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PERSPEKTIVEN ZUR GEWALTFRAGE JENSEITS VON HEGEMONIALKÄMPFEN

Diskussionsbeiträge


1. Vorschläge und Positionen
2. Für eine Protestkultur emanzipatorischer Vielfalt und deren Aneignung
3. Fazit: Mehr Hirn!
4. Die wichtigen Fragen stellen
5. Diskussionsbeiträge
6. Links

Aus Michael Jäger, "Orte des Widerstandes", in: Freitag 6/2004 (S. 1)
Ob ein Widerstand erfolgreich ist oder nicht, entscheidet sich an der Fixierbarkeit von Orten, gegen die er sich richten kann. Das müssen Orte sein, in denen die Macht des Gegners nicht nur gezeigt wird, sondern tatsächlich verankert ist. Gegen einen Gegner, der überall und nirgends wäre, könnte kein Kampf erfolgreich sein. Aber ein solcher Gegner sind die transnationalen Konzerne nicht. Die Adressen ihrer Zentralen, Werkstätten und Filialen sind bekannt. Solche Orte können weder beliebig hin- und herreisen wie die Teilnehmer der G 8-Treffen, noch ist ihre "weiträumige Absperrung" möglich, denn es sind zu viele, und sie wären nicht bloß ein paar Tage zu schützen, sondern immer. Demonstrieren ist nicht genug: Es muss vor den wirklichen Mauern der Macht geschehen.


Im Original: Diskussionsbeitrag
Aus einer Mail auf der Umweltschutz-von-unten-Mailingliste
Wenn bei einer Aktion die Fensterscheiben bei einer Bank beschädigt werden, dann ist das Gewalt. Das ist verwerflich und man hat sich davon zu distanzieren. Wenn diese Bank ihre Gewinne damit macht, daß sie Staudämme finanziert, durch die Tausende von ihrem Wohnort verdrängt werden, oder daß unersetzlicher Regenwald abgeholzt wird, dann ist das selbstverständlich keine Gewalt. Es geschieht ja mit der Billigung diverser Regierungen und internationaler Organisationen, wie Weltbank und IWF. Als die deutsche Bundesregierung ein Atomprogramm durchdrücken wollte, haben sich Leute an den Bauplätzen weder von Zäunen, noch von den bewachenden Polizisten zurückhalten lassen. Das war natürlich Gewalt. So ziemlich alle Eigenturmsrechte wurden verletzt, Sachen wurden zerstört. Manche haben sich monatelang auf dem Bauplatz festgesetzt. Der Pfarrer hat ihnen eine warme Suppe gebracht. Bauunternehmer haben Material zum Bau von festen Hütten gebracht. Alles Gewalt, ungesetzlich und verwerflich.
An einigen dieser Bauplätze steht bis heute nichts und ohne diesen Druck von unten hätte es überhaupt keine Diskussion über Atomausstieg gegeben. Wir können auch Standorte von Atomraketen, Wiederaufbereitungsanlagen, Chemiewerken, Deponien, geplante Auto- und Magnetbahnen, Stauseen usw. hinzufügen. Jedesmal wird die sogenannte „Gewaltfrage“ hochgespielt. Was darf man denn tun, wenn die eigenen Rechte gröblich, von „denen da oben“ verletzt werden. Auf „legalem“ Weg, also über Klagen oder parlamentarische Entscheide ist selten etwas zu erreichen. Oder es wurde schon erfolglos versucht. Bei Atom, bei Auto- und Magnetbahn gab es breite parteiübergreifende Mehrheiten, die erst jetzt nach vielen Jahren etwas bröckeln. Oft wurde der „legale“ Weg beschritten und man hat vor der „Arroganz der Herrschenden“ resigniert. Die radikalsten Wortführen sind oft diejenigen, fest die an die Rechtmäßigkeit und Legalität geglaubt haben und am Ende sehen mußten, wie ihre Interessen völlig belanglos sind.
Der Aufstand des Spartakus, die Bauernkriege, die Aktionen von Max Hoelz im Vogtland. Es war immer eine Reaktion auf unerträgliche Zustände, die einen langen Vorlauf hatten. Und immer waren die jeweiligen Machthaber schnell da und riefen „Pfui - Gewalt“. Als ob es aus heiterem Himmel gekommen wäre. Eine Anlayse dieser Bewegungen von unten zeigt, daß sich die Aufrührer in fast allen Fällen unbegreiflich milde und zurückhaltend gezeigt haben. Die Gefangenen wurden eben nicht kurzerhand umgebracht (obwohl genau dies in der Propaganda behauptet wurde), oft ließ man gegenerische Kämpfer mit dem Versprechen, sich künftig herauszuhalten, laufen. Gefangene wurden, den Umständen entsprechend, fair behandelt.
