Keine A49

TIPPS BEI FESTNAHMEN

Festnahme und Inhaftierung (Gewahrsam) nach Polizeirecht


1. Einleitung
2. Festnahme und Inhaftierung (Gewahrsam) nach Polizeirecht
3. Festnahme und Haft nach Strafrecht
4. Vorläufige Festnahme bei Verdacht einer Straftat
5. Was bei jeder Festnahme, Vorladung und Polizeikontakt gilt ...
6. Beschwerdemöglichkeiten
7. Links und Materialien

Gewahrsam ist eine vorbeugende Inhaftierung, d.h. die betroffene Person wird gar nicht beschuldigt, etwas Strafbares gemacht zu haben, sondern ihr wird unterstellt, sie könnte das tun oder irgendwie anders die öffentliche Ordnung stören. Das ist natürlich ein übler Gummiparagraph. Urteile z.B. des Bundesverfassungsgerichts sagen aber immerhin klar, dass
  • die Polizei klare Gründe und Verdachtsmomente für bevorstehende Gefahren benennen muss und
  • unverzüglich, d.h. zum nächstmöglichen Zeitpunkt, eine richterliche Überprüfung (Anhörung und Beschlussfassung) erfolgen muss. Ohne diesen muss die festgenommene Peson spätestens am Ende des der Verhaftung folgenden Tages freigelassen werden.

Die Gewahrsamnahme dient (offiziell) dazu, Dich am Begehen von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zu hindern. Gewahrsam kann in den unterschiedlichen Bundesländern unterschiedlich lang dauern, aber du musst auf jeden Fall freigelassen werden, wenn der Anlass des Gewahrsams vorbei ist (z.B. der Castor durchgefahren ist oder du nicht mehr blockieren kannst, weil du zur Arbeit musst und das eindeutig nachweisen kannst). Die Polizei muss unverzüglich den Richter benachrichtigen, der dann in jedem Einzelfall über Zulässigkeit und Dauer des Gewahrsams (innerhalb der gesetzlich zulässigen Höchstzeiten) entscheiden muss. Unverzüglich wird von den Gerichten als ein „Zeitraum bis zu zwei Stunden“ definiert. Hält die Polizei diese Frist nicht ein, handelt sie rechtswidrig. Das heißt aber nicht, dass sie Euch dann laufen lassen muss - die Richtigkeit der Polizeimaßnahme könnt Ihr nur im Nachhinein per Verwaltungsgericht überprüfen lassen. Wichtig ist die Frage der Richtigkeit polizeilicher Maßnahmen auch bei Anzeigen gegen Euch, wenn die Polizei meint, Ihr hättet Euch gewehrt (Widerstand gegen die Staatsgewalt u.ä.). Das ist nämlich nur strafbar, wenn die Polizei auch alles richtig gemacht hat.
Hält die Polizei Euch ohne richterliche Entscheidung sogar länger als bis zum Ablauf des folgenden Tages fest, wird es zusätzlich verfassungswidrig.
Gewahrsam kann, wenn es im Polizeigesetz eines Landes so geregelt ist, auch verhängt werden, wenn Du Dich an einen bereits ausgesprochenen Platzverweis nicht hälst. Dummerweise muss dazu der Platzverweis nicht rechtmäßig sein, d.h. so kann die Polizei sich selbst einen Grund konstruieren, Dich mal wieder einzusacken. Wenn Du später vor einem Gericht Recht bekommen solltest, dass sie das nicht hätte tun dürfen - was stört es die Polizei. Sie wollte Dich in dem Moment weg haben, und das klappte ja, auch wenn es später als rechtswidrig dastehen sollte.

