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ANARCHIE VS. MARXISMUS: LIBERTÄRER KOMMUNISMUS ODER GEGENSEITIGE HETZE?

Sozialistische und kommunistische Kritik und Hetze an der Anarchie


1. Einleitung
2. Vergleiche
3. Unterschiede im Detail
4. Anarchokritik und -hetze gegen (autoritären) Kommunismus/Sozialismus
5. Sozialistische und kommunistische Kritik und Hetze an der Anarchie
6. Zusammengedacht: Marxismus und Anarchismus

Trotzki als Chef der Roten Armee (1920) über AnarchistInnen:
Geht wohin ihr gehört: Auf den Müllhaufen der Geschichte!

Rosa Luxemburg, zitiert im Text "Regierungsform Anarchie", in Junge Welt, 28.7.2012 (S. 3)
Ein übermächtiger Herrscher regiert freilich auch heute die arbeitende Menschheit: das Kapital. Aber seine Regierungsform ist nicht Despotie, sondern Anarchie.

Aus J.W. Stalin, "Anarchismus oder Sozialismus?", in: Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin 1950 (S. 257-323)
Wir sind der Auffassung, daß die Anarchisten richtige Feinde des Marxismus sind. Wir erkennen also auch an, daß man gegen richtige Feinde einen richtigen Kampf führen muß.

Was die AnarchistInnen können, ist den SozialistInnen und KommunistInnen nicht fremd. Und so dreschen sie auf die Anarchie drein - zumindest wo sie als konkurrierend empfunden wird. Das ist vielerorts nur deshalb nicht der Fall, weil anarchistische Strömungen so schwach sind, dass sie kaum einer Beachtung bedürfen. Unter dem Anarchie-Label toben sich viele junge Menschen aus, die später - mangels entwickelter Theorie und Praxis - der Radikalität ohnehin wieder den Rücken kehren. Freiheitliche Impulse können marxistischen Ideen nur dort gefährlich werden, wo unter dem Banner des Marxismus Herrschaft organisiert wird und sich ein organisierter Anarchismus dem entgegenstellt. In den bisherigen Versuchen des sogenannten Real-Sozialismus (was auch immer das ist bzw. war) oder in politischer Organisierung, in denen sich autoritär-marxistische Eliten der Kritik an zentralistischer Steuerung erwehren müssen, saßen und sitzen AnarchistInnen regemäßig hinter Gittern.

Im Original: Anarchie als Feindbild des Marxismus
Anarchie und Anarchismus im DDR-Staatsdenken
Aus "Anarchismus" in: Klaus, Georg/Buhr, Manfred (1975), "Philosophisches Wörterbuch", VEB Bibliographisches Institut Leipzig (S. 72 f.)
Utopisch-kleinbürgerliche, pseudorevolutionäre Ideologie und Bewegung, die im Gegensatz zum wissenschaftlichen Sozialismus den organisierten politischen Klassenkampf wie überhaupt jede politische Organisation, Disziplin und Autorität ablehnt und die Realisierung der "absoluten Freiheit", der Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Gesellschaft von der Abschaffung aller staatlichen Machtorgane und Zwangsmittel erwartet. ...
Wie Lenin in seinen Thesen über Anarchismus und Sozialismus ausführt, hat der Anarchismus in der Zeit seines Bestehens nichts gegeben außer allgemeinen Phrasen gegen die Ausbeutung. Dabei begriff er weder die Ursachen der kapitalistischen Ausbeutung noch die gesellschaftliche Entwicklung, die gesetzmäßig vom Kapitalismus zum Sozialismus führt, noch die Rolle des organisierten proletarischen Klassenkampfes als der schöpferischen Kraft zur Verwirklichung de Sozialismus. "Der Anarchismus ist ein Produkt der Verzweifelung. Die Mentalität des aus dem Geleise geworfenenen Intellektuellen oder des Lumpenproletarierers, aber nicht des Proletariers." (5, 334 ff).


Aus Seibert, Thomas: "Neue Gemeinplätze", in: G8 - Deutung der Welt (2007), ak und arranca (S. 70)
Es gibt kein Zurück hinter den Pluralismus der Bewegungen und Subjektivitäten, kein Zurück zur Unterordnung der Bewegungen unter Staat und Partei. Letztere sind besondere Medien der sozialen und politischen Kämpfe, doch nur ein Medium unter anderen und definitiv nicht das wichtigste. Hinfällig wird damit die prinzipielle Ablehnung beider: Eine jede Ablehnung wird konkret, d.h. im Einzelfall zu begründen, oder sie wird Anarchismus, d.h. eine ideologische Position im negativen Sinn des Worts, sein.

Aus "Krieg gegen Kommunismus", in: Junge Welt am 10.7.2021 (S. 8)
Die Erfolge der Kommunisten beispielsweise in China beweisen, dass gesellschaftliche Planung dem Chaos kapitalistischer Anarchie überlegen ist.

Aus Lotter, K./Meiners, R./Treptow, E. (2006): "Das Marx-Engels-Lexikon", Papyrossa Verlag Köln zum Stichwort "Anarchismus" (S. 18 ff.)
Zusammenfassung der Autoren:
Der Anarchismus (mit Bakunin als seinem Hauptvertreter) ist seinem Wesen nach gegen Herrschaft und staatliche Autorität gerichtet. Er sieht im Staat fälschlich den Ursprung der kapitalistischen Produktionsweise und begreift nicht die politische Organisation der herrschenden Klasse als den Ausdruck der kapitalistischen Produktionsweise (1). Seine abstrakte Ablehnung des Staats führt ihn zu politischem Indif ferentismus bzw. zur vollständigen Abstinenz von der Politik (2). Statt sich den Staat als Diktatur des Proletariats zur Absicherung der eroberten Macht zunächst anzueignen, erklären die Anarchisten die Abschaffung des Staats zum ersten Ziel der proletarischen Revolution (3). Ohne Bewußtsein der historischen, ökonomischen Bedingungen begreift er die Revolution als Verschwörung und erhebt damit den bloßen Willen zu ihrer Grundlage (4). Mit der Ablehnung von Autorität verbindet der Anarchismus die Forderung absoluter Autonomie. Er verkennt, daß sich die Gültigkeit beider Prinzipien mit der sozialen Entwicklung verändert, daß nicht nur die Revolution das autoritärste Ding ist, das es gibt (5), sondern auch in einer freien Gesellschaft der Ablauf von Produktion und Distribution Autorität erfordert (6).
(1) Bakunin hat eine aparte Theorie, ein Sammelsurium von Proudhonismus und Kommunismus, wobei fürs erste die Hauptsache ist, daß er nicht das Kapital, d.h. den durch die gesellschaftliche Entwicklung entstandenen Klassengegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern für das zu beseitigende Hauptübel ansieht, sondern den Staat. Während [ ... ] die Staatsmacht weiter nichts ist als die Organisation, welche sich die herrschenden Klassen - Grundbesitzer und Kapitalisten - gegeben haben, um ihre gesellschaftlichen Vorrechte zu schützen, behauptet Bakunin, der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. Da also der Staat das Hauptübel sei, so müsse man vor allem den Staat abschaffen, dann gehe das Kapital von selbst zum Teufel; während wir umgekehrt sagen: schafft das Kapital, die Aneignung der gesamten Produktionsmittel in den Händen weniger, ab, so fällt der Staat von selbst. (Engels an Th. Cuno, 24. 1. 1872, MEW 33, 388; vgl. MEW 7, 417 ff.)
(2) Im Gegensatz zu dem wesentlich politischen Kampf, wodurch die englische, nach ihr die französische und zuletzt die deutsche Arbeiterbewegung groß und mächtig geworden war, wurde hier [d.h. in der anarchistischen Bewegung Italiens] jede politische Tätigkeit verdammt, weil sie die Anerkennung des "Staats" in sich schließe, und "der Staat" der Inbegriff alles Bösen sei. Also: Verbot der Bildung einer Arbeiterpartei; Verbot der Erkämpfung jeder Schutzmaßregel gegen die Ausbeutung, z.B. des Normalarbeitstags, der Beschränkung der Weiber- und Kinderarbeit; Verbote, vor allem der Beteiligung an allen Wahlen. (Aus Italien, 1877, MEW 19, 91 f; vgl. MEW 18, 304; MEW 33,388)
(3) Die Anarchisten stellen die Sache auf den Kopf. Sie erklären, die proletarische Revolution müsse damit anfangen, daß sie die politische Organisation des Staates abschafft. Aber die einzige Organisation, die das Proletariat nach seinem Siege fertig vorfindet, ist eben der Staat. Dieser Staat mag sehr bedeutender Änderungen bedürfen, ehe er seine neuen Funktionen erfüllen kann. Aber ihn in einem solchen Augenblick zerstören, das hieße, den einzigen Organismus zerstören, vermittelst dessen das siegende Proletariat seine eben eroberte Macht geltend machen, seine kapitalistischen Gegner niederhalten und diejenige ökonomische Revolution der Gesellschaft durchsetzen kann, ohne die der ganze Sieg enden müßte in einer neuen Niederlage und in einer Massenabschlachtung der Arbeiter, ähnlich derjenigen nach der Pariser Kommune. (Zum Tode von Karl Marx, 1883, MEW 19, 3 44 L; vgl. ebd., 6 f.; MEW 18,343 f.; MEW 36, 11 f.)
(4) Eine radikale soziale Revolution ist an gewisse historische Bedingungen der ökonomischen Entwicklung geknüpft; letztere sind ihre Voraussetzung. Sie ist also nur möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt. [ ... ] [Bakunin] versteht absolut nichts von sozialer Revolution, nur die politischen Phrasen davon; die ökonomischen Bedingungen derselben existieren nicht für ihn. Da nun alle bisherigen ökonomischen Formen, entwickelt oder unentwickelt, Knechtschaft des Arbeiters (sei es in der Form des Lohnarbeiters, Bauern etc.) einschließen, so glaubt er, daß in allen gleichmäßig radikale Revolution möglich. [ ... ] Der Wille, nicht die ökonomischen Bedingungen, ist die Grundlage seiner sozialen Revolution. (Konspekt von Bakunins Buch "Staatlichkeit und Anarchie", 1874/75, MEW 18,633 f; vgl. ebd., 346)
(5) Es ist [ ... ] absurd, vom Prinzip der Autorität als von einem absolut schlechten und vom Prinzip der Autonomie als einem absolut guten Prinzip zu reden. Autorität und Autonomie sind relative Dinge, deren Anwendungsbereiche in den verschiedenen Phasen der sozialen Entwicklung variieren. [ ... } Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen. (Von der Autorität, 1872/73, MEW 18, 307 f)
(6) [In der zukünftigen Gesellschaft existiert nach der Ansicht der Anarchisten] vor allem keine Autorität, denn Autorität = Staat = absolut vom Übel. (Wie die Leute eine Fabrik treiben, eine Eisenbahn befahren, ein Schiff leiten wollen, ohne einen in letzter Instanz entscheidenden Willen, ohne einheitliche Leitung, das sagen sie uns freilich nicht.) Auch die Autorität der Majorität über die Minorität hört auf. jeder einzelne, jede Gemeinde ist autonom, wie aber eine Gesellschaft von nur zwei Menschen möglich ist, ohne daß jeder von seiner Autonomie etwas aufgibt, das verschweigt Bakunin abermals. (Engels an Th. Cuno, 24. 1. 1872, MEW 33, 389; vgl. MEW 18, 306 ff.)


  • MEW 3, 101 ff.: Kritik an Stirners "Der Einzige und sein Eigentum" (vgl. MEW 37, 292 f.).
  • MEW 4, 63-182: Kritik an Proudhons "Philosophie des Elends" (vgl. ebd., 547 ff.).
  • MEW 16,25 ff.: Die philosophische Entwicklung Proudhons.
  • MEW 18, 209 ff.: Kritik an Proudhons Behandlung der Wohnungsfrage.
  • MEW 18,327-471: Bericht über Bakunins Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation" (vgl. MEW 16, 409 ff.).
  • MEW 18,407: Revolution als Allzerstörung; Räuber als Vorbild des anarchistischen Revolutionärs.
  • MEW 18, 408: Revolutionäre Taktik der Anarchisten (vgl. ebd., 476 ff.).
  • MEW 18, 491 ff.: Widersprüche zwischen den politischen Aktionen der Anarchisten und ihrer Theorie.
  • MEW 18, 597-642: "Konspekt von Bakunins Buch Staatlichkeit und Anarchie".
  • MEW 27, 42 f.: Kritik an Proudhons Tauschbank (vgl. ebd., 50 L; MEW 13, 68 L), seiner Abschaffung des Geldes (vgl. Grundrisse, 42, 53, 64; MEW 29, 573) und des Zinses (vgl. MEW 27, 308 ff., 312 ff.).
  • MEW 27,297 ff.: Kritik an Proudhons "Idee g~n~ral de la Rd~volution au XIX si&cle " (vgl. ebd., 317 f.).
  • MEW 28, 561 f.: Durch zinslosen Kredit will Proudhon alle Menschen in Kleinbürger verwandeln.
  • MEW 32, 674 f: Kritik am politischen Programm Bakunins: der Abschaffung des Erbrechts als erster Forderung der sozialen Revolution (vgl. MEW 16, 367 fL; MEW 18,349), der Gleichmachung der Klassen (vgl. MEW 18,14) und der politischen Abstinenz.
  • MEW 35, 407: Trotz ihrer ultrarevolutionären Phraseologie sind die Anarchisten eine Stütze der bestehenden Gesellschaft