Das änderte sich aber in der Regel, wenn das Aufbegehren gescheitert war. Diejenigen, die die alte Ordnung wiederherstellten, kannten (und kennen) keine Gnade. Trotz Verträgen wurden die Unterlegenen massenhaft hingerichtet, verstümmelt, deportiert oder zumindest langjährig ins Gefängnis geworfen. Alles „Gewalt“ aber unter Berufung auf gültiges Recht. Ein trauriges, aber sehr anschauliches Kapitel ist die Münchner Räterepublik, wo sich die aufständischen Kommunisten- und Sozialdemokraten geradezu musterhaft diszipliniert gegenüber ihren geschlagenen Gegnern verhielten. Als die Truppen der Reichswehr, geführt von Kräften, die später dem Faschismus den Weg bereiteten, die Oberhand gewannen, gab es keine Gnade mehr. Was vorher an Schandtaten den Revolutionären vorgeworfen worden war, wurde nun an ihnen vollzogen.
Dies wurde natürlich mit Meldungen über angebliche Greueltaten der Revolutioäre vorbereitet und ideologisch abgesichert.
Oder nehmen wir den französischen Bauern José Bove. Er hat aus berechtigtem Zorn gegen eine katastrophale Agrarpolitik der Baustelle eines McDonald‘s einen Besuch abgestattet. Er wurde deswegen zu einem Gewalttäter hochstilisiert und mit Gefängnis bedroht. Die BSE-Krise hat nun allen gezeigt, daß Bové und seine Mitstreiter recht haben. In Porto Alegre war er der Star. Man darf sich in der Frage der „Gewalt“ eben nicht aufs Glatteis führen lassen, indem man den Diskurs von der anderen Seite bestimmen läßt. Da ist alles Gewalt, schon eine Sitzblockade mit eher symbolischem Charakter ist „Gewalt“, weil sie das Recht auf „Bewegungsfreiheit“ einer Atomrakete oder eines Castor-Transports einschränkt. Eine unkontrollierte Bewegung und ein Polizist erkennt auf „Körperverletzung“, ein wenig zerkratzter Lack und es ist „Sachbeschädigung“ Da ist man schnell in einem Topf mit den wenigen wirklich radikalen, die vor Mord (vgl. Rote Armee Fraktion) oder größeren Zerstörungen nicht zurückschrecken. Diese berufen sich zwar auf edelste Absichten, stammen oft auch aus Bewegungen, die sie als unzulänglich empfanden, aber die Aktionen lassen jedes Maß vermissen.
Man hilft einer politischen Bewegung nicht, wenn man Politiker oder Banker einfach umbringt. Die Sinnlosigkeit des individuellen Terrors wurde immer wieder nachgewiesen. Eine einzelne Person in der Elite auszuschalten ist keine dauerhafte Lösung, weil es sogleich andere gibt, die diese Funktion übernehmen. Die Machteliten in Angst um ihr Leben zu versetzen gelingt einer kleinen, abgeschotteten Gruppe auch kaum, weil die Machtmittel des Staates doch sehr viel größer sind. Die Folge von individuellem Terror ist meist, daß ziemlich undifferenziert gegen jede Form von Opposition vorgegangen wird, ob diese sich nun von der „Gewalt“ distanziert oder nicht. (Die Frage, ob man Menschen töten darf, als ethische Frage steht hier nicht an. Auch bürgerliche Kreise sind durchaus der Ansicht, daß ein Attentat auf Hitler, das dessen Tod zur Folge gehabt hätte, ethisch gerechtfertig war. Die Attentäter werden regelmäßig als „Widerstandskämpfer“ gefeiert. Es ist nur eine qualitative Frage, bei welcher Art von Regierung ein Mord als Widerstand erlaubt ist, das Töten prinzipiell ist gestattet. In Form der Armee sogar für jedermann)
Das zeigt zweierlei:
Die „Gewalt“ einer kleinen abgehobenen Gruppe wird mit großer Wahrscheinlichkeit vom Staat selbst gefördert, z.B. durch eingeschleuste Agenten, und gesteigert. Dafür gibt es nun reichlich Beweise auch aus jüngster Vergangenheit. Von der Steuerung „anarchistischer“ Bombenleger durch die zaristische Geheimpolizeit gar nicht zu reden.
