Campact

PERSPEKTIVEN ZUR GEWALTFRAGE JENSEITS VON HEGEMONIALKÄMPFEN

Vorschläge und Positionen


1. Vorschläge und Positionen
2. Für eine Protestkultur emanzipatorischer Vielfalt und deren Aneignung
3. Fazit: Mehr Hirn!
4. Die wichtigen Fragen stellen
5. Diskussionsbeiträge
6. Links

Verfasst für das Buch "Anarchie. Träume, Kampf und Krampf im deutschen Anarchismus" (Gliederung).
Überarbeitet für das Buch "Gewalt" (ein Band in der Pocket-Theoriereihe). Weitere Aktualisierungen und Ergänzungen folgen.

Gewalt wird fast überall schlecht geredet – auch und gerade in politischen Gruppen. Das ist einer der Gründe, warum Gewalt als negativ gilt. Gründe brauchen nie genannt zu werden. Es ist ein Dogma. Auf Aussagen wie "Keine Gewalt" oder "Ich distanziere mich von Gewalt" folgt regelmäßig nicht die Frage nach "Warum?". Der Staat und die herrschenden Eliten haben dabei ein durchschaubares Interesse: Sie lehnen Gewalt nämlich nur bei denen ab, über die sie herrschen (wollen), sind aber selbst Inhaber_innen des Gewaltmonopols. Um ihre Interessen durchzusetzen, prügeln sie sich regelmäßig mittels ihrer uniformierten Truppen den Weg frei, stecken Menschen in Gefängnisse oder Psychiatrien, schieben sie aber oder zerfetzen sie mittels demokratisch legitimierter Kugeln, Granaten und Bomben. Wer so agiert, redet der Gewaltlosigkeit das Wort, um unangefochten zu sein.
Politische Gruppen hingegen, die Gesellschaft verändern wollen und nicht zu den Eliten zählen, verteufeln die Gewalt, ohne dass richtig klar ist, warum das geschieht. Ein offensichtlicher Grund ist der Versuch, sich an herrschende Klassen anzubiedern, indem mensch ihnen signalisiert, dass deren Gewaltmonopol nicht angetastet wird. Das ist oft lukrativ und wird mit einem Plus an Spenden, Förderungen und medialer Aufmerksamkeit entlohnt. Doch in der Sache bringt es nichts. Stattdessen macht es berechenbar und schränkt Handlungsoptionen ein. Es ist auch historisch unsinnig, der Gewalt abzuschwören. Ob Georg Elser oder Beate Klarsfeld – es gibt selbst im protestschwachen Deutschland Beispiele brillanter und wichtiger Gewalt gegen Menschen.

