Keine A49

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

„Es gibt eine gewisse Eigenverantwortung“


1. Die Kapitel des Fragend-voran-Büchleins
2. Wieso straft Mensch?
3. Von Orten der Gewalt und bösen Taten
4. Strafe – die gute Gewalt
5. Im Namen des Rechts und der Gerechtigkeit
6. Der offizielle Strafzweck
7. Das grosse Ziel
8. Was ich eigentlich sagen wollte...
9. „Es gibt eine gewisse Eigenverantwortung“
10. „Wenn nichts mehr geschützt ist, kann nichts mehr gelebt werden“
11. „Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Prozess“
12. Eine gewaltfreie Welt ... und wie man das nicht erreicht
13. Versuch über Perspektiven
14. Impressum

Sylvia Frei-Hasler ist Rechtsanwältin in Winterthur und Bundesstrafrichterin in Bellinzona, nominiert von der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

Als ich heute nach Winterthur fuhr, sass ich in einem Zug der dem Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt gewidmet war. Überall waren Zitate von ihm angebracht. Eines davon lautete, „Unrecht geschieht nicht, aber Furchtbares“. Sie haben mit Ihrer Arbeit täglich mit Unrecht zu tun – stimmen Sie dem zu?
(zögert) Nein, ich würde dieser Aussage so nicht zustimmen. Ich glaube durchaus, dass Unrecht geschieht, aber nicht nur, weil sich jemand gesetzeswidrig verhält. Es kann auch Unrecht geschehen, weil das Gesetz einen Fall nicht vorgesehen hat. Dann ist das Recht lückenhaft. Unrecht kann aber auch geschehen, ohne dass das Gesetz verletzt wird, so etwa durch Verletzung von Moralvorgaben oder Ethik.

Und wer bestimmt, was ein Unrecht ist?
Dies ist eine ethische Frage – wie die der Todesstrafe. Auf unserem Planeten leben verhältnismässig viele verschiedene Menschen zusammen. Daher gilt es eine Art Katalog mit allen ethischen, moralischen oder religiösen Grundsätzen aufzustellen. Man muss einen Bereich festlegen, wo man sagen kann, ausserhalb dieser Grenzen ist eine Handlung nicht mehr tolerierbar. Aber ob man nichts vergisst oder zu viel vom weissen in den schwarzen Bereich verlegt, ist nicht mathematisch messbar. Ich denke aber, es braucht gewisse Regeln. Ansonsten funktioniert das Zusammenleben nicht mehr.

Und wem steht es zu, zu bestimmen, was Gesetz ist?
Dem Gesetzgeber. Wer auch immer das ist – je nach dem wie der Staat gestaltet ist. Es können nicht alle Leute Gesetze machen, deshalb braucht es ein gesetzgebendes Gremium. Aber es muss die Möglichkeit bestehen, sich gegen bestehende oder geplante Gesetze zu wehren und einzumischen. Bei uns hat man die Möglichkeit, das Referendum zu ergreifen sowie das Initiativrecht – man kann etwas ins Rollen bringen, wenn man der Meinung ist, dass es auch geregelt werden muss.

Gesetzgeber ist also letztendlich das Volk. Respektive die Mehrheit des Volkes. Wieso hat diese Mehrheit das Anrecht, das Recht nach seinen Interessen zu gestalten?
Das gehört zur persönlichen Freiheit. Das Initiativrecht ist ein Ausfluss der persönlichen Freiheit.

Und wenn dies auf Kosten der persönlichen Freiheit anderer geschieht?
Das kann tatsächlich geschehen. Deshalb müssen alle darüber entscheiden können. Nicht nur der Initiant. Man muss ein neues Gesetz dem Volk vorlegen um zu sehen, wollen es alle, oder will es nur einer.

Und wenn das Volk gespalten ist?
Dann muss man sich der Mehrheit beugen. Ich denke, damit ein gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert, ist es ein Grundgesetz, dass sich die Minderheit der Mehrheit beugen muss. Wenn die Mehrheit etwas will, muss sich die Minderheit fügen.

Und wenn sie dies nicht tut?
Dann eckt sie womöglich bei der Mehrheit an. Eine Folge kann sein, dass jemand ausgeschlossen wird, indem er zu einem Einsiedler wird. Und wenn er sich gesetzeswidrig verhält, wird er bestraft. Wenn jemand sagt, „ich kümmere mich nicht darum – und schade auch niemandem“, so kann er für sich dieses Leben leben, sofern er keine Drittperson mit einbezieht.[1]

Gibt es nicht auch Handlungen, die von der Mehrheit ausgehen und dem einzelnen schaden, der einer Minderheit angehört?
Selbstverständlich. Deshalb gibt es in solchen Fällen eine Opposition, ein Auf-lehnen dagegen. Zu recht – um zu versuchen, dieser Mehrheit entgegenzuwirken und sie davon zu überzeugen, dass ihr Verhalten falsch ist.

Und wenn es für die Mehrheit richtig ist?
Dann hat die Minderheit es nicht geschafft, die Mehrheit zu überzeugen. Dann bleibt es dabei.

Gibt es in diesem Fall Gerechtigkeit?
Dies ist eine sehr heikle Frage. Es gibt mit Sicherheit Gerechtigkeit. Auch Gesetze können gerecht sein. Aber man darf sich keine Illusionen machen – wir haben kein Einzelfall-Gesetz. Das wäre unmöglich. Recht ist nicht immer gerecht – dessen bin ich mir bewusst. Im Strafrecht gibt es am ehesten eine Einzelfall-Gerechtigkeit, indem man die Strafhöhe unter Einbezug der Hintergründe und Beweggründe eines Täters abstimmt und versucht, täter- und opfergerecht zu entscheiden.

Sie sagen „opfergerecht“. Hat Strafe für Sie etwas mit Vergeltung zu tun?
Nein, aber das Opfer muss ernstgenommen werden. Es darf nicht den Eindruck entstehen, es sei selber schuld für das, was geschehen ist. Ich bin nicht der Meinung, dass ein Opfer primär das Anrecht auf Vergeltung hat. Die auf den Täter entfallende Strafe ist losgelöst vom Opfer. Natürlich ist die Strafhöhe nicht losgelöst von der Tat, da jede Straftat einen Strafrahmen vorgibt. Ein Täter soll aber nicht primär bestraft werden, damit das Opfer seine Genugtuung hat. Diese erhält das Opfer in Form einer Entschädigung.

Und was ist der Sinn einer Bestrafung?
Eine Bestrafung ist einerseits Strafe, der Täter muss erkennen, dass es Konsequenzen hat, wenn er etwas Verbotenes tut, dies ist der Strafzweck. Andererseits geht man aber auch davon aus, dass ein Täter aus seiner Strafe etwas lernt und sich wieder eingliedern kann, dies ist der Resozialisierungszweck. Aber hier stösst der Strafvollzug an seine Grenzen.

Martin Pfunder, der ehemalige Direktor der Strafanstalt Lenzburg, sagt, dass jede Gefängnisstrafe, die länger als sieben Jahre dauert, einzig kontraproduktiv ist. Wieso werden trotzdem längere Strafen ausgesprochen?[2]
Ich denke, sofern die Hoffnung besteht, dass ein Täter oder eine Täterin sich bessert, wiedereingliedert und Reue zeigt, versucht man sicherlich, die Strafdauer an der unteren Grenze festzulegen. Eine langjährige Freiheitsstrafe dient sicher nicht dazu, dass sich ein Täter bessert. Wenn man die Gefängnisregime kennt, so weiss man, wie man sich dort behaupten muss. Aber es gibt Verbrechen, die so furchtbar sind und der Täter weder Einsicht noch Reue zeigt, dass man gar keine Ermessensmöglichkeiten mehr hat. Dann hat das Verbüssen einer Freiheitsstrafe nur noch Strafcharakter.

Mit dem Zweck, die Bevölkerung zu schützen.
Ja. Irgendwann schlägt es um, so dass man nur noch diesen Zweck erreichen kann. Deshalb hat man auch als ultima ratio das Institut der Verwahrung. Wenn man weiss, dass ein Täter sich nicht bessern kann oder will und immer wieder in dasselbe Muster zurückkehren wird, so geht es nur noch um den Schutz unbeteiligter Drittpersonen.

Das Gefängnis soll im Idealfall einen Täter wieder eingliedern. Wieso haben wir dennoch so erschreckend hohe Rückfallquoten?
Dies hängt mit den verschiedenen Tätergruppen zusammen. Es gibt den einen, der einmal einen Mist baut und ins Messer läuft, der wird so was nie wieder tun. Ein anderer hat zum Beispiel aus dem Affekt heraus jemanden getötet. Der wird dies auch nicht mehr tun, weil seine Tat mit ganz speziellen Konstellationen des menschlichen Umfeldes zusammenhängt. Aber es gibt den anderen, der womöglich „asozial“ ist. Der sich nicht im geringsten um ein Gesetz kümmert. Oder es gibt jemanden, der von seiner Sucht nicht loskommt. Die Rückfallgefahr ist somit überwiegend täterabhängig. Mit den Genen wird dies wahrscheinlich nichts zu tun haben, aber wer einmal auf eine solche Bahn geraten ist und andere Wert- und Moralvorstellungen hat, ist, denke ich, rückfallgefährdeter. Daher kommen die grossen Zahlen.