Die Distanzierung von „Gewalt“ in abstraktem Sinne ist völlig zwecklos, weil es einen am Ende doch erwischt. Es genügt schon, die gleichen politischen Ziele zu haben, wie ein „Gewalttäter“ und schon hängt man drin. Es kommt hinzu, daß der Staat und seine Repräsentanten in der Gewaltfrage durchaus nicht so purisitsch sind, wie es den Anschein haben könnte. Wenn man eine Autobahn blockiert, weil man saubere Luft haben will, ist das natürlich „Gewalt“. Wenn Fernfahren die selbe Autobahn blockieren, weil sie keine Maut bezahlen wollen oder das Benzin zu teuer wird, kommen höchste Repräsentanten von Staaten und Verbänden angereist und versichern ihnen ihre Solidarität. Wenn dabei eine Raststätte abgefackelt wird, ist das der Erregung um die eigene Existenz geschuldert, Täter werden nie ermittelt, auch nicht gesucht. Im anderen Fall ist es höchst verwerfliche Sachbeschädigung und beschäftigt die Ermittler jahrelang. Diese Zusammenhänge gilt es klarzumachen.
Der brave Deutsche hat natürlich Angst um sein eigenes Auto und sein Häuschen, wenn er hört, daß bei einer „gewalttätigen Demonstation“ Fahrzeuge und Gebäude beschädigt wurden. Er wurde in Angst und Schrecken versetzt, weil er von einer Kugel der RAF erledigt werden könnte, obwohl die Wahrscheinlichkeit, daß er bei einem Überholmanöver auf der Bundesstraße auf ein entgegenkommendes Fahrzeug trifft, tausendmal größer ist. Aber selbiger dovote Deutsche hat keinerlei Hemmungen, die Hydraulikschläuche bei einem Bagger durchzuknipsen, wenn eine Straße über das Feuchtbiotop, das er als ehrenamtlicher Naturschützer gepflegt hat, gelegt werden soll. Da wird nacht lange über die Gewaltfrage nachgedacht, da wird gehandelt. Wer, wenn nicht wir. Wann, wenn nicht jetzt.
Diese Ambivalenz wird bei abstrakten Diskussionen um die „Gewaltfrage“ stets ausgeblendet. Da stehen nur Schreckgestalten, wie die bösen „Autonomen“ oder der „Schwarze Block“ im Mittelpunkt. Entweder man läßt sie gewähren oder man distanziert sich. Beides ist der Sache nicht angemessen. Ihre Wut ist so legitim, wie ihre Methode falsch ist. Die sogenannte „Stellvertreterpolitik“ hat noch nie funtioniert, bei der eine ideologisch vorausdenkende Elite stellvertretend für die Masse, die sich das nicht traut, den Aufstand vorbereitet und durchführt.
Wenn eine „Bewegung“ tatsächlich ihren Namen verdient, dann hat sich die abstrakte Diskussion um die „Gewaltfrage“ erledigt, denn die Bewegung ist die Gewalt selbst. Etwa die Zapatisten.
Die Diskussion um die „Gewaltfrage“ hat lediglich das Ziel, das staatliche Gewaltmonopol zu rechtfertigen, auf dem die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft beruht. Die Alternative, so heißt es, sei Anarchie, Rechtlosigkeit, Willkür und was einem sonst so noch einfällt. Die Willkür, die der bürgerliche Staat gebrochen hat, war aber die Autokratie von Provinzfürsten, in Deutschland später als in Frankreich, die ursprüngliche Selbstbestimmung des Volkes war schon vorher zugunsten des Adels beseitigt worden.
Die Überwindung des bürgerlichen Staates ist aber das größte Tabuthema überhaupt. Das Hochspielen der Gewaltfrage dient vor allem dazu, die Diskussion nicht in diese Richtung entgleiten zu lassen.
Es könnte ja sein, daß jemand auf die Idee kommt, daß die Agenda 21 ja so ganz brauchbar, aber leider in den Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft nicht durchsetzungsfähig ist. Wäre ja mal eine Überlegung wert.
Roland


Hanna Poddig zu "Gewaltfreiheit und was es (nicht) bedeutet", in: Klimakämpfe (2019, Unrast-Verlag, S. 42ff)
Wenn wir Berichte über politische Aktionen oder Aufrufe zu Kampagnen lesen, heißt es immer wieder, die Aktionen seien gewaltfrei. Als Teenagerin hat mich das angesprochen. Intuitiv erschien mir das irgendwie richtig. Doch mit der Zeit hat sich meine Meinung dazu deutlich geändert.