Dass die Gewalt hierzulande ein so schlechtes Image hat, liegt nicht nur an staatlichen, wirtschaftlichen und medialen Eliten. Die politische Bewegung im deutschsprachigen Raum trägt eine erhebliche Mitschuld. Sie ist vor allem eine Sache bürgerlicher Kreise ist und steht unter der Führung von Apparaten in NGOs, Parteien und Bewegungsagenturen. Das schafft eine negative Rückkopplung. Vielen in bürgerlichen Kreisen fehlen ohne Zeit, Lust und Impuls für eine selbstorganisierte Widerstandskultur. Aber sie haben das Geld, um über ihre gigantischen Spendenflüsse die Apparate zu finanzieren, die ihnen Instantaktionen von der "Fertig-Mail" über "Aktivisten-Kits" bis zur Mitlauf-Demo mit La-ola-Wellen anbieten. Hinzu kommen staatliche Förderungen. Von beidem vermuten die Leitungsgremien, dass diese Quellen gefährdet werden.
Möglicherweise liegt die weit verbreitete, dogmatische Abneigung gegen Gewalt (statt einer differenzierten - und fast immer notwendigen! - Kritik konkreter Anwendungen) auch daran, dass in Deutschland und in ganz Mitteleuropa nie eine Revolution gelungen ist. Es gibt gar keine Tradition der Auflehnung, keine positiven Bezugsgrößen. So schauen linke Gruppen, Anarchist_innen oder liberal gesinnte Bürger_innen regelmäßig mit glasigen Augen den Aufständen in fernen Ländern zu. Vietnam, Kuba, Südafrika, Chiapas, zuletzt im arabischen Raum. Immer waren es Mischungen aus militanten und gewaltfreien Aktionsformen. Niemand konnte sich vorstellen, dass so etwas mal im eigenen Land passieren könnte. Aber die Menschen in Tunesien, Ägypten, Libyen und anderen Ländern, die bis kurz vorher noch als im üblichen europäischen Überlegenheitsdenken als unterentwickelte, weil fundamentalistisch islamische Welt angesehen wurden – die machten es plötzlich. Die von europäischen Regierungen gestützten Führer ließen ihr "Volk" niederschießen - wahrscheinlich mit Waffen und Munition aus Deutschland und anderen Demokratien, zudem ausgebildet von Polizeiführer_innen gleicher Herkunft. Als die Sache kippte, stopften die - ach so gewaltfreien - Regierungen der NATO-Länder die Oppositionsführungen voller Waffen - aber nur, wenn diese selbst Eliten entstammten und wieder geordnete Hierarchien aufbauen wollten. Mitunter schossen sie sogar selbst, um zu erreichen, dass auch die nächste Diktatur oder Demokratie ihnen zugewandt war.

Für qualitativ hochwertige und passende Aktionen statt freiwilliger Selbstbeschränkung
Das Ergebnis einer emanzipatorischen Betrachtung lautet: Weder Gewalt noch Gewaltfreiheit sind per se gut oder schlecht. Sondern es kommt darauf an, die eigenen Aktionsformen frei und passend zur Situation, zu den Zielen und zu den eigenen Bedürfnissen zu wählen. Statt ständiger Distanzierung von Gewalt wäre eher eine Debatte um deren Qualitäten und die mitunter wichtige Bedeutung in der Geschichtsschreibung hervorzuheben. Sowohl hinsichtlich militanter wie auch gewaltfreier Aktionsmethoden geht es um die Aneignung emanzipatorischer und einfach kluger Formen ohne prinzipielle Ausschlüsse zu werben.

Die Option der Militanz gehört dazu - unberechenbar nach außen, aber immer überlegt und hinterfragt eingesetzt von den Akteur_innen. Ob sie gezückt wird, hängt von der Situation, den Zielen und den Bedürfnissen der Beteiligten ab.

Aus: Christoph Spehr, "Die Aliens sind unter uns" (S. 184)
Wer nicht in der Lage ist, der anderen Seite weh zu tun, hat nichts Nennenswertes zu erwarten: dieser simplen Regel sind auf ihre Art alle Sektionen des Maquis gefolgt. Sie haben sich nicht ins Ghetto der "Gewaltlosigkeit" einsperren lassen und sich darum bemüht, Fakten zu schaffen. Gewalt kann vielerlei bedeuten, vom Befreiungskrieg bis zum Streik, vom verbalen Angriff bis zum Outing, von der Enteignung bis zur Verweigerung reproduktiver Leistungen. ... Fanon betont, daß die Gegenmacht über den Aspekt der Durchsetzung hinausgeht, daß die Anwendung von Gewalt (welcher Art auch immer) eine Form der Selbstheilung ist, ein Bruch mit der eigenen Opfer-Identität, ein notwendiger Schrift, der eigenen beschädigten Identität die Erfahrung, sich wehren und ausbrechen zu können, zurückzugeben.