Als Beispiel sei hier das Hessische Sicherheits- und Ordnungsgesetz zitiert. Dort ist der Gewahrsam im § 32 geregelt:

Gründe für den Gewahrsam nach Wortlaut des § 32 HSOG
(1) Die Polizeibehörden können eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn dies
1. zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet,
2. unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern,
3. unerlässlich ist, um Maßnahmen nach den §§ 31 und 31a durchzusetzen, oder
4. unerlässlich ist, um private Rechte zu schützen und eine Festnahme und Vorführung der Person nach den §§ 229, 230 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches ohne polizeiliches Einschreiten zulässig wäre.
(2) Die Polizeibehörden können Minderjährige, die sich der Obhut der Sorgeberechtigten entzogen haben, in Gewahrsam nehmen, um sie den Sorgeberechtigten oder dem Jugendamt zuzuführen.
(3) Die Polizeibehörden können eine Person, die aus dem Vollzug von Untersuchungshaft, Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehender Maßregel der Besserung und Sicherung entwichen ist oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Justizvollzugsanstalt aufhält, in Gewahrsam nehmen und in die Anstalt zurückbringen.
(4) Die örtlichen Ordnungsbehörden und die Polizeibehörden können eine Person, für die die Voraussetzungen für eine sofortige vorläufige Unterbringung nach § 17 Abs. 1 Satz 1 des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes vom 4. Mai 2017 (GVBl. S. 66)vorliegen, vorläufig in Gewahrsam nehmen und in ein psychiatrisches Krankenhaus nach § 10 Abs. 1 bis 3 des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes oder im Falle einer somatischen Behandlungsbedürftigkeit vorübergehend in ein Allgemeinkrankenhaus bringen; § 17 Abs. 1 Satz 2 des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes und § 33 Abs. 1 Satz 2 gelten entsprechend. Sie können eine Person, die nach § 9 Abs. 1 oder § 17 Abs. 1 des Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes untergebracht ist und sich ohne Erlaubnis außerhalb des psychiatrischen Krankenhauses aufhält, dorthin zurückbringen.


Dazu der Hinweis: Im § 31 ist der Platzverweis geregelt (siehe Infos zu Polizeirecht), im 31a die Sache mit der Fußfessel. Wer sich an einen Platzverweis nicht hält, kann also in Gewahrsam genommen werden. Platzverweise sind TeilnehmerInnen von Demonstrationen allerdings nicht statthaft, zudem müssen sie begründet sein.

Zur Dauer des Gewahrsam steht das Wichtige im § 35
(1) Die fest gehaltene Person ist zu entlassen,
1. sobald der Grund für die Maßnahme der Gefahrenabwehr- oder der Polizeibehörde weggefallen ist,
2. spätestens vierundzwanzig Stunden nach dem Ergreifen, wenn sie nicht vorher der Richterin oder dem Richter zugeführt worden ist,
3. wenn die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung für unzulässig erklärt wird oder
4. in jedem Falle spätestens bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen, wenn nicht vorher die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung angeordnet ist.
In der richterlichen Entscheidung über eine Freiheitsentziehung aufgrund des § 32 Abs. 1 ist die höchstzulässige Dauer zu bestimmen. 3Sie darf
1. im Falle des § 32 Abs. 1 Nr. 2 sechs Tage,
2. im Falle des § 32 Abs. 1 Nr. 3, soweit es sich um Maßnahmen nach § 31a handelt, zehn Tage,
3. in den übrigen Fällen des § 32 Abs. 1 zwei Tage
nicht überschreiten.
(2) Eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Feststellung der Identität darf die Dauer von insgesamt zwölf Stunden nicht überschreiten.


Erklärung: Sechs Tage sind also zur Verhinderung möglicher Gefahren für die öffentliche Ordnung oder Straftaten möglich, sonst nur zwei (bei Fußfessel-Nichtbeachtung auch 10 Tage).
Achtung: Gesetzestexte und damit auch die Gewahrsamlänge werden immer wieder verändert. Einen aktuellen Überblick gibt es hier ...

Festnahme zur Identitätsfeststellung § 35, Abs. 2 HSOG
Eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Feststellung der Identität darf die Dauer von insgesamt zwölf Stunden nicht überschreiten.


Aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg, Az. 1A 338/10 MD vom 18.6.2012
Für die Frage, wann diese Erheblichkeitsschwelle überschritten ist, dürfen die Bestimmungen in Art. 5 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht ausser Acht gelassen werden. Danach darf die Freiheit eines Menschen nur in den darin explizit formulierten Fällen entzogen werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in seinem Urteil vom 24.03.2005 (77909101[Epple/Deutschland] - NVwZ 2006, 797) die bis dahin umstrittene Rechtsfrage geklärt, dass Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK ausschließlich Freiheitsentziehungen im Rahmen eines Strafverfahrens erlaubt. Bei der Begehung von Ordnungswidrigkeiten darf eine Freiheitsentziehung nur unter den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK erfolgen, namentlich dann, wenn der Betroffene "zur Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung" festgenommen oder in Haft gehalten wird. Auf dieser Grundlage ist nach dem genannten Urteil des EGMR eine Freiheitsentziehung nur dann gerechtfertigt, wenn die Verpflichtung, um die es geht, genau und konkret ist. Außerdem muss der Betroffene es versäumt haben, sie zu erfüllen, und die Festnahme und Haft müssen zum Ziel haben, die Erfüllung der Verpflichtung sicherzustellen. Schließlich muss ein Gleichgewicht hergestellt werden zwischen der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, die unvezügliche Erfüllung der fraglichen Verpflichtung zu erzwingen, und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit. ln diesem Licht muss das Verhalten eines Betroffenen geeignet sein, dass sein Freiheitsrecht unter der Erfüllung seiner Pflicht, nämlich versammlungsrechtliche Auflagen zu beachten, zurücksteht (vgl. Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, B. v. 27 .06.2007 - 2 L 158106 - zitiert nach: juris).

Aus BVerfG, 1 BvR 142/05 vom 8.3.2011
Die Vorschrift des § 163b Abs. 1 Satz 2 StPO lässt ein Festhalten zur Identitätsfeststellung nur zu, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Die Vorschrift stellt insofern eine gesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebots dar und soll sicherstellen, dass ein Eingriff in die persönliche Freiheit nur dann erfolgt, wenn er zur Feststellung der Identität unerlässlich ist. ...
Selbst wenn man in Bezug auf die Anordnung der Maßnahme mit dem Landgericht davon ausgeht, dass trotz eindeutig festgestellter Identität des Beschwerdeführers und aller anderen Personen die Erinnerung der einzelnen Polizisten als Zeugen vor Gericht aufgrund der Vielzahl an Personen ohne weitere Fotos möglicherweise nicht hinreichend gewährleistet gewesen wäre und es als Erinnerungsstütze noch ein Bedürfnis an weiteren im Strafprozess zu verwertenden Beweismitteln gab, rechtfertigt dies für die Durchführung jedenfalls nicht ein stundenlanges Festhalten und Einsperren des Beschwerdeführers auf verschiedenen Polizeiwachen.


Im Original: Freiheitsentziehung nach Polizeigesetz (präventiv)
Aus dem Landes-Polizeigesetz in Baden-Württemberg
§ 20 Befragung und Datenerhebung
(1) Die Polizei kann jede Person befragen, wenn anzunehmen ist, daß sie sachdienliche Angaben machen kann, die zur Wahrnehmung einer bestimmten polizeilichen Aufgabe erforderlich sind. Die Person ist dabei verpflichtet, Name, Vorname, Datum und Ort der Geburt, Wohnanschrift und Staatsangehörigkeit anzugeben. Dient die Befragung der Abwehr einer Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person oder für bedeutende fremde Sach- oder Vermögenswerte, ist die Person verpflichtet, über Satz 2 hinausgehende Angaben zu machen. § 9 a bleibt unberührt. Zur Verweigerung der Auskunft ist eine Person in entsprechender Anwendung von § 52 Abs.1 und 2 und § 55 der Strafprozessordnung berechtigt, soweit sie durch die Auskunft sich selbst oder einen Angehörigen der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden. Ein Auskunftsverweigerungsrecht nach Satz 5 besteht nicht, wenn die Auskunft für die Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person erforderlich ist. Die betroffene Person ist über ihr Recht zur Verweigerung der Auskunft zu belehren, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass ihr ein solches Recht zusteht. Besteht ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht, dürfen die aus der Befragung gewonnenen Auskünfte nur zur Abwehr der in Satz 6 genannten Gefahren weiter verarbeitet werden. Wird die Auskunft unberechtigt verweigert, kann ein Zwangsgeld festgesetzt werden. Dieses ist zuvor in bestimmter Höhe anzudrohen. Für die Dauer der Befragung kann die Person angehalten werden.


