Campact

PERSPEKTIVEN ZUR GEWALTFRAGE JENSEITS VON HEGEMONIALKÄMPFEN

Die wichtigen Fragen stellen


1. Vorschläge und Positionen
2. Für eine Protestkultur emanzipatorischer Vielfalt und deren Aneignung
3. Fazit: Mehr Hirn!
4. Die wichtigen Fragen stellen
5. Diskussionsbeiträge
6. Links

Die Qualität von Aktionen macht sich nicht daran fest, ob eine bestimmte Aktionsmethode angewandt wird oder nicht. Denn ob eine Methode passt oder nicht, hängt vom Ziel, noch mehr aber von der Situation ab. Ob ich ein Genfeld zerstören oder den Castor stoppen will, ist eine ganz andere Entscheidungsgrundlage als wenn gerade ein Abschiebehäftling ins Flugzeug geschleift wird oder ein Kampfbomber in den Krieg startet. Will ich unabhängig von konkreten Vorkommnissen mit Straßentheater oder Verteilen von Fakes informieren oder zum Nachdenken bringen, ist das wieder eine andere Sache. Wer Aktionsformen festlegt, ohne zu wissen, für was, agiert mit einem Dogma oder einer religiösen Identität.
Das bedeutet aber nicht, dass es gleichgültig ist, wie mensch agiert. Es gibt eine Menge wichtiger Kriterien - was genau davon Menschen wichtig ist, müssen diese selbst entscheiden. Hier sollen ein paar Aspekte aufgezählt werden, die in Frage kommen. Sie gelten für alle Aktionsformen, also für gewaltfreie wie militante, offene wie heimliche, legale wie illegale, zurückhaltende wie offensive.

Aus "Jenseits von Militanz: Revolutionäre Gewalt", in: In der Tat Januar 2019
Freiheit schafft man durch freiheitliche Mittel, nicht durch das Werben für angeblich freiheitliche Identitäten. Dieser Drang nach Freiheit ist der Referenzpunkt auf dessen Grundlage wir zusammen kommen.

Aus Tim Wihl (2024), "Wilde Demokratie"
Völlig in die Irre führt die oft überpräsente Gewaltfrage. Diese führt ins Nichts, weil sie nur als reflexiver Gewaltbegriff Sinn ergibt: Interessant ist allein, was Gesellschaften zu verschiedenen Zeiten für Gewalt halten und ablehnen. ... Von der Frage der Mittel ist die nach den Zielen weniger leicht zu trennen, als man annehmen könnte. Notorisch wurde diese Vermischung bei dem Problem, ob nur ein gewaltloser Protest gewaltlose Zustände herbeizuführen helfe.140 Abermals führt die Gewaltfrage nicht sehr weit. ...
An die Stelle des Gewaltproblems hätte sinnvollerweise auf der Stufe des Sich-Widersetzens das juristisch besser handhabbare Kriterium möglicher Menschenrechtsverletzungen Dritter zu treten. Dabei könnte man dann etwa überlegen, ob auf der Skala der Aktionsformen von legaler Versammlung über zivilen Ungehorsam bis zur sonstigen direkten Aktion die Intensität der horizontalen Menschenrechtsverletzungen zunimmt und wie das im Einzelfall abwägend oder regelhaft zu beurteilen ist. Diese Horizontalität bemisst sich an der Selbstrepräsentation der Beteiligten des Protests, der Adressat:innen und der Dritten, also an einem weiteren zentralen Machtverhältnis. Ein bewaffneter Kampf als klassischer Extremfall der direkten Aktion kommt nur bei fehlender Selbstrepräsentation, also dem Verlust der Demokratie als Regierungs- und Lebensform überhaupt infrage.
(S. 74ff)