Das hatte verschiedene Gründe. Zum einen hatte ich das Gefühl, dass mir niemand überhaupt sagen konnte, was konkret mit Gewaltfreiheit gemeint war. Alle schienen davon auszugehen, dass irgendwie das Gleiche gemeint sei. Der Begriff wurde benutzt, damit sich Menschen wohl und sicher fühlten, ohne dass eine Definition von Gewalt für nötig erachtet wurde. Auf Internetseiten der Gruppen stehen nur schwammige Formulierungen und wenn ich nachfrage, sind sich die Aktiven uneinig. Ich verstand langsam, dass der Begriff für viele einen wichtigen Teil ihrer politischen Identität ausmachte, unantastbar war. Aber reflektiert oder definiert wurde er selten.
Dann erlebte ich, dass das Bekenntnis zur Gewaltfreiheit benutzt wurde, um sich von anderen abzugrenzen. Was zunächst nachvollziehbar erscheint, ist aus meiner Sicht mehr als kritisch, denn in der Praxis bedeutete diese Abgrenzung oft die öffentliche Diskreditierung anderer politischer Akteur*innen. Ihnen wird die Nutzung von Gewalt explizit oder implizit vorgeworfen, während gleichzeitig die Gewalttätigkeit dessen, wogegen wir eintreten verschwiegen oder jedenfalls nicht explizit als Gewalt benannt wird. Abgebrannte Grenzstationen, gesprengte Baustellen von Abschiebeknästen, klandestin zerstörte Gentechnikfelder und sogar Barrikaden aus Holzstämmen auf Schienen, Blockaden bei denen Angekettete anonym zu bleiben versuchten oder entfernter Schotter unter den Schienen galten schon als nicht gewaltfrei.
Wenn ich die Welt um mich herum betrachte und feststelle, dass vieles nicht so läuft, wie ich es mir wünschen würde und sehr vieles passiert, was ich für unvertretbar halte, dann stellt sich mir die Frage, was das nun für mich bedeutet. Ich habe Wahlmöglichkeiten. Ich kann entweder weggucken und fliehen oder mich in irgendeiner Form mit der Sachlage auseinandersetzen. Wenn ich mich entschieden habe, aktiv zu werden, muss ich mich als nächstes fragen, was ich tun kann. Aus den unendlich vielen verschiedenen Möglichkeiten, die ich habe, wähle ich dann die aus, die mir in diesem konkreten Einzelfall strategisch sinnvoll erscheinen. Wenn ich Streit mit meiner Nachbarin habe, werde ich den vermutlich nicht durch eine Sitzblockade vor ihrem Auto austragen. Wenn ich mich über die Lokalzeitung ärgere, wende ich mich nicht mit einem offenen Brief an das Europaparlament. Stattdessen betrachte ich die konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls und überlege, was sinnvolle Ansatzpunkte in dem Konflikt sein könnten.
Ich stelle mir die Frage, welches Eskalationsniveau ich für angemessen halte.
Traurigerweise passiert genau das in politischer Bewegung oft nicht. Auf Dinge die passieren antworten verschiedene Kontexte mit den immer gleichen und berechenbaren Aktionsformen. Ritualisiert reagieren große Verbände mit Großdemos und autonome Kreise mit Aufrufen zur militanten Gegenwehr.
Aber es geht auch anders: Wenn indische Bauern, die in Knebelverträgen an Gentechnikkonzerne gebunden sind, aus Protest gegen gentechnikbedingte Ernteausfälle die Entscheidung treffen, ihre eigenen Felder – statt die Baumwolle zu ernten – anzuzünden, dann setzen sie damit in meinen Augen ein beeindruckendes Zeichen. Eine gravierende und sicherlich wohl überlegte Handlung, die ein Signal setzt und Bilder produziert, die in der Lage sind, Inhalte zu vermitteln. Drastisch, aber strategisch. Warum ich dieses Beispiel wähle? Weil viele gewaltfreie Aktivist*innen im deutschsprachigen Raum Brandstiftungen für grundsätzlich nicht gewaltfrei erachten. Es ging in einigen Fällen soweit, dass Menschen bei Sitzblockaden gesagt wurde, sie sollten keine Lagerfeuer anzünden, um sich zu wärmen und diese sogar gelöscht wurden.
