Keine A49

ANARCHIE

Sein. Schein. Wirklichkeit: Who is who im deutschsprachigen Anarchismus?


1. Sein. Schein. Wirklichkeit: Who is who im deutschsprachigen Anarchismus?
2. ArbeiterInnenkampf und Syndikalismus
3. Graswurzelanarchismus und gewaltfreie Aktion
4. Libertäre Basisgruppen und Einzelpersonen ohne ständige (Groß-)Gruppe
5. Anarcho-Primitivismus und verwandte Richtungen
6. Anarchie als Lebensabschnittsgefährlichkeit: Lifestyle und modisches Protestdesign
7. Weitere Richtungen

Ein Text im Buch "Anarchie. Träume, Kampf und Krampf im deutschen Anarchismus" (Gliederung)

Bevor es losgeht, gleich eine Relativierung: Selbst wer die SPD, Greenpeace oder EADS beschreibt, muss - um nicht ein mehrbändiges Werk zu produzieren - vereinfachen. Dargestellt werden die hegemonialen Kreise einer Partei, eines Verbandes oder einer Firma, während Abweichungen im Unterbau in den Beschreibungen verlorengehen. Insofern ist jeder Versuch, eine große und komplexe Struktur in Worte zu fassen, mit Vereinfachungen verbunden.
Das gilt umso mehr, wenn ein Zusammenhang stark zersplittert ist und durchschlagskräftige Hierarchien fehlen. So ist es mit den anarchistischen Gruppen und Strömungen im deutschsprachigen Raum. Überregional sichtbar sind nur sehr wenige. Diese bedienen sich nur geringerer Machtressourcen zur Steuerung von Basisgruppen und AkteurInnen, sondern erzeugen ihre relative Dominanz aus der Vereinnahmung. Sie verfügen in der Regel über überlegene Außendarstellungsmöglichkeiten und inszenieren sich damit selbst als Sprachrohr von Bewegungen, die mit den für sie Sprechenden kaum vernetzt sind oder diese nicht einmal kennen.

Nur eines eint alle AnarchistInnen im deutschsprachigen Raum: Sie leben in einer Region der Welt, in der bereits staatkritische Positionen unter Generalverdacht des Revolutionären oder gar des Terrorismus stehen. Stattdessen treten politische Organisationen für mehr Regulierung, Überwachung und Stärkung von Regierungen ein. Bei ihnen gilt das bestehende Staatssystem als Inbegriff des Guten - selbst dann, wenn sie ziemlich offensichtlich seine Opfer sind. "Demokratisch" ist erstrebenswert, "undemokratisch" ein Schimpfwort. Unter solchem Paradigma des Guten in demokratischen Bomben, Strafen oder Abschiebungen haben es anarchistische Ideen von Grund auf schwer. Die Folge: Anarchistische Strömungen im deutschsprachigen Raum sind klein und wirken kaum über ihren eigenen Tellerrand hinaus - mit Ausnahme einzelner, medial aufbereiteter Aktionen z.B. militanter Gruppen oder der, unter Verrat vieler anarchistischer Ideen, bis tief ins bürgerliche Lager hinein mobilisierenden großen Bewegungsagenturen. Als dauerhafter Prozess oder längerfristiges Projekte fristen sie ein Schattendasein. Sie haben nur die Wahl, sich als grundlegende Opposition außerhalb jeglichen gesellschaftlichen Mainstreams zu stellen, oder selbst mit dem Diskurs des demokratischen Guten mitzuschwimmen. Zweiteres ist weit verbreitet. Die meisten AnarchistInnen beziehen sich in Theorie und Praxis positiv auf die Demokratie bis hin zu der Behauptung, Anarchie sei die höchste Entwicklungsstufe der Demokratie. Der Wunsch, im Mainstream mitschwimmen und an seinen Pfründen partizipieren zu können, treibt diese seltsamen Blüten.

Im Folgenden sollen erkennbare, anarchistische Strömungen beschrieben werden. Zwecks Übersichtlichkeit werden etliche "Schubladen" aus ihnen gebildet. Zwei davon haben solche Zusammenschlüsse selbst gebildet und agieren unter einheitlichen Labeln. Diese umfassen zumindest den Großteil der zu der jeweiligen Art von Anarchismus gehörigen AkteurInnen. Die anderen Einheiten sollen hier etwas künstlich gebildet werden. Sie verfügen über keinen gemeinsamen Organisationsaufbau und ihre Teile sind mitunter nicht einmal miteinander vernetzt. Das ist aber nicht nur Zufall, sondern zum Teil gewollt und so bereits eines der Unterscheidungsmerkmale. Während einige AnarchistInnen verbindliche Organisationsstrukturen befürworten und sogar für einen effizienten Kampf um gesellschaftliche Veränderungen für notwendig erachten, lehnen andere genau das ab und verweisen auf die Vorteile einer hohen Autonomie der Einzelteile (die dann allerdings praktisch oft in Isolierung voneinander mündet).

Die Kritik an Theorie und Praxis des Anarchismus im deutschsprachigen Raum soll in diesen ersten Beschreibungen noch nicht konkret erfolgen. Stattdessen werden die bestehenden Organisationen und Strömungen mit ihrem Verhältnis zu zentralen Fragen des Anarchismus benannt in einer Form, die einen ersten Überblick bietet. Erst in den weiteren Kapiteln folgt dann eine Analyse von Positionen und Praxis, vor allem in Hinblick auf den emanzipatorischen Gehalt anarchistischer Organisierung. Das geschieht dann nicht mehr aufgeteilt in die verschiedenen Ausrichtungen des Anarchismus.

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