Wieso geschehen Straftaten? Sind dies böse Menschen, die Ihrem Umfeld schaden zufügen wollen?
Nein. So vereinfacht kann dies nicht ausgedrückt werden. Es ist nicht ein Mensch einfach böse und ein anderer gut. In vielen Fällen, die mir als Verteidigerin begegneten, geschah die Tat aus Gedankenlosigkeit und zufolge Verlust bestimmter ethischer oder moralischer Wertvorstellungen. Zum Beispiel Menschen, die sagen „wenn der genug Geld hat, kann er mir auch etwas abgeben – sonst hol ich es mir eben“. Wenn man diesen Menschen begegnet kann man nicht einfach sagen, dies sind schlechte Menschen. Sie haben aber offenbar andere Wert- oder Moralvorstellungen als die Mehrheit, keinen Respekt vor dem Eigentum anderer zum Beispiel. Auf der anderen Seite gibt es wohl auch Menschen, welche anderen bloss Schaden zufügen wollen, dann könnte man sie allenfalls als „böse“ Menschen bezeichnen.

Liegt die Schuld für eine Tat in jedem Fall beim Täter?
Nein, nicht nur. Deshalb gibt es Instrumente um die Strafe zu mildern, wenn der Täter provoziert wurde, wenn er aus Notwehr oder Notstand handelte. Insbesondere bei Tötungsdelikten können wir zwischen vorsätzlicher Tötung, Totschlag oder Mord[3] unterscheiden. Je nach Ursache. Auch bei Sexualdelikten muss man sich bewusst sein, dass der Täter zuweilen auch durch bestimmte Umstände provoziert wurde.

Ist der Täter nicht in jedem Fall provoziert, wodurch die Tat überhaupt ausgelöst wird?
Ich denke nicht. Wenn jemand in ein Einfamilienhaus einbricht um an Geld zu kommen, provoziert ihn dieses Haus wohl kaum.

Nein, aber möglicherweise die Situation, in der er sich befindet. Die Provokation muss nicht unbedingt vom Opfer ausgehen.
Das gibt es natürlich: Ein Täter, der durch seine gesellschaftliche Situation zu einer gesetzeswidrigen Handlung provoziert wird. Dies ist ein häufiger Mechanismus. Dann kommt er in die Teufelsküche und steht vor immer mehr Problemen. Es ist aber nicht entschuldbar, wenn er sich in diese Situation getrieben hat.

Ist es der Täter, der sich in diese Situation getrieben hat?
Nicht in jedem Fall. Aber es gibt eine gewisse Eigenverantwortung. Man kann nicht jede Tat auf andere abschieben.

Wieso wird der eine straffällig und der andere nicht?
Dies hängt sehr stark vom Charakter und den Wertvorstellungen des Einzelnen ab und auch von seinem Umfeld, denke ich. Ob er die Moralvorstellungen der Gesellschaft akzeptiert und sich auf einem legalen Weg über Wasser hält – oder ob er sich über diese Grenzen hinwegsetzt.

Und letzteres ist falsch?
Ja, wenn er anderen Schaden zufügt, die für seine Situation nicht verantwortlich sind und er durch diese nicht provoziert wurde, empfinde ich dies als falsch.

Und wenn er durch die Gesellschaft provoziert wird? Ein Beispiel: Jemand hat bereits während seiner Kindheit und in der Schule Mühe, akzeptiert zu werden, wird ausgegrenzt, gerät in bestimmte soziale Kreise und kriegt immer wieder zu spüren, dass er weniger privilegiert ist, dass er einer Unterschicht angehört. Gibt es diese unbeteiligten Drittpersonen überhaupt?
Nun, in solchen Fällen wird es schwierig. Aber dann kommen wir dorthin, wo jeder selber Vergeltung ausübt, weil er sich ungerecht behandelt fühlt. Da sind wir in einem Bereich, wo man sagt, „wenn das jeder würde...“. Dennoch, ich sage immer wieder, es gibt tragische Lebenssituationen, wo ich diese Menschen verstehe. Auf der anderen Seite, ich bin mittlerweile fünfzig Jahre alt, denke ich, dass jeder sein Leben selbst in die Hand nehmen muss. Er kann nicht immer alles auf die anderen abschieben. Es gibt tragische Lebenssituationen, keine Frage. Aber unter diesen gibt es einen Grossteil, die sich auffangen und sich an das Gesetz halten.