Aus dem Hessischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (HSOG)
§ 12 Befragung und Auskunftspflicht
(1) Die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörden können eine Person befragen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass die Person sachdienliche Angaben zur Aufklärung des Sachverhalts in einer bestimmten gefahrenabwehrbehördlichen oder polizeilichen Angelegenheit machen kann. Im Fall der Abwehr einer Gefahr kann sie zum Zwecke der Befragung angehalten werden.
(2) Eine Auskunftspflicht besteht für die in den §§ 6 und 7 genannten, unter den Voraussetzungen des § 9 auch für die dort genannten Personen. Unter den in den §§ 52 bis 55 der Strafprozessordnung genannten Voraussetzungen ist die betroffene Person zur Verweigerung der Auskunft berechtigt. Dies gilt nicht, wenn die Auskunft für die Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist. Auskünfte, die gemäß Satz 3 erlangt wurden, dürfen nur zu Zwecken der Gefahrenabwehr nach § 1 Abs. 1 und 4 verwendet werden. Die betroffene Person ist über ihr Recht zur Verweigerung der Auskunft zu belehren.


Unterbringung
Gewahrsam ist keine Haft im strafrechtlichen Sinne, also weder Strafhaft (nach einer Verurteilung) noch Abschiebe- oder Untersuchungshaft. Es ist auch keine Ersatzfreiheitsstrafe, Beugehaft (z.B. um Geldzahlung eine Aussage vor Gericht zu "erpressen"). Daher ist die Unterbringung in den Justizvollzugsanstalten (Knast) nicht möglich. Das ist allerdings den Polizeischergen oft selbst nicht bekannt (siehe Gewahrsam am 14.5.2006 in der JVA Gießen und am 18.5.2006 in der JVA Preungesheim - beides war unzulässig).

Für Gewahrsam muss mensch bei der Polizei untergebracht werden. Für einige Stunden geht das überall. Für mehrtägige Unterbringung ist in Hessen z.B. das zentrale Polizeigewahrsam im Polizeipräsidium Frankfurt, Adickesallee (Ecke Miquelalle) zuständig. Dort gibt es die langen Flure für normalen Gewahrsam (für den Raum Frankfurt), die Gefangenensammelstelle (z.B. bei Demonstrationen und sonstigen besonderen Anlässen) sowie den zentralen Gewahrsam für mehrtägige Unterbringung, wo auch Abschiebehäftlinge einsitzen und auf ihre Abschiebung warten.

Zentrales Polizeigewahrsam
Adickesallee 70, 60322 Frankfurt
Tel. 069/755-45450
Besuchszeiten: Di, Do, Sa, So

Polizeipräsidium Gießen
Ferniestr. 8, 35394 Gießen
Tel. 0641/7006-0 oder -3555

  • Tipps vom Legal-Team im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel 2008

Gründe für Gewahrsam
  • Wage Gründe reichen nicht (Urteil vom Castorprotest)
  • Gewahrsam ist politisches Kampfmittel - Beispiel: Aufforderung von Innenminister Schäuble, unerwünschte Personen durch mehrtägigen Gewahrsam vom G8-Protest auszuschließen, in: Junge Welt, 12.5.2007 (S. 1)