Aus Wolfgang Harich (1998), "Zur Kritik der revolutionären Ungeduld", Verlag 8. Mai in Berlin
Immerhin aber läßt auch das Drängen nach sofortiger Liquidation des Staates überhaupt, mitsamt der daraus resultierenden Ablehnung der proletarischen Diktatur, klar erkennen, was für den Anarchismus generell charakteristisch ist, wovon sein Verhalten, seine Taktik, seine programmatischen Forderungen in ganz anderen Zusammenhängen ebenfalls bestimmt werden; nicht zuletzt wirft es ein bezeichnendes Licht auf die ihm eigentümliche extrem labile Struktur seiner Organisationen. Genau wie in dem Modellfall seiner unbedingten, sich über Zeit und Umstände hinwegsetzenden Staatsverneinung hat der Anarchismus, so kann gesagt werden, in jedem Fall eine tiefwurzelnde Aversion dagegen, sich seinen Zielen auf Wegen und Umwegen zu nähern, die nicht selbst bereits die Erfüllung dessen bieten, was das Ziel verheißt. Immer setzt er voraus, daß die in der individuellen Freiheit gipfelnde Rangfolge der Werte, für die er mit Recht Partei ergreift, unmittelbar maßgebend zu sein habe für die Reihenfolge der Schritte, die zu ihrer Verwirklichung unternommen werden müssen, weshalb er stets den zweiten, dritten, letzten Schritt vor dem fälligen ersten tun möchte. Ungern rechnet er mit Faktoren, die seinen Bestrebungen widerstreiten. Unerträglich ist es ihm, von Mitteln Gebrauch zu machen, die dem zu erreichenden Zweck nur indirekt dienlich sind. Niemals bringt er es fertig, das Heranreifen objektiver Bedingungen abzuwarten, von denen eine Begünstigung seines Wollens erst später und nicht schon im nächsten Augenblick zu erwarten ist. Kurz, man erwiese ihm zuviel Ehre mit dem Vorwurf, er säge den Ast ab, auf dem er sitzt. Die Wahrheit ist: Er sägt stets an Ästen, auf denen noch gar nicht gesessen werden kann, und glaubt dabei, die höchsten Wipfel zu erklimmen.
Fragt sich, woran das liegt. Natürlich ist bei der geschilderten Haltung der Anarchisten eine gestörte Beziehung des Ver-standes zur Realität, des Urteils zu der Sache, die da beurteilt werden will, im Spiel, dergestalt, daß das ganze Phänomen sich ohne weiteres unter vorzugsweiser Verwendung von Begriffen wie "mangelnde Sachkenntnis", "fehlende Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge", "wissenschaftliche Unbildung" usw. beschreiben ließe. Und die notorische Niveaulosigkeit und Primitivität des anarchistischen Schrifttums, der horrende philosophische Dilettantismus Proudhons, das wüste Sammelsurium disparater Gedankenfetzen in den theoretischen Arbeiten Bakunins, die kaum zu überbietende Flachheit der Universalphilosophie, Geschichtsauffassung und Ethik Kropotkins würden dem, der bei dieser Beschreibung stehenbliebe und sie für eine hinreichende Erklärung hielte, recht geben. Indes, sobald man sich der psychologischen Motive zu vergewissern sucht, die entweder durch jenes Defizit an Sachverstand fessellos werden oder ihrerseits, rückwirkend, die intellektuellen Mängel konservieren helfen, stößt man unweigerlich auf einen ganz bestimmten Typ von Wunschvorstellungen, solche nämlich, die sich wie Rauschgift der Subjektivität von Revolutionären zu bemächtigen drohen, falls dem nicht die kräftigsten Antitoxine entgegenwirken. Und eben diese Abart, dieser linke Sonderfall des ja auch sonst weit verbreiteten Wunschdenkens, dieses Opium für Sozialisten, das ihnen, während es schwer wie Blei in ihren Gliedern liegt, die Illusion ungeheurer Beschleunigung des Geschichtsprozesses, gigantischer Effektivität des eigenen Tuns zumal, vorgaukelt, ist die revolutionäre Ungeduld. Sie ist nicht auf den Anarchismus beschränkt, befällt nicht nur dessen Anhänger, tritt aber in Gestalt des Anarchismus am reinsten und konzentriertesten in Erscheinung.
Nicht von ungefähr ist hier das Stichwort "Opium" gefallen. Es erinnert an das "Opium des Volkes", wie Godwin und nach ihm Marx die Religion nannten, und es soll daran erinnern, nachdem schon die eingangs zitierten Äußerungen Jean Graves und der Brüder Cohn Bendit mit der in ihnen deutlich spürbaren Verzweiflung über die Endlichkeit der menschlichen Existenz sowie den Illusionen, die gegen die Verzweiflung aufgeboten werden, in die gleiche Richtung gewiesen haben. Waren dies nur entfernte Winke, so ist jetzt der Moment, mit der vollen Wahrheit herauszurücken: So unhaltbar es ist, dem Revolutionsgedanken des wissenschaftlichen Sozialismus eine "säkularisierte Eschatologie" zu unterstellen, so leicht sich derartige Interpretationen mit dem Hinweis auf die streng kausale Beweisführung von Marx widerlegen lassen eine Beweisführung, die den Bruch mit den teleologischen Denkschemata jeder Eschatologie voraussetzt und einschließt , es duldet keinen Zweifel, daß die revolutionäre Ungeduld alle Merkmale versetzter Religiosität aufweist. In genauer Analogie zur echten Religion ist sie ein Mischprodukt aus Wunsch und Ignoranz, die sich wechselseitig stützen und steigern. … (S. 34 f.)