  • Emanzipatorische Inhalte zum Ausdruck bringen
    Politische Aktion soll Inhalte (Kritik, Positionen, Forderungen, Utopien) vermitteln (ist zwar eine Binsenweisheit, wird aber oft vergessen). Verbandssymbole sind kein Inhalt, Dresscodes auch nicht. Steine und Unterschriftensammlungen allein auch nicht. Bei vielen Demos oder Infoständen fragen sich Beobachter_innen, um was es eigentlich geht. Das ist von außen kaum erkennbar. Für eine emanzipatorische Politik ist das Vorhandensein und die Erkennbarkeit von Inhalten aber nur die Voraussetzung für mehr. Es geht auch um deren befreiende Qualität. Herrschaft und Zwang scheiden sowohl als Ziel wie auch als Mittel emanzipatorischer Veränderung aus. Die meisten politischen Forderungen aktueller Zeit beinhalten aber genau das: Mehr Staat, mehr Kontrolle, Nazis in Knäste, härtere Strafen (aber für andere), mehr Gesetze, internationaler Institutionsaufbau bis Weltregierung usw. Das Problem tritt bei Gewaltfreien und Militanten auf, ist aber nicht deren Kennzeichen, sondern wiederholt sich in den meisten politischen Strömungen.
  • Kommunikativer werden
    Die moderne Welt ist kommunikativ organisiert. Symbole und Überzeugungen, Normen und Diskurse zählen immer mehr, die harten Formen des Zwangs verschwimmen hinter ihnen. Sie werden nicht entfernt, sondern durch Symbolik überprägt - ein Kampfbomber wird zum Demokratiebringer, ein Polizeiknüppel dient dem sicheren Leben aller usw. Emanzipatorische Politik basiert auf horizontaler Kommunikation. Die fehlt bei Reden Weniger vor Vielen. Sie lebt nur, wo es direkte Gespräche zwischen Menschen gibt. Aktionen sollten so angelegt sein, dass sie Interesse oder sogar Erregung wecken und dann in direkte Kommunikation münden.
  • Widerstandsformen für den Alltag entwickeln
    Eventhopping oder das Warten auf professionell gesteuerte Kampagnen zum Mitmachen a la Greenpeace und Campact haben viel mit Profi-PR, Mitglieds- und Spendenwerbung, aber wenig mit gesellschaftlicher Veränderung von unten zu tun. Wichtig ist widerständiges Leben, das sich unabhängig voneinander und an vielen Orten, in vielen Facetten, aber auch untereinander kommunizierend, solidarisch und kooperativ zeigt.
  • Know-How aneignen
    Soll politische Aktion stärker in den Alltag getragen werden, dann hilft es, wenn sich mehr Menschen Know-How zu Aktionsformen aneignen. Wer wozu Lust hat oder was wichtig ist, bedarf keiner zentralen Steuerung: Kommunikationsguerilla, Layout von Flugblättern, Sabotagetechniken, verstecktes Theater, Schlösser öffnen, direkte Intervention, Mollis bauen - Emanzipation heißt immer auch, die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Nur dann kann ich frei entscheiden, was ich wann in welcher Situation will. Und brauche nicht mehr diese nervigen Bewegungs-Eliten, die Menschen als Schafe in ihrer Herde haben wollen. Ideen und Beispiele unter www.direct-action.siehe.website.
  • Mut zu Utopien: Neue Spinner braucht die Welt!
    Kann es sein, dass viele politische Akteur_innen, vor allem aber die Eliten von Bewegungen und Organisationen ein Hauptaugenmerk darauf richten, mit ihrer Form von Protest genau bei denen auf Anerkennung zu stoßen, denen sie selbst vorwerfen, überdurchschnittlich viel zu Unterdrückung, Umweltzerstörung usw. beizutragen? Die Welt verändert sich, wenn Menschen etwas Abweichendes vom Bestehenden zum Ausdruck bringen: Widerständig, symbolisch oder experimentell. Wer das tut, läuft Gefahr, als Spinner_in dazustehen in den Augen und in der Propaganda derer, die vom Normalen nicht genug kriegen können. Wer Rückgrat hat, wird spüren, dass das unumgänglich und bei genauerer Betrachtung eher ein Lob ist. Kritik der Herrschaft und Utopien unter www.herrschaft.siehe.website.
  • Dominanzen und Hierarchien abbauen
    Innerhalb von kleinen Gruppen bis hin zu den Führungskadern von Strömungen und Verbänden ist fast alles von starken formalen, Wissens- und Stellvertretungshierarchien durchzogen. Das liegt auch daran, dass Wenige sich viel Know-How aneignen oder gerne im Namen von vielen auf den Bühnen dieser Gesellschaft posieren, während Viele sich wohl fühlen in der trägen Masse, die ohne eigene Ideen den Vorgaben hinterher läuft. Eine andere Organisierungskultur ist möglich - und nötig! Für Gegenentwürfe und konkrete Methoden siehe www.hierarchnie.siehe.website.
  • Selbstorganisierung und Unabhängigkeit
    Wer am nächsten Tag arbeiten muss, kann viele Aktionen nicht mitmachen. Nach einigen Jahren wird er/sie auch gar nicht mehr über solche Aktionen nachdenken und sich Kreise suchen, die nur in den vorgegebenen Normen aktiv sind. Wer nicht ständig um seine Lebensbasis fürchten muss, kann anders agieren. Hilfreich sind Formen der Selbstorganisierung im Leben und die Stärkung von Kooperation. Anregungen unter www.alltagsalternativen.siehe.website.