Aus "Gewahrsam als letztes Mittel gegen die Letzte Generation?", auf: Verfassungsblog am 24.11.2022
Ein präventiver Gewahrsam, der Monate dauert, kann – auch wenn er richterlich angeordnet wird – verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden. Der polizeiliche Gewahrsam fällt unter den verfassungsrechtlichen Begriff der Freiheitsentziehung gemäß Art. 104 Abs. 2 GG. Zwar folgt die Verfassungswidrigkeit eines einen oder mehrere Monate andauernden Gewahrsams nicht aus Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG, der eine Höchstdauer von 48 Stunden für Freiheitsentziehungen vorsieht, die die Polizei „aus eigener Machtvollkommenheit“ anordnet. Ein längerfristiger präventiver Gewahrsam verstößt aber gegen das Grundrecht der Freiheit der Person i.V.m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (BVerfGE 109, 190/220). ...
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betont regelmäßig, dass die Dauer des Präventivgewahrsams in der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden muss. In seiner neueren Rechtsprechung hat er bereits bei einer Haftdauer von wenigen Stunden deren Verhältnismäßigkeit eingehend thematisiert (EGMR, Urteil vom 22.10.2018, S., V. u. A. ./. DEN, Nr. 35553/12 u. a., Rn. 161 ff.). Damit wird nochmals der enge zeitliche Rahmen betont, den der Gerichtshof dem Präventivgewahrsam zieht. Eine Haftdauer von mehreren Wochen oder gar Monaten wird diesen Rahmen kaum wahren können. ...
Die Voraussetzung der unmittelbaren bevorstehenden Begehung verlangt eine besondere zeitliche Nähe der befürchteten Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Bei der Ankündigung weiterer Protestaktionen für denselben Tag, die möglicherweise ebenfalls Straftatbestände erfüllen, könnte eine solche als gegeben angesehen werden. Von einer unmittelbar bevorstehenden Begehung kann aber keinesfalls für einen mehrtätigen oder gar mehrwöchigen Zeitraum ausgegangen werden. ...
Fazit: Die pauschale Ausschöpfung der Höchstgrenze des Gewahrsams im Fall des Vorgehens gegen Aktivistinnen der Münchener Klimaproteste ist von der – ohnehin rechtlich bedenklichen – Rechtsgrundlage im bayerischen Polizeigesetz nicht gedeckt.

Beispiele für Gewahrsam
Gießen ist für besonders dreiste Rechtsbeugungen und Polizeirepression bekannt. Ein Grund sind penetrante Polizei- und JustizkritikerInnen, die (auch ohne Unterstützung durch Eliten aus dem BildungsbürgerInnentum, die sich aus Angst oder wegen Bejahung von Herrschaftsinstitutionen, Parteien usw. abwenden) seit Jahren Polizei und Justiz offen kritisieren. Ein anderer ist, dass hier der hessische Law-and-Order-Innenminister Bouffier wohnt und Ruhe will in seiner Experimentierstadt für die Zuspitzung einer autoritären Gesellschaft.
  • 9.12.2003: 12 TeilnehmerInnen einer Gedichtelesung vor der Staatsanwaltschaft Gießen werden verhaftet und fast einen Tag festgehalten. Als es keine Gründe für einen Gewahrsam gab, dachte sich die Polizei eine Straftat aus und erfand sogar selbst einen Brandsatz, von dem sie dann behauptete, ihn bei den Lesenden gefunden zu haben!
  • 14.5.2006: Spektakuläre Verhaftungen, üble Lügen von Polizei und Richter sowie eine ganz krude mehrtätige Gewahrsamnahme
  • 3.6.2006: Erneute krude Gewahrsamnahme nach Polizeilügen wegen Gen-Feldbefreiung in Gießen

Qualität des Gewahrsams
Oftmals werden Menschen im Polizeigewahrsam noch schlechter "gehalten" wie im Knast - ohne Stift und Papier, Kontakt zu anderen Menschen usw. In Gießen (Polizeipräsidium, Ferniestr. 8) wird alles abgenommen, was mensch bei sich trägt, vom Taschentusch über Lippenstift, Essen, Schreibzeug bis hin zur Brille, so dass in der Folge nicht übrig bleibt, als stumpf in der gekachelten Zelle zu sitzen und auf das Ende der Isolation und erzwungenden Langeweile zu warten.

