilung der Urteilsgründe voranzugehen.
(3) Das Urteil soll am Schluß der Verhandlung verkündet werden. Es muß spätestens am elften Tage danach verkündet werden, andernfalls mit der Hauptverhandlung von neuem zu beginnen ist. § 229 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 2 gilt entsprechend.
(4) War die Verkündung des Urteils ausgesetzt, so sind die Urteilsgründe tunlichst vorher schriftlich festzustellen.


Es wurde schon mehrfach beobachtet, dass Urteile von Papierbögen verlesen wurden, die bereits am Anfang auf dem Tisch des Gerichts lagen und an denen nichts mehr verändert wurde. Will heißen: Das Urteil stand da schon vor Beginn der Verhandlung drauf. Ein besonders absurder Fall spielte 2018: Ein Angeklagter fand das Urteil in seiner Akte - vor dem Prozess und mit dem Vermerk, diese Blätter vor der Akteneinsicht zu entfernen (was wohl versehentlich unterblieb). Ein deshalb gestellter Befangenheitsantrag wurde abgelehnt - das Urteil darf schon vorher geschrieben werden, offiziell anerkannt!

Weil die Urteilsverkündigung die krasseste Form anti-emanzipatorischen Denkens ist und gleichzeitig nichts mehr zu verlieren ist, können hier Aktionen gut ansetzen. Beispiele, teilweise schon mal praktisch angewendet, sind:
  • Im Prozess gegen Projektwerkstättler blieben die Angeklagten der Urteilsverkündung aus Protest ganz fern. Einer von ihnen wurde dann von der Polizei zwangsvorgeführt. Vor Gericht kündigte er an, den Spruch "Im Namen des Volkes" nicht widerstandslos hinzunehmen. Er begründete das auch ( wie oben beschrieben) und beantragte, den Gerichtssaal wieder verlassen zu dürfen. Schließlich genehmigte die vorsitzende Richterin ihm, während dieser Passage die Ohren zuzuhalten. So geschah es. Das verhinderte das Urteil nicht, aber war eine auffällige Demonstration per Debatte um die vier Worte ...
  • Natürlich ist auch eine Aktion dagegen möglich. Ein etwaiges Verfahren dürfte jedenfalls spannend werden, wenn jemand angeklagt ist, dass er sich beschwert hat, wenn ungefragt oder sogar gegen seinen/ihren Willen in seinem/ihrem Namen geredet wird.
  • T-Shirt, Transparente, gerufene Parolen der Marke "Not in my name".
  • Was oft auch schon wirkt: Nicht aufstehen. Das Gericht wird eineN dann auffordern, aufzustehen - auch die liberalsten RichterInnen können es nicht ab, wenn beim Urteil nicht andächtig gestanden wird. Die Aufforderung ist genau das Gewollte: Erklären, warum man es nicht tut (eben obige oder andere Gründe) - und zwar unabhängig vom Urteil, also ob Schuld- oder Freispruch. Denn für die Logik des "Im Namen des Volkes" ist das völlig egal.
  • Lieder singen zum Thema, Theatereinlagen wie Mars-TV.
  • Konfetti, Böller, Party, Tanzen statt Gehorsam ... und im Zweifel räumen lassen, dabei weiter tanzen u.ä. und mit Rufen der Art "Tragt uns raus, das hier ist eh nicht unsere Welt", "Macht Euren Herrschaftsscheiß alleine" oder "Buntes Leben statt ..." die Machtdemonstration des autoritären Staates noch karikieren.

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