Die genannten Themen spielen in Aktionsplanungen selten eine wichtige Rolle. Fragen dazu werden kaum gestellt oder diskutiert, bei gewaltfreien wie militanten Gruppen. Das spricht für sich und zeigt, dass politische Aktion wenig mit Emanzipation zu tun hat. Das Ergebnis ist verheerend: Die meisten sowohl der militanten als auch der gewaltfreien Aktionen sind platt, inhaltlich und methodisch langweilig. Militanz überzeugt zur Zeit selten, aber nicht wegen ihrer Gewalt, sondern weil die Gewalt primitiv ist, meist aus Hilflosigkeit resultiert und ohne Vermittlung daher kommt. Gleiches gilt für Mahnwachen, Latschdemos und Postkartenaktionen. Notwendig wäre eine deutliche Weiterentwicklung von Zielen, Visionen, Gesellschaftskritiken und Methoden von Aktionen - und ihrer Außenvermittlung. Wenn dann im Zuge politischer Kämpfe kreative, vermittlungsstarke militante und gewaltfreie Aktionen nebeneinander geschehen oder sogar intelligent miteinander verknüpft werden können - wer wollte sich darüber ärgern?

Zum nächsten Text über die Praxis der Anarchist_innen im Kapitel "Bestandsaufnahme: Theorie und Praxis der Anarchie"

Der Autor D'Arcy hat vierAspekte beschrieben, die an die Qualität von Militanz zu stellen sind.

Aus Stephan D’Arcy (2019), „Sprachen der Ermächtigung“ (S. 94ff)
Das Prinzip der maximierten Möglichkeiten: Militanz sollte neue Möglichkeiten schaffen, gravierende und drängende Missstände zu beseitigen, wenn Versuche, dies durch vernunftgeleitete öffentliche Diskussion zu tun, von unnachgiebigen Eliten oder unzugänglichen Institutionenvereitelt werden.

Das Prinzip der Handlungsmacht: Militanz sollte die am unmittelbarsten betroffenen Menschen ermutigen, beim Prozess der Beseitigung der entsprechenden Missstände die Führung zu übernehmen.

Das Autonomieprinzip: Militanz sollte die Fähigkeit der Menschen, sich durch inklusive, vernunftgeleitete öffentliche Diskussion selbst zu regieren, erhöhen.

Das Rechenschaftsprinzip: Militanz sollte sich auf Handlungen beschränken, die öffentlich, plausibel und aufrichtig als förderlich für demokratische Werte wie allgemeiner Anstand und Gemeinwohlverteidigt werden können.


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