Aus Jochen Schilk, "New rAge", in: Oya Nov. 2012 (S. 16f.)
Ob es klug ist, bei der nicht minder schweren Aufgabe, das derzeit wütende Wirtschaftsmonster zu stoppen, prinzipiell jede Form von Selbstverteidigungsgewalt auszuschließen, möchte ich hier jedoch ausdrücklich bezweifeln. Meine bis dato kaum reflektierten pazifistischen Überzeugungen sind durch Jensens zweibändiges Buch "Endgam/Das Öko-Manifest" jedenfalls gehörig ins Wanken geraten. Ich kann nach der Lektüre nicht mehr daran glauben, dass die vom System erlaubten demokratischen Aktionsspielräume zu einer Überwindung des Alten führen können, geschweige denn zu erfolgreichem Widerstand gegen die Zerstörungsmaschine, die heute einen großen Teil des Lebens auf der Erde bedroht. ...
Arundhati Roy hatte sich 2006 für den "Table of Free Voices ... Fragen für die anwesenden 100 Experten ausgedacht, die mir im Ohr geblieben sind: "Wofür entscheiden wir uns, wenn wir vor den Alternativen gewaltfreier Widerstand oder bewaffneter Kampf stehen? Was von beidem könnte sich als effektiver erweisen? Was von beidem ist "richtiger"? Oder brauchen wir etwa eine "Biodiversität der Widerstandsformen"?


Es kommt auf Motiv und Ziel an
Aus Stephan D’Arcy (2019), „Sprachen der Ermächtigung“ (S. 14f)
Wenn ich einen Mann zu Boden stoße, um ihn daran zu hindern, ein Kind mir dem Messer anzugreifen, wende ich physischen Zwang an. Aber begehe ich damit auch einen Akt der Gewalt? Den meisten von uns würde es wohl widerstreben, das Wort in diesem Sinn zu verwenden. Nehmen wir aber einmal an, dass ich denselben Mann zu Boden stoße, um ihm den Weg zu einem Gebäude zu versperren, vor dem ich während eines Generalstreiks Streikposten stehe. Hier wären viele nur allzu schnell bereit, von ‚Gewalt‘ zu reden, während andere immer noch zögern würden. Betrachten wir nun einen dritten Fall: Was wäre, wenn ich denselben Mann niederschlage, um damit meine Abneigung gegen seine Religion zum Ausdruck zu bringen? In diesem Fall wäre vielleicht jede*r der Meinung, dass es sich hier um einen Gewaltakt handelt. Und doch begehe ich in allen drei Fällen die gleiche Art von Handlung: Ich stoße einen Mann zu Boden. Warum bezeichnen wir dann nicht alle diese Handlungen, oder keine davon, als gewalttätig? Die Antwort ist klar: Es widerstrebt uns, eine Handlung als gewalttätig zu bezeichnen, wenn wir sie als wünschenswert und moralisch vertretbar betrachten. Das ist einer der Gründe dafür, warum wir so selten Leute von ‚gewaltsamer Selbstverteidigung‘ reden hören. ‚Selbstverteidigung‘ wird als moralisch akzeptabel angesehen und daher weigern wir uns, sie als gewaltsam zu charakterisieren. …
Es ist leicht, sich selbstzufrieden zurückzulehnen und zu verkünden, jegliche Gewalt sei inakzeptabel. Aber solange das nur eine andere Art ist zu sagen, dass es nicht akzeptabel ist, inakzeptable Gewalt anzuwenden, ist diese Aussage inhaltsleer. Wenn jemand sagen würde, es sei falsch, einen Mann zu Boden stoßen, um ihn daran zu hindern, auf ein Kind einzustechen, könnte das wenigstens als klarer Standpunkt zu einer umstrittenen Frage gelten. Andererseits würde es die Wichtigkeit des Schutzes von Kindern vor physischen Angriffen auf ziemlich schockierende Art unterbewerten. In der Praxis würden aber fast alle, die behaupten, unter allen Umständen gegen Gewalt zu sein, hier die Anwendung physischer Gewalt zu billigen, um den Angreifer unschädlich zu machen. Wir sollten daher pauschale Verurteilungen jeglicher Gewalt mit einem gewissen Argwohn betrachten. Solche Proklamationen stellen zum größten Teil den Versuch dar, die schwierigen Fragen hinter einem Deckmantel oberflächlicher moralischer Gewissheit zu verbergen.


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