Wodurch Anarchismus aber auch hervorgerufen sein mag, wie fundiert die soziologischen Überlegungen auch sein mögen, die ihn als verständlich und entschuldbar ausweisen, unter allen Umständen ist und bleibt er eine dem Klassenkampf des Proletariats, der Sache der sozialistischen Revolution abträgliche Verirrung. Für einen der Marxschen Lehre verschworenen, an politisches Zweckdenken gewöhnten Sympathisanten der Neuen Linken, der die Symptome sah und die Unvermeidlichkeit ihres Auftretens begriffen zu haben meinte, konnte es folglich nichts Dringlicheres zu tun geben, als den antiautoritär gesinnten Genossen warnend vor Augen zu führen, daß ihre vermeintlich taufrischen Lieblingsideen und bevorzugten Praktiken in Wahrheit weder originell sind noch sich jemals bewährt haben bewährt im Sinne der herbeigesehnten Revolution. Daher in der Arbeit Zur Kritik der revolutionären Ungeduld die von vielen Lesern zu Recht erkannte, zu Unrecht gerügte "Wahllosigkeit", mit der, unter beabsichtigter Vernachlässigung unbestreitbarer Unterschiede, Exponenten der radikalen Studentenbewegung von 1968169 und klassische Anarchisten "in einen Topf geworfen" werden, daher auch der Mangel an soziologisch verfahrender Analyse und Erklärung des beschriebenen Phänomens.



Neben ziemlich platter Kritik an der Anarchie als kleinbürgerlich oder gar neoliberal führt die offene Befürwortung von Macht und Hierarchie zur Ablehnung des Anarchismus.

Aus "Ein Blick zurück nach vorn", in: Junge Welt am 23.9.21 (S. 13)
Rolle des Anarchismus
Auch die Anhänger des Anarchismus und Anarchosyndikalismus, die den Staat als ihren Hauptgegner betrachteten und den Kampf der Parteien um Sitze in den bürgerlichen Parlamenten ablehnten, wurden mit diesen objektiven Widerspruchskomplexen im politischen Raum konfrontiert. In den Konstitutionsphasen mit dem Primat der Klassenbewegung konnten sie vielfach an der Frontlinie des Klassenkampfes (in den Massenstreikbewegungen ihrer Zeit) wirken. Sie waren auch an der Gründung von Genossenschaften beteiligt und propagierten die Idee eines politischen Föderalismus als Alternative zum Zentralstaat. Der Gedanke von der Schaffung von Freiräumen, Räumen der »Autonomie«, in denen auch in kapitalistischen Klassengesellschaften die Entfaltung von freier Individualität, Kreativität und Selbstbestimmung möglich sein soll, fand und findet in den sozialen Bewegungen bis in die Gegenwart immer wieder neue Anhängerinnen und Anhänger. Unter diesen dominieren freilich oft Intellektuelle, deren Denken von einem (mit dem Liberalismus verwandten) radikalen Antietatismus sowie von einem radikalen Individualismus, d. h. von der Ablehnung kollektivistischer Organisationsformen, bestimmt wird.
Die wirklich ernsthaften praktischen Ansätze und Experimente anarchistischer Politik in der Geschichte des Sozialismus wurden immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass a) die Befreiung im Mikrokosmos (eines befreiten Gebietes bzw. einer autonomen Zone) stets mit den Machtverhältnissen des umgebenden Makrokosmos – ökonomisch und politisch – konfrontiert war und meist nicht überleben konnte. Die »autonomen Inseln« im Meer inhumaner Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse hatten meist keine längere Lebenszeit – oder sie mussten sich als Genossenschaften den Gesetzen ihrer Umwelt (Märkte, Konkurrenz, politisches Umfeld) wenigstens partiell anpassen. So hat die Geschichte des Sozialismus im 20. Jahrhundert nun doch auch die Einsicht vermittelt, dass ohne Einwirkung auf die Staatsmacht keine Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse zugunsten der subalternen Klassen möglich ist und es dazu – auch um die Kontinuität in unterschiedlichen Konjunkturen des Kampfes zu gewährleisten – einer kollektiven, disziplinierten Organisation bedarf, die sich über die Bedingungen und Ziele der Kämpfe in demokratischen Verfahren verständigt.


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