Wenn die indischen Bauern nun ihre eigenen Felder anzünden, ist das dann gewaltfrei? Wäre das Kriterium, das diese Aktion gewaltfrei macht, dass sie dabei offen auftreten? Dass sie Gesicht zeigen? Dass es sich um ihre eigenen Felder handelte? Wenn wir das bejahen, einem nächtlichen, geheim durchgeführten Brandanschlag auf fremdes Eigentum jedoch absprechen, gewaltfrei zu sein, was bedeutet das dann für unser Verständnis von Gewalt? Erheben wir damit tatsächlich das Eigentumsrecht zum Kriterium für Gewalt? Und wie ließe sich das rechtfertigen in einer Welt, in der Eigentum und Besitz derart ungleich verteilt sind? Oder geht es um das Heimliche? Zweifelsohne vermittelt eine Aktion zu der sich Menschen offen bekennen ein anderes Bild, aber wäre das unerkannt Weggehen tatsächlich Gewalt?
Was enorm bei der politischen Orientierung helfen kann, ist zu wissen: Wenn Menschen von Gewaltfreiheit reden, meinen sie damit oft eine ganze Reihe an Verhaltensweisen von denen viele mit der Anwendung von Gewalt unstrittig überhaupt nichts zu tun haben. Sie meinen das Gesicht Zeigen. Sie meinen das Angeben der eigenen Personalien, wenn die Polizei danach fragt. Sie meinen, sich verhaften zu lassen. Sie meinen, sich im Gerichtsprozess auf Notstandsrechte zu beziehen, grundsätzlich aber nach den vorgegebenen strafprozessualen Regeln zu agieren. Sie meinen damit, höflich zu Soldat*innen, Polizist*innen und Richter*innen zu sein. Statt diese Diskussion jedoch inhaltlich zu führen, wird Abweichung als ›nicht gewaltfrei‹ und damit implizit als Gewalt kategorisiert.
Im November 1986 ohrfeigte Beate Klarsfeld den damaligen Bundeskanzler Kiesinger, um dessen Nazivergangenheit zu thematisieren. Sie hatte dies öffentlich getan, zuvor angekündigt und ein halbes Jahr lang geplant. Es war Teil einer umfangreichen Kampagne zur Aufdeckung der Nazivergangenheiten diverser deutscher Nachkriegspolitiker. Spektakulär und aufsehenerregend. Wollen wir uns von solchen Aktionen tatsächlich kategorisch distanzieren?
Weitergedacht lande ich bei Hitlerattentaten und persönlichen Notwehrreaktionen und komme immer mehr zu dem Schluss, dass mir die Kategorie ›gewaltfrei‹ schlicht nicht hilft. Einfach weil die Wahl eines angemessen Mittels nicht ohne den Kontext betrachtet werden kann. Und je nachdem, was vorausgegangen ist und welches Eskalationsniveau erreicht ist, sind eben unterschiedliche Aktionsformen adäquat.
Doch nicht nur bewegungsintern gibt es die Gewaltdebatte, auch von außen wird die ein oder andere Form des Widerstands immer wieder als Gewalt betitelt, um die Bewegung in vermeintlich legitime und illegitime Teile zu spalten. Es sei Gewalt, etwas zu tun, was den Arbeitnehmer*innen in der Kohleindustrie ihren Job wegnehmen könne, argumentieren die Kohlekonzerne. Und es sei Gewalt, auf der Straße zu sitzen und Autos zu blockieren, so die Gerichte. Auch hier stellt sich wieder die Frage nach dem Gewaltbegriff und vor allem aber die Frage, welche Gewalt hier totgeschwiegen wird. Ist es keine Gewalt, wenn Menschen ihre Häuser verlassen müssen? Dörfer und Landschaften zerstört werden? Massenhaft Tierarten aussterben? Wenn Inseln im Meer versinken, weil der Sand abgebaggert wird und der Meeresspiegel steigt? Ist nicht auch dieser Gewaltbegriff unglaublich verlogen?
Grundsätzlich glaube ich, dass unsere Aktionen dann am schlagkräftigsten sind, wenn wir sie aus tiefster Überzeugung machen. Wenn wir nicht teilnehmen, weil wir sonst ein schlechtes Gewissen hätten, sondern selbstbestimmte Akteur*innen sind. Wenn wir an die Sinnhaftigkeit dessen was wir tun glauben und daher authentisch auftreten können, statt einer externen vermeintlich bestehenden moralischen Pflicht hinterher zu rennen.


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