Laienverteidigung

KRITIK UND OFFENE FRAGEN: DEBATTE UM DIE IDEE FREIER MENSCHEN IN FREIER VEREINBARUNG

Kritik am Christoph Spehrs "Gleicher als andere"


1. Rechte oder Vereinbarungen?
2. Umgang mit Gewalt in einer herrschaftsfreien Utopie
3. Eine Mail - und die Reaktionen
4. Kritik am Christoph Spehrs "Gleicher als andere"
5. Links

Bei Spehr fehlt die gesellschaftliche Sphäre fast gänzlich.

Kritiktext von Ralf Krämer (mit Kommentaren)

Der folgende Text stammt von Ralf Krämer, die eingerückten, kursiven Texte sind Entgegnungen von Jörg Bergstedt (Gruppe Gegenbilder)

Grundsätzliche Gegenkritik
Der Text beinhaltet einige Grundannahmen, die nicht benannt werden, aber die Basis für alle Argumentation sind. Auffällig sind:
  • Staat sowie teilweise auch der Markt werden als nicht aufhebbar definiert, d.h. die Spehr'sche Idee der Freien Kooperation immer nur innerhalb der heutigen oder ähnlich wirkender Machtverhältnisse betrachtet. Das ist aber unsinnig, weil die Freie Kooperation eben genau die Aufhebung des Zwangs zur Kooperation voraussetzt – und damit auch die Nichtexistenz von marktförmiger Reproduktion und von Staat.
  • Jegliche anarchistische Idee oder Orientierung wird per se zurückgewiesen. Der Hinweis, etwas sei anarchistisch, gilt bereits als Argument.
  • Aufgrund der Popularität von Christoph Spehr in der Debatte um Freie Kooperationen und Freie Vereinbarungen (die von Spehr und Umfeld auch selbst durch Nichtbeachtung anderer, ähnlicher Debatten erzeugt wird) geht auch Krämer nur auf die Vorlagen von Spehr ein, nicht aber auf längst laufende weitergehende Diskussionen (z.B. in den Oekonux-Kreisen) oder Diskussionen um ähnliche Ansätze, die aber weit mehr an der Praxis von Alltag und Widerstand entlang geführt und dort auch weiterentwickelt werden (z.B. Freie Menschen in Freien Vereinbarungen).

Dagegen werden Schwächen und Unvollständigkeiten im Konzept der Freien Kooperationen nicht angesprochen, die aber wichtig sind, u.a. des Unterschieds zwischen direkter Kommunikation und Kooperation sowie der indirekten, z.T. über große Entfernungen und ohne direkten Kontakt. Solche gesellschaftliche „Arbeits“teilung wird es weiterhin geben, wie eine Organisierung dieser Lebensverhältnisse von unten aussehen soll, beschreiben weder Spehr noch der Text von Ralf Krämer. Diese Aufgabe bleibt der weiteren Diskussion, Krämer jedoch greift die Idee der Freien Kooperationen dort an, wo sie funktionieren kann – und kommt deshalb nicht dazu, über mögliche Erweiterungen nachzudenken.

Alles Kooperation oder was?

Ralf Krämer, Dortmund, im August 2001.
Ralf Krämer, Jg. 1960, ist Sozialwissenschaftler, Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW, 1994 bis 2000 Redaktionssekretär der linkssozialdemokratischen Zeitschrift für Sozialistische Politik und
Wirtschaft – spw, 1999 Austritt aus der SPD, seit 2001 Mitglied der PDS.


Christoph Spehr beansprucht mit seinem Text „Gleicher als Andere“ und der darin ausgeführten Konzeption der „Freien Kooperation“, zugleich eine Antwort auf die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gestellte Frage zu geben, unter welchen Bedingungen soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar sind. Dabei gesteht er ein, dass die Frage dabei eine „Rekonstruktion“ erfährt (11 – die Zahlenangaben in Klammern beziehen sich auf die von der RLS herausgegebene Druckversion des Textes von Spehr): (1.) die Frage nach einem dazu geeigneten „gesellschaftlichen Ordnungssystem“ wird zurückgewiesen zugunsten einer Orientierung, in den verschiedensten Bereichen eine Politik „Freier Kooperation“ und der „Abwicklung von Herrschaftsinstrumenten“ (28) zu betreiben; (2.) (politische) Freiheit und (soziale) Gleichheit überhaupt voneinander zu trennen - Bedingung für die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander - wird zurückgewiesen mit der Position, „dass Freiheit und Gleichheit zusammenfallen in der Idee der freien Kooperation“ (11)
Ich will im Folgenden die Auffassung vertreten und begründen, dass Spehr damit nicht die Frage „rekonstruiert“, sondern dass er sie schlicht nicht beantwortet und sein ganzer Ansatz grundlegend nicht geeignet ist, eine Antwort auf die Frage zu geben. Die häufige Wiederholung der Behauptung, „freie Kooperation“ sei die Lösung der Frage, macht sie nicht wahrer. Als ein Vorzug von Spehrs Text wurde genannt, er sei zugespitzt formuliert und rege zu streitbarer Diskussion an. In diesem Sinne werde ich ihn ungeschminkt und streitbar kritisieren. Diese Auseinandersetzung ändert aus meiner Sicht nichts daran, dass es grundlegende Gemeinsamkeiten gibt in dem Bemühen, Herrschaft und Ausbeutung zu bekämpfen und diesen Zwecken dienende gesellschaftliche Strukturen zu überwinden. