ANARCHIE VS. MARXISMUS: LIBERTÄRER KOMMUNISMUS ODER GEGENSEITIGE HETZE?
Unterschiede im Detail
1. Einleitung
2. Vergleiche
3. Unterschiede im Detail
4. Anarchokritik und -hetze gegen (autoritären) Kommunismus/Sozialismus
5. Sozialistische und kommunistische Kritik und Hetze an der Anarchie
6. Zusammengedacht: Marxismus und Anarchismus
Noch schwieriger als in den großen Linien lassen sich Unterschiede im Details fixieren. Denn sowohl im Anarchismus wie auch im wesentlich breiteren, von verschiedenen Theorierichtungen und -schulen geprägten Marxismus, deren Teile mitunter in heftigem ideologischen Streit stehen, lässt sich fast jede Ausformung finden. Hier zwischen Anarchismus und Marxismus unterscheiden zu wollen, bedarf also erheblicher Vereinfachungen, die die Haupttendenzen abbilden und um jeweils viele bis unzählige Ausnahmen ergänzt werden müssten, hätte dieses Buch lexikalische Ambitionen. Da es das nicht hat, sei hier wie auch in anderen Ausführungen immer bedacht, dass zu allem, was benannt wird, Abweichungen bestehen.
Regelmäßig wird von AnarchistInnen die Vorstellung abgelehnt, der Mensch sei durch seine natürliche Ausstattung, also z.B. über die genetischen Informationen, als soziales Wesen überwiegend vorgeprägt. Selbst wenn das nicht im Besonderen erwähnt wird, kann aus der Idee der Anarchie, dass soziale Bedingungen vom Menschen selbst geformt werden sollen und ein kontrollierender Überbau nicht nur überflüssig, sondern schädlich ist, geschlossen werden, dass der Mensch als Akteur und Produkt seiner Sozialisation gedacht wird. Wäre er bloßes Abbild der Natur, wäre das Thema der Anarchie mehr oder weniger gegenstandlos.
In der Annahme, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, sind sich MarxistInnen und AnarchistInnen einig. Allerdings folgern sie unterschiedliche Dinge daraus. Während die Anarchie der Selbstentwicklung des Menschen die Räume öffnen und konsequent eine Fremdsteuerung verhindern will, sehen die Hauptströmungen des Marxismus die Beeinflussung des Menschen zunächst als Ursache für deren Integration in bürgerliche, soziale Verhältnisse. Gleichzeitig wittern sie das als Chance ihrer Revolutionsidee, nämlich zumindest für den Übergang die staatliche Zentralgewalt zu übernehmen und zur Veränderung der Menschen hin auf eine freier Gesellschaft zu nutzen - böse formuliert also: die Menschen umzuerziehen. Über die Konsequenzen solcher Überlegungen herrscht zwischen AnarchistInnen und MarxistInnen ein tiefer Graben, der oft nur nicht sichtbar ist, weil eine Theoriedebatte zwischen ihnen fehlt oder - vor allem die AnarchistInnen - diese auch einfach gar nicht führen.
Unterschiede ergeben sich auch in der Frage, was das Ziel von Befreiung und gesellschaftlicher Umgestaltung ist - wobei auch hier wieder die internen Unterschiede teilweise groß sind, während sich keine eindeutige Trennlinie zwischen Anarchie und Marxismus festlegen lässt. Doch die Tendenz ist unübersehbar, dass in marxistischen Ideologien immer wieder als Allgemeininteressen oder ähnlich bezeichnete Zielvorgaben für die Gesellschaft konkurrierend neben die Selbstentfaltung des Menschen treten. Die Übereinstimmung wird zwar argumentativ so geglättet, dass die formulierten Allgemeininteressen ja den Einzelnen dienen, aber solche Annahmen unterliegen immer einer erheblichen Gefahr, dass sich allgemeine Ziele verständigen und am Ende gegen Menschen und ihre Bedürfnisse wenden. Hier vertreten AnarchistInnen - wenn sie denn Theorien entwickeln - in der Regel deutlich konsequentere Positionen gegen jede Bevormundung des Menschen durch abstrakte Entwürfe dessen, was gut und richtig sein soll.
Genau aber da schlummert der zentrale Konflikt: Kann der Staat Teil einer Lösungsstrategie sein, zumindest als Übergang? AnarchistInnen mit Theorieinteresse (leider eher selten) lehnen das vehement ab, während viele MarxistInnen in der Übernahme der Staatsgewalt eine Chance sehen - oder wahlweise diese revolutionäre Eroberung der Staatsgewalt sogar für taktisch notwendig einschätzen, um die massive Macht der InhaberInnen von Produktionsmitteln in die Knie zwingen zu können. Das penetrante Scheitern solcher Strategien in der bisherigen Geschichte sozialer Revolutionen führt bisher kaum zu Zweifeln, so dass der Traum weiterblüht, es könne beim nächsten Mal klappen - eine nicht nur geschichtslose, sondern auch von erheblichen Blindflecken in der Herrschaftsanalyse geprägte Einschätzung. Sie erfolgt allerdings nicht überraschend angeschichts der spürbaren Tendenz im Marxismus, wider dem Leitsatz, dass alle (!) Verhältnisse umzuwerfen sich, die den Menschen knechten, dennoch wieder Ziele zu formulieren, die über die Individualität der Einzelnen gestellt werden. So ist auch nur folgerichtig, dass Recht und Rechtsstaatlichkeit oft ein hohes Ansehen genießen.
Überraschender ist, wie häufig der Glaube an das Gute im Recht bei AnarchistInnen auftritt. Immer wieder werden Missstände als "illegal" bezeichnet - als wäre das eine Aussage zu mangelnder Qualität. Geschuldet ist das einmal der häufigen Theorielosigkeit, zum anderen der doch bemerkenswerten Akzeptanz demokratischer Spielregeln, die dann schnell - und analytisch unscharf - mit Rechtsstaatlichkeit gleichgesetzt werden. Recht und Volk sind aber künstliche Schöpfungen, deren Bedeutung über dem einzelnen Menschen angesiedelt wird und die daher niemals anarchistischen Ideen entsprechen können. Zumal sie regelmäßig in ihrer konkreten Verfasstheit durch privilegierte Kreise definiert werden.
Für andere AnarchistInnen ist eine solch einseitige Zuweisung des revolutionären Potentials nicht tragbar, weil es - zumindest für die Rolle in gesellschaftlichen Umwerfungen - selbst eine 2-Klassen-Gesellschaft schafft. Zudem ist problematisch, dass damit vielfach solche Menschen, die ohnehin schon doppelt und dreifach Unterdrückungsverhältnissen unterworfen werden, wie viele Frauen, Kinder, RentnerInnen, Arbeitslose usw., nochmals in zweite Glied gerückt werden.
Viele AnarchistInnen, soweit sie überhaupt theoretisch orientiert sind, hängen dekonstruktivistischen Modellen an: Es gibt keine Chance, irgendetwas "objektiv" wahrzunehmen. Der Mensch wertet immer, baut jede Wahrnehmung in seine Erfahrungs- und Begriffswelt ein. Selbst technische Untersuchungsgeräte sind davon nicht frei, weil erstens das Ergebnis immer von Menschen gesichtet und sofort im Moment der Wahrnehmung auch interpretiert wird. Und zweitens schon der Bau des Testgerätes in Form gießt, was Menschen gedacht haben. So neigt jede Beobachtung, also auch die wissenschaftliche Untersuchung dazu, das zu reproduzieren, was an Vorannahmen existiert. Nur die Zusammenschau der verschiedenen gerichteten Wahrnehmungen kann den BetrachterInnen erweiterte Erkenntnis schaffen (siehe auch den Text zu Wahrheit und Wahrnehmung in der Sammlung "Freie Menschen in freien Vereinbarungen").
Das klingt durchaus dialektisch und könnte somit kompatibel sein mit der marxistischen Idee von Erkenntnis. Doch der Unterschied bleibt in der Erwartung des Ergebnisses: Dialektik führt, so die Theorie, bei richtiger Anwendung zum Erkennen der Wahrheit. Skeptisches, dekonstrierendes Hinterfragen und Forschen, neues Wissen, immer neue Erkenntnisse ohne abschließende Erkenntnis - So sähe kritisches Erforschen aus. Denn alles ist immer gefärbt von der Gerichtetheit eigener Wahrnehmung und Beschränktheit der augenblicklichen Wahrnehmungsmittel. Technische Verbesserungen der Zukunft und neue Überlegungen können jederzeit alles Bisherige in Frage stellen.
In der Konsequenz ergeben sich grundsätzliche Anforderungen an eine Debatte. Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, ist nicht nur auf einem wissenschaftlichen Holzweg, sondern wird andere - mehr oder weniger zartfühlig - belehren. Kommunikation ist dann ein Gefälle: Die Hierarchie zwischen den InhaberInnen der gefundenen Wahrheit und den Unwissenden. Das Ergebnis kommt dem Verhältnis zwischen Erleuchteten und Ungläubigen nahe. Wo dann sogar Herrschaftsstrukturen auf das objektiv Richtige oder "Notwendige" gestützt werden, wächst die Gefahr des Totalitären rasant heran.
Wer sich im Besitz der objektiven Wahrheit wähnt, wird mit anderen nicht diskutieren und um Erkenntnis ringen, sondern diese belehren. Dem steht die Idee der Dialektik gegenüber. Sie ist mit dem Glauben an eine objektive Wahrheit nur dann in Einklang zu bringen, wenn mensch (wie Marx, Engels und Lenin) davon ausgeht, dass es eine Methode ist, um vom Nichtwissen zum Wissen zu kommen - mitunter über Zwischenschritte. Der Irrtum hinter dieser Annahme gleicht dem Irrtum vieler PhysikerInnen vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte, die auf der Suche nach dem Basisbauteil des Materiellen waren, bis sie erkannten: Es gibt ihn wohl nicht. Alles ist immer weiter hinterfragbar und gerät am Ende in die Nähe des völlig Unbestimmten. Ohne den Glauben an eine am Ende stehende endgültige Erkenntnis macht Dialektik erst ihren eigentlichen Sinn als Antrieb ständiger weiterer Durchdringung der offenen Fragen und scheinbaren Klarheiten des Seins.
Natur- und Menschenbild
Es gibt Schriften des Anarchismus, in dem Überlegungen zu Mensch und Natur angestellt werden. Das geschieht allerdings in der Regel nur am Rande. Ergiebiger sind Darstellungen, die sich nicht explizit zum Anarchismus zählen, aber um die Begriffe Freiheit oder Emanzipation herum wertvolle Impulse für die Debatte liefern.Regelmäßig wird von AnarchistInnen die Vorstellung abgelehnt, der Mensch sei durch seine natürliche Ausstattung, also z.B. über die genetischen Informationen, als soziales Wesen überwiegend vorgeprägt. Selbst wenn das nicht im Besonderen erwähnt wird, kann aus der Idee der Anarchie, dass soziale Bedingungen vom Menschen selbst geformt werden sollen und ein kontrollierender Überbau nicht nur überflüssig, sondern schädlich ist, geschlossen werden, dass der Mensch als Akteur und Produkt seiner Sozialisation gedacht wird. Wäre er bloßes Abbild der Natur, wäre das Thema der Anarchie mehr oder weniger gegenstandlos.
In der Annahme, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, sind sich MarxistInnen und AnarchistInnen einig. Allerdings folgern sie unterschiedliche Dinge daraus. Während die Anarchie der Selbstentwicklung des Menschen die Räume öffnen und konsequent eine Fremdsteuerung verhindern will, sehen die Hauptströmungen des Marxismus die Beeinflussung des Menschen zunächst als Ursache für deren Integration in bürgerliche, soziale Verhältnisse. Gleichzeitig wittern sie das als Chance ihrer Revolutionsidee, nämlich zumindest für den Übergang die staatliche Zentralgewalt zu übernehmen und zur Veränderung der Menschen hin auf eine freier Gesellschaft zu nutzen - böse formuliert also: die Menschen umzuerziehen. Über die Konsequenzen solcher Überlegungen herrscht zwischen AnarchistInnen und MarxistInnen ein tiefer Graben, der oft nur nicht sichtbar ist, weil eine Theoriedebatte zwischen ihnen fehlt oder - vor allem die AnarchistInnen - diese auch einfach gar nicht führen.
Im Original: Freiheit oder Bestimmung?
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 144 ff., mehr Auszüge)
Für die anarchistischen Theoretiker sollte das Individuum die Freiheit haben, sich als ethisches Wesen - und nicht als engstirniger Egoist - zu betätigen, um eine rationale, hoffentlich uneigennützige Wahl zwischen rationalen und irrationalen Alternativen in der Geschichte zu treffen. Die marxistische Ente, daß der Anarchismus das Produkt eines liberalen oder bourgeoisen "Individualismus" sei, hat ihre Wurzeln in Ideologien, die in ihrem tiefsten Kern selbst bourgeois sind, wle jene, die sich auf den Mythos einer "unsichtbaren Hand" (Liberalismus), den Geist (Hegelianismus) und einen ökonomischen Determinismus (Marxismus) gründen. Die Betonung der individuellen Freiheit durch die Anarchisten und libertären Utopisten bedeutete die Emanzipation von einer ahistorischen Präordination der Geschichte selbst und unterstreicht die Bedeutung ethischer Einflüsse auf die Wahl. Das Individuum ist wahrhaft frei und erhält wahre Individualität, wenn es von einer rationalen, humanen und hochstehenden Vorstellung vom Wohle der Gesellschaft oder Gemeinschaft geleitet wird.
Unterschiede ergeben sich auch in der Frage, was das Ziel von Befreiung und gesellschaftlicher Umgestaltung ist - wobei auch hier wieder die internen Unterschiede teilweise groß sind, während sich keine eindeutige Trennlinie zwischen Anarchie und Marxismus festlegen lässt. Doch die Tendenz ist unübersehbar, dass in marxistischen Ideologien immer wieder als Allgemeininteressen oder ähnlich bezeichnete Zielvorgaben für die Gesellschaft konkurrierend neben die Selbstentfaltung des Menschen treten. Die Übereinstimmung wird zwar argumentativ so geglättet, dass die formulierten Allgemeininteressen ja den Einzelnen dienen, aber solche Annahmen unterliegen immer einer erheblichen Gefahr, dass sich allgemeine Ziele verständigen und am Ende gegen Menschen und ihre Bedürfnisse wenden. Hier vertreten AnarchistInnen - wenn sie denn Theorien entwickeln - in der Regel deutlich konsequentere Positionen gegen jede Bevormundung des Menschen durch abstrakte Entwürfe dessen, was gut und richtig sein soll.
Im Original: Mensch im Dienste des Fortschritts?
Aus Cantzen, Rolf (1995): "Weniger Staat - mehr Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau
Der Herrschaftsanspruch des Menschen über das Natürliche kommt im abendländischen Denken darin zum Ausdruck, daß in der Natur lediglich ein Potential gesehen wird, dessen man sich beliebig bedienen kann. Diese Auffassung findet sich sehr anschaulich in der Vision einer "Humanisierung der Natur", wie sie Trotzki (1879-1940) vorstellt: Der "sozialistische Mensch" werde die "gegenwärtige Verteilung von Berg und Tal, von Feldern und Wiesen, Steppen, Wäldern und Meeresküsten" ändern und die Erde nach "den Erfordernissen des gesamten Produktions- und Kunstplanes" umgestalten (1972, 208). Schließlich werde auch der Mensch selbst "zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psycho-sozialen Trainings werden" und sich derart "radikal umarbeiten", bis schließlich auch ein menschliches Durchschnittsexemplar "das Niveau eines Aristoteles, Goethe oder Marx" erreicht, (1972, 213)
Aus diesen Träumen Trotzkis spricht die ungebrochene Hoffnung auf einen geradezu unbegrenzten Fortschritt und verbindet sich mit einer Herrschermentalität, mit der die natürliche Umwelt und auch die Menschen selbst auf eine bloße Ressource reduziert werden, auf die die (staatlichen) Kräfte des Fortschritts zurückgreifen können. In Trotzkis Zukunftsversion gewährleistet der Gesamtplan, daß alles machbar ist - durch Eugenetik und Psychotraining selbst der vollkommene Mensch. Wie auch in den klassischen Staatsutopien ist Trotzkis Utopie Ausdruck eines zutiefst herrschaftlichen und hierarchischen Denkens; die Ordnung des "gesamten Produktionsplanes" zielt auf Ein- und Unterordnung (des Materials) in ein Gesamtkonzept.
Was bei Trotzki noch Zukunftsträumereien waren, wird heute in den Industriegesellschaften Wirklichkeit. Eine "Betrachtungsweise" und Mentalität, vor allem aber politische und ökonomische Organisationsstrukturen haben sich durchgesetzt, die nach dem Prinzip ausgerichtet sind: Machbarkeit durch Unterordnung der zum Material reduzierten Umwelt und Menschen unter ein herrschaftliches Ordnungssystem. ... (S. 38 f.)
Als unzeitgemäß erschien das nicht-hierarchische anarchistische Denken, das die Menschen nicht auf Träger von Funktionen reduzierte, nicht zur "Hand" im Produktionsprozeß verkümmern lassen wollte, das ihn nicht zum Vollstrecker einer göttlichen oder "geschichtlichen" Vorsehung vereinnahmte und nicht als Rechnungsgröße den strategischen Planungsspielen der Militärs überlassen wollte. Die aus diesem Denken hervorgehende Naturauffassung schien ebenfalls unzeitgemäß. ... (S. 41)
Die Rolle des Staates
Am deutlichsten wirken sich die unterschiedlichen Auffassungen bei der Beschreibung von Sinn und Unsinn des Staates aus. Beide, ob anarchistisch oder marxistisch geprägt, stilisieren den existierenden, bürgerlichen Staat als Schreckgespenst gegen menschliche Emanzipation. Dafür wissen sie gute Gründe zu nennen, die sich in den Schwerpunkten unterscheiden, weil z.B. AnarchistInnen mehr auf individuelle Freiheitsrechte achten und daher Polizei, Gefängnisse oder Militär besonders heftig ablehnen, während MarxistInnen oft einen Betrachtungsschwerpunkt auf Produktionsprozesse haben und daher das bestehende Arbeitsregime und die Verteilung der Produktionsmittel in den Mittelpunkt der Kritik rücken. Das bedeutet aber keine Gegensätzlichkeiten, sondern nur abweichende Schwerpunkte, die sogar gut verbindbar bleiben, solange nicht die einen zur Lösung ihrer Schwerpunktthemen Vorschläge unterbreiten, die in anderen Feldern Herrschaftsförmigkeiten verschärfen oder legitimieren.Genau aber da schlummert der zentrale Konflikt: Kann der Staat Teil einer Lösungsstrategie sein, zumindest als Übergang? AnarchistInnen mit Theorieinteresse (leider eher selten) lehnen das vehement ab, während viele MarxistInnen in der Übernahme der Staatsgewalt eine Chance sehen - oder wahlweise diese revolutionäre Eroberung der Staatsgewalt sogar für taktisch notwendig einschätzen, um die massive Macht der InhaberInnen von Produktionsmitteln in die Knie zwingen zu können. Das penetrante Scheitern solcher Strategien in der bisherigen Geschichte sozialer Revolutionen führt bisher kaum zu Zweifeln, so dass der Traum weiterblüht, es könne beim nächsten Mal klappen - eine nicht nur geschichtslose, sondern auch von erheblichen Blindflecken in der Herrschaftsanalyse geprägte Einschätzung. Sie erfolgt allerdings nicht überraschend angeschichts der spürbaren Tendenz im Marxismus, wider dem Leitsatz, dass alle (!) Verhältnisse umzuwerfen sich, die den Menschen knechten, dennoch wieder Ziele zu formulieren, die über die Individualität der Einzelnen gestellt werden. So ist auch nur folgerichtig, dass Recht und Rechtsstaatlichkeit oft ein hohes Ansehen genießen.
Überraschender ist, wie häufig der Glaube an das Gute im Recht bei AnarchistInnen auftritt. Immer wieder werden Missstände als "illegal" bezeichnet - als wäre das eine Aussage zu mangelnder Qualität. Geschuldet ist das einmal der häufigen Theorielosigkeit, zum anderen der doch bemerkenswerten Akzeptanz demokratischer Spielregeln, die dann schnell - und analytisch unscharf - mit Rechtsstaatlichkeit gleichgesetzt werden. Recht und Volk sind aber künstliche Schöpfungen, deren Bedeutung über dem einzelnen Menschen angesiedelt wird und die daher niemals anarchistischen Ideen entsprechen können. Zumal sie regelmäßig in ihrer konkreten Verfasstheit durch privilegierte Kreise definiert werden.
Im Original: Mit oder gegen den Staat
Aus Wicht, Cornelia (1980): "Der Ökologische Anarchismus Murray Bookchins", Verlag Freie Gesellschaft in Frankfurt (S. 30)
Die Marxisten konnten hoffen, die Notwendigkeit mittels eines Staates zu verwalten, und die Anarchisten, in freien Gemeinschaften damit fertigzuwerden.
Die Anarchisten konnten den Marxisten entgegenhalten, daß jede Übergansstaat, so revolutionär auch seine Rhetorik und so demokratisch auch seine Struktur sei, sich selbst in alle Ewigkeiten verlängern würde; er würde tendenziell ein Selbstzweck weden und eben die materiellen und sozialen Bedingungen, die abzuschaffen er ins Leben gerufen worden war, bewahren. Umgekehrt konnten die Marxisten die Geschichte als Zeugin dafür anführen, daß die Gewohnheit und genossenschaftliche Instinkte niemals wirksame Sperren für das Druckmittel materieller Not waren, gegen die Attacken des Eigentums oder der Entwicklung von Ausbeutung und Klassenherrschaft.
Aus den "Zwölf Thesen über Anti-Macht" von John Holloway
Während des vergangenen Jahrhunderts konzentrierte sich ein Großteil der Anstrengungen, eine würdige Welt zu schaffen, auf den Staat und die Vorstellung, die staatliche Macht zu erobern. Die wichtigen Auseinandersetzungen (zwischen Reformisten und Revolutionären) kreisten um die Frage, wie staatliche Macht erobert werden könnte, sei es auf dem parlamentarischen oder außer-parlamentarischen Weg. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts macht jedoch deutlich, dass die Frage der Machteroberung gar nicht so wichtig war und ist. In keinem Fall folgte aus der Eroberung staatlicher Macht das, was sich jene, die dafür kämpften, erhofft hatten. Weder die reformistischen, noch die revolutionären Regierungen schafften es, die Welt radikal zu verändern.
Es ist einfach, die Führungen dieser Bewegungen des Verrats an der Bewegungen zu bezichtigen. Die Tatsache, dass es derart viele Verrat gab, verweist jedoch auf tiefer gehende Ursachen für das Scheitern der radikalen, sozialistischen oder kommunistischen Regierungen. Der Grund, warum man den Staat nicht dafür nutzen kann, um eine radikale Veränderung der Gesellschaft zu erreichen, liegt darin, dass es sich beim Staat um eine soziale Form handelt, die in die Totalität der kapitalistischen sozialen Verhältnisse eingebettet ist. Die Existenz des Staates als eine von der Gesellschaft separate Instanz bedeutet, dass er unabhängig von den konkreten Inhalten seiner Politik aktiv dazu beiträgt, die Menschen von der Kontrolle über ihr eigenes Leben zu trennen. Der Kapitalismus ist vor allem das: Die Trennung der Menschen von ihrem eigenen Tun. Eine am Staat orientierte Politik reproduziert unausweichlich diesen Spaltungsprozess, wo Führer von den Geführten, wo ernste politische Aktivität von persönlichen Angelegenheiten getrennt werden. Eine am Staat orientierte Politik, weit davon entfernt eine radikale Veränderung der Gesellschaft zu erreichen, führt zu einer zunehmenden Unterordnung der Opposition unter die Logik des Kapitalismus.
Die Vorstellung, die Welt könnte über den Staat verändert werden, ist eine Illusion. Wir haben das Glück, das Ende dieser Illusion zu erleben.
Arbeit und Arbeitsethos
Mit der Schwerpunktbildung, oft sogar Reduzierung der Gesellschaftkritik auf die Aspekte wirtschaftlicher Macht und Unterdrückung der ArbeiterInnenbewegung zeigen MarxistInnen eine Nähe zu anarchosyndikalistischen Kreisen. Auch dort werden die Arbeitsverhältnisse als zentrale Machtstruktur in der Gesellschaft betrachtet und die ArbeiterInnen folglich zum revolutionären Subjekt auserkoren. Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will ... so werden Einheitlichkeit und gesellschaftliche Macht konstruiert.Für andere AnarchistInnen ist eine solch einseitige Zuweisung des revolutionären Potentials nicht tragbar, weil es - zumindest für die Rolle in gesellschaftlichen Umwerfungen - selbst eine 2-Klassen-Gesellschaft schafft. Zudem ist problematisch, dass damit vielfach solche Menschen, die ohnehin schon doppelt und dreifach Unterdrückungsverhältnissen unterworfen werden, wie viele Frauen, Kinder, RentnerInnen, Arbeitslose usw., nochmals in zweite Glied gerückt werden.
Trotzki, zitiert nach Charles Reeve (2019), "Der wilde Sozialismus" (S. 133)
Wenn die Organisation der neuen Gesellschaft im wesentlichen auf eine neue Organisierung der Arbeit hinausläuft, so bedeutet die Organisierung der Arbeit ihrerseits eine richtige Durchführung der Arbeitspflicht. [...] Die Maßnahmen, Methoden und Organe zur [...] Mobilmachung von Arbeitskraft sind zu präzisieren, zu verbessern, zu vervollkommnen. Gleichzeitig aber muß man sich ein für allemal klarmachen, daß das Prinzip der Arbeitspflicht ebenso klar und unwiederbringlich das Prinzip der freien Anstellung ersetzt hat, wie die Sozialisierung der Produktionsmittel an die Stelle des kapitalistischen Eigentums getreten ist. [...] Die Durchführung der Arbeitspflicht ist un¬denkbar ohne Anwendung der Methoden der Militarisierung der Arbeit. [...] Denn davon, daß von der bürgerlichen Anarchie zur sozialistischen Wirtschaft ohne revolutionäre Diktatur und ohne zwangsmäßige Formen der Wirtschaftsorganisation übergegangen werden kann, kann keine Rede sein.
- Zitate zu Arbeit und Arbeitsethos
Wahrheit und Objektivität
Ursprünglich eher philosophischer Natur sind unterschiedliche Annahmen über die Dinge an sich. Sie haben aber deutliche Auswirkungen auf die Streit- und Kommunikationskultur. Gibt es eine objektive Wahrheit? Kann sie gefunden und wertfrei, also das Ding an sich betreffend, beschrieben werden?Viele AnarchistInnen, soweit sie überhaupt theoretisch orientiert sind, hängen dekonstruktivistischen Modellen an: Es gibt keine Chance, irgendetwas "objektiv" wahrzunehmen. Der Mensch wertet immer, baut jede Wahrnehmung in seine Erfahrungs- und Begriffswelt ein. Selbst technische Untersuchungsgeräte sind davon nicht frei, weil erstens das Ergebnis immer von Menschen gesichtet und sofort im Moment der Wahrnehmung auch interpretiert wird. Und zweitens schon der Bau des Testgerätes in Form gießt, was Menschen gedacht haben. So neigt jede Beobachtung, also auch die wissenschaftliche Untersuchung dazu, das zu reproduzieren, was an Vorannahmen existiert. Nur die Zusammenschau der verschiedenen gerichteten Wahrnehmungen kann den BetrachterInnen erweiterte Erkenntnis schaffen (siehe auch den Text zu Wahrheit und Wahrnehmung in der Sammlung "Freie Menschen in freien Vereinbarungen").
Das klingt durchaus dialektisch und könnte somit kompatibel sein mit der marxistischen Idee von Erkenntnis. Doch der Unterschied bleibt in der Erwartung des Ergebnisses: Dialektik führt, so die Theorie, bei richtiger Anwendung zum Erkennen der Wahrheit. Skeptisches, dekonstrierendes Hinterfragen und Forschen, neues Wissen, immer neue Erkenntnisse ohne abschließende Erkenntnis - So sähe kritisches Erforschen aus. Denn alles ist immer gefärbt von der Gerichtetheit eigener Wahrnehmung und Beschränktheit der augenblicklichen Wahrnehmungsmittel. Technische Verbesserungen der Zukunft und neue Überlegungen können jederzeit alles Bisherige in Frage stellen.
In der Konsequenz ergeben sich grundsätzliche Anforderungen an eine Debatte. Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, ist nicht nur auf einem wissenschaftlichen Holzweg, sondern wird andere - mehr oder weniger zartfühlig - belehren. Kommunikation ist dann ein Gefälle: Die Hierarchie zwischen den InhaberInnen der gefundenen Wahrheit und den Unwissenden. Das Ergebnis kommt dem Verhältnis zwischen Erleuchteten und Ungläubigen nahe. Wo dann sogar Herrschaftsstrukturen auf das objektiv Richtige oder "Notwendige" gestützt werden, wächst die Gefahr des Totalitären rasant heran.
Im Original: Die objektive Wahrheit als Totschlagargument
Aus der Zeitung "Gegen die Strömung" (Juli/August 2006)
Welche praktische Bedeutung der Kampf um die Anerkennung der objektiv bewiesenen wissenschaftlichen Wahrheit heute für demokratische und revolutionäre Kräfte hat, wird deutlich, wenn wir die ganzen ach so kritischen Phrasen heutiger Propagandisten der These "Es gibt keine objekte Wahrheit" mit der sogenannten Auschwitz-Lüge konfrontieren. ...
In der Tat handelt es sich um eine Grundfrage in allen Themen: Wissen oder Glauben. ...
Ein Beispiel: Die Erforschung der heutigen Gesellschaftsordnung hat klar und deutlich seit Marx und Engels erwiesen und bewiesen, dass der eigentliche Motor gesellschaftlicher Entwicklung das Profitprinzip, die Mehrwertmaximierung, die verschärfte Ausbeutung durch die herrschende Klasse der Kapitalbesitzer ist.
Lenin in "Materialismus und Empiriokritizismus", zitiert in der Zeitung "Gegen die Strömung" (Juli/August 2006)
1. Die Dinge existieren unabhängig von unserem Bewusstsein, unabhängig von unserer Empfindung, außer uns; ...
2. Zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich gibt es absolut keinen prinzipiellen Unterschied, und es kann einen solchen nicht geben. Einen Unterschied gibt es nur zwischen Erkanntem und noch nicht Erkanntem; ...
3. In der Erkenntnistheorie muss man, ebenso wie auf allen anderen Gebieten der Wissenschaft, dialektisch denken, d.h. unsere Erkenntnis nicht für etwas Fertiges und Unveränderliches halten, sondern untersuchen, auf welche Weise das Wissen aus Nichtwissen entsteht, wie unvollkommenes, nicht exaktes Wissen vollkommener und exakter wird. ...
Für den Materialisten ist die Welt im Gegenteil reicher, lebendiger, mannigfaltiger als sie scheint, denn jeder Schritt der wissenschaftlichen Entwicklung entdeckt in ihr neue Seiten. Für den Materialisten sind unsere Empfindungen Abbilder der einzigen und letzten objektiven Realität - der letzten nicht in dem Sinne, dass sie schon restlos erkannt ist, sondern in dem Sinne, dass es eine andere außer ihr nicht gibt und nicht geben kann. ...
Das menschliche Denken ist also seiner Natur nach fähig, uns die absolute Wahrheit, die sich aus der Summe der relativen Wahrheiten zusammensetzt, zu vermitteln, und es tut dies auch.
Wer sich im Besitz der objektiven Wahrheit wähnt, wird mit anderen nicht diskutieren und um Erkenntnis ringen, sondern diese belehren. Dem steht die Idee der Dialektik gegenüber. Sie ist mit dem Glauben an eine objektive Wahrheit nur dann in Einklang zu bringen, wenn mensch (wie Marx, Engels und Lenin) davon ausgeht, dass es eine Methode ist, um vom Nichtwissen zum Wissen zu kommen - mitunter über Zwischenschritte. Der Irrtum hinter dieser Annahme gleicht dem Irrtum vieler PhysikerInnen vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte, die auf der Suche nach dem Basisbauteil des Materiellen waren, bis sie erkannten: Es gibt ihn wohl nicht. Alles ist immer weiter hinterfragbar und gerät am Ende in die Nähe des völlig Unbestimmten. Ohne den Glauben an eine am Ende stehende endgültige Erkenntnis macht Dialektik erst ihren eigentlichen Sinn als Antrieb ständiger weiterer Durchdringung der offenen Fragen und scheinbaren Klarheiten des Seins.