Ist nicht jede Lebensbahn eines Menschen, die ins Gefängnis führt, tragisch?
Nein. (Pause) Nein, es gibt auch bestandene Geschäftsleute, die zum Beispiel grössenwahnsinnig werden und manipulieren, weil ihnen das Einkommen nicht mehr reicht. Aber sie hatten keine tragischen Lebensumstände.

Als Frau in Richterposition sind sie keine Mehrheit. Ebenso werden die meisten Straftaten von Männern begangen. Wie erklären Sie sich dies?
Meiner Ansicht nach gibt es Gründe dafür. Es hat mit dem Unterschied zwischen Mann und Frau zu tun. Männer sind aggressiver und gewaltbereiter als Frauen.

Genetisch bestimmt, also?

Dies hängt sicherlich nicht nur von den Genen ab, aber es ist auch eine Erklärung dafür.

Als Richterin entscheiden Sie über Recht und Unrecht. Oft sind sich aber nicht alle Richter einer Meinung – wem steht es hier wirklich zu, die Entscheidung zu fällen? Seine Sicht der Dinge über die der anderen zu stellen?
Ich sage nicht, dass es mir zusteht, über jemanden anderes zu richten. Aber es gibt ein Gesetz, welches gewisse Taten unter Strafe stellt und ich bin von der Bundesversammlung gewählt worden, dieses Gesetz anzuwenden und jemanden zu bestrafen, der dagegen verstösst. Und wenn ich, nach dem ich alles abgewogen habe, zum Schluss komme, dass gegen dieses Gesetz verstossen wurde, glaube ich, dass ich sagen darf, „das Gesetz sieht folgende Sanktionen vor, ich darf diese anwenden und werde sie aussprechen“. Aber immer nach bestem Wissen und Gewissen und nachdem ich überzeugt bin, dass ich alles berücksichtigt habe.

Haben Sie einen Wunsch, wie sich unser Rechtssystem noch entwickeln sollte, damit es mehr in Richtung Gerechtigkeit geht? Ist dies überhaupt ein Ziel?
Das ist schwierig. Was die Straftatbestände angeht ist es grundsätzlich in Ordnung. Natürlich gibt es je nach dem wie sich die Welt entwickelt gewisse Straftatbestände, die man hinzufügen muss, weil es das früher nicht gab. Wo es aber eine Entwicklung braucht, das ist bei den Strafen und Massnahmen und beim Straf- und Massnahmenvollzug. Dort muss man sich entwickeln, damit wir nicht dort bleiben, wo wir vor 50 Jahren standen. Dort muss man ansetzen – und das wird heute weitestgehend nach Möglichkeit auch gemacht.

[1] Dazu Jörg Bergstedt (Interview Seite 94): „Erstens geht es nicht darum, dass man niemandem schaden darf, sondern dass man nichts tun darf, das verboten ist. Das ist nicht dasselbe. Die Gesellschaft ist zudem vom Begriff her die Totalität aller Menschen. Gefängnisse werden oft damit begründet, dass diese Menschen gefährlich sind für die Gesellschaft. Aber was ist dann hinter diesen Mauern? Ist da nicht mehr Gesellschaft? Irgendwie ist dieses Modell falsch. Gesellschaft ist alles – inklusive Knäste. Das ist ein besonderes grässlicher Teil der Gesellschaft. Dadurch, dass man eine Person von der einen Seite auf die andere Seite der Mauer hievt, nimmt man sie nicht aus der Gesellschaft raus.“

[2]„ ... Ich habe zwei bis drei Fälle von verwahrten Gefangenen, bei denen ich nicht davon ausgehe, dass sie je dieses Gefängnis verlassen werden. Aber das ist eine verschwindend kleine Minderheit. Abgesehen von diesen wenigen Fällen bin ich überzeugt, dass Haftstrafen über sieben Jahre absolut keinen Sinn machen. Bei jeder Strafe über sieben Jahre verliert der Betroffene die Perspektive. Wir haben Gefangene, die sich psychisch verändern, weil sie nicht mehr über den Berg sehen. ...“ Es ist unsere Aufgabe, Übel zuzuführen. Interview mit Martin-Lucas Pfunder, Direktor der Strafanstalt Lenzburg. [Strafen. Ein Buch zur Strafkultur der Gegenwart. Stapferhaus Lenzburg. Baden 2004]

[3] Totschlag unterscheidet sich vom Mord durch das Fehlen von täterbezogenen (z.B. niedere Beweggründe wie Habgier) oder tatbezogenen (z.B. Heimtücke) Mordmerkmalen. [de.wikipedia.org/wiki/Totschlag]

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