Das Bundesverfassungsgericht hat auf Beschwerde einer Castor-Gegnerin eine solche Form für verfassungswidrig erklärt, wenn kein besonderer Grund für die jeweilige Schärfe des Einsperrens gegeben oder benannt wird.

Im Original: Aus dem dazugehörigen Urteil (2 BvR 447/05)
Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung von Art. 1 Abs. 1, Art. 2, Art. 8 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2, Art. 103 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 1, 2 und 4 GG. ... Schließlich sei durch die Art und Weise der Freiheitsentziehung auch Art. 104 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und 2, Art. 1 Abs. 1 GG verletzt worden. Es sei nicht erforderlich gewesen, den Gefangenen die Mobiltelefone, das Schreibzeug und die mitgebrachte Verpflegung abzunehmen. Auch der weitere Verlauf der Gewahrsamnahme sei nicht hinnehmbar gewesen. Die Beschwerdeführerin sei zunächst etwa zwei Stunden auf einem Feld in einem Polizeikessel festgehalten worden. Danach – etwa gegen 13.00 Uhr – sei sie mit 30 Mitgefangenen auf einen Gefangenentransporter verladen und dort in einer Viererzelle mit einer Größe von etwa 2 qm untergebracht worden. Der Transporter habe noch geraume Zeit auf dem Feld gestanden, ehe er auf Umwegen nach Neu Tramm bei Dannenberg gefahren worden sei. Dort sei er zunächst auf dem Hof einer ehemaligen Kaserne, die als Gefangenensammelstelle gedient habe, abgestellt worden, ohne dass etwas geschehen sei. Erst nachdem sich die gefangenen Insassen mit Klopfen und Rufen bemerkbar gemacht hätten, seien die Türen des Gefangenentransporters geöffnet worden. Danach sei ihnen erstmals die Toilettenbenutzung erlaubt worden, wobei es keine Gelegenheit zum Händewaschen gegeben habe. Im Anschluss – mittlerweile sei es nach 15.00 Uhr gewesen – hätten die Beamten ihnen erstmals Getränke sowie einige Äpfel und Schokoriegel gebracht, die jedoch nicht für alle Gefangenen ausgereicht hätten. Nach langen Diskussionen seien sie und die weiteren Insassen des Gefangenentransporters bei der Abarbeitung in der Gefangenensammelstelle vorgezogen worden, so dass um 16.35 Uhr ihre erstmalige Erfassung erfolgt sei. In der Gefangenensammelstelle sei sie dann nochmals erkennungsdienstlich behandelt worden. Sie sei erneut fotografiert und körperlich durchsucht worden. Ihre Daten seien in ein vorgefertigtes Formular einer allgemeinen Gefahrenprognose aus Anlass des bevorstehenden Castor-Transportes eingefügt worden. Danach habe sie erstmals eine richtige Toilette mit Wasseranschluss aufsuchen dürfen. Sodann sei sie in eine Massenzelle in einer Fahrzeughalle der ehemaligen Kaserne verbracht worden, in der über hundert Personen gefangen gehalten worden seien. Sie habe dort nur eine sehr dünne Isomatte und eine einzige Wolldecke bekommen. Die Luft in der Zelle sei staubig gewesen. Außerdem sei die Zelle nur sporadisch mit einem Gebläse beheizt worden, so dass es abwechselnd zu heiß oder zu kalt gewesen sei. Sie habe wegen ihres Asthmaleidens Probleme mit der Atmung gehabt. Gegen 23.00 Uhr sei Essen ausgeteilt worden, das jedoch bereits vergoren und deshalb ungenießbar gewesen sei. Erst nach 23.00 Uhr sei ihr dann ein weiteres Telefonat ermöglicht worden, um ihrer Familie mitzuteilen, dass sie über Nacht bleiben und daher die Kinderbetreuung anderweitig organisiert werden müsse. Schließlich sei die Nachtruhe durch ständige polizeiliche Beobachtungen, Lärm und Aufrufe von Gefangenen nachhaltig gestört worden. Nachdem sie am Morgen nach 9.00 Uhr das Kasernengelände verlassen habe, habe sie ihren Heimweg selbst organisieren müssen. Öffentliche Verkehrsmittel hätten dort nicht verkehrt. Die gesamte Behandlung habe den Eindruck einer Ersatzbestrafung gemacht. ...
Das Gebot effektiven Rechtsschutzes haben Amtsgericht und Landgericht - unabhängig von den Einwänden gegen den angewendeten Prüfungsmaßstab - durch die Art und Weise ihrer Befassung mit dem Rechtsschutzbegehren der Beschwerdeführerin verletzt.
Das Amtsgericht hat sich einer konkreten Rechtsanwendung entzogen, indem es - gestützt auf eine "wohlwollende Auslegung" der Gewahrsamsordnung der Polizei - eine allgemeine Würdigung der polizeilichen Bemühungen vorgenommen hat. Das Landgericht hat das von seinem eigenen rechtlichen Ansatz aus erforderliche Prüfprogramm nicht eingehalten und das Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht ernsthaft geprüft, sondern seine Entscheidung lediglich auf eine pauschalierende, in tatsächlicher Hinsicht nicht tragfähige Würdigung gestützt. Die Beschwerdeführerin hat gerügt, dass die Art und Weise des Vollzuges des Gewahrsams einer Ersatzbestrafung gleichgekommen sei. Diesem Vorbringen ist immanent, dass bessere Bedingungen des Vollzuges durch eine sachgerechte Planung, eine bessere Organisation und Koordinierung wie auch durch eine anderweitige Unterbringung möglich gewesen seien. Den damit von der Beschwerdeführerin in tatsächlicher Hinsicht aufgeworfenen Fragen sind die Gerichte nicht nachgegangen. Ihnen hätte es oblegen, die Gründe für die Auswahl des Standorts der Gefangenensammelstelle, deren Kapazitätsgestaltung und die Frage einer zureichenden Ausstattung ausgehend von einer ex-ante Sicht zu ermitteln und unter Berücksichtigung der behördlicherseits geltend gemachten Belange sowie behördlicher Prognose- und Ermessensspielräume zu würdigen. Hierbei ist auch erheblich, ob bei sich andeutenden Überlastungen alternative Unterbringungsmöglichkeiten bestanden und solche in Betracht gezogen wurden. Im Übrigen wäre eine konkrete Analyse der von der Beschwerdeführerin angeführten Beanstandungen unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit und Vermeidbarkeit vorzunehmen gewesen. Dies bedingt eine Aufklärung der konkreten Verhältnisse des Gewahrsamsvollzuges, woran es vorliegend ebenfalls fehlt. Hinzu kommt, dass das Landgericht sich bei seinem Hinweis, die Teilnehmer der Sitzblockade hätten sich auf die Unannehmlichkeiten durch sachgerechte Kleidung sowie die Mitnahme von Isoliermatten und entsprechender Verpflegung einstellen können, nicht auf unbestrittene oder festgestellte Tatsachen stützen kann. Die Beschwerdeführerin hat gerade vorgetragen, dass die in Gewahrsam genommenen Personen die eigene Verpflegung wie auch mitgeführte Gegenstände nicht mit in die Gewahrsamzelle nehmen durften. Eine Grundlage für gegenteilige Feststellungen ist nicht ersichtlich.



Tipps

Besonderheiten bei Demonstrationen
  • Demonstration: Hier gilt für AnmelderInnen/LeiterInnen sowie für alle TeilnehmerInnen immer das Versammlungsrecht. Da dieses auf Grundrechten aufbaut (Versammlungsfreiheit) und ein Spezialgesetz ist, steht es über dem allgemeinen Straßenverkehrs- und Polizeirecht. Das schränkt die Möglichkeiten der Polizei, jemanden festzunehmen, stark ein - Platzverweis und Gewahrsam geht regelmäßig gar nicht. Mehr siehe unter Demorecht ...

Unberechtigter Gewahrsam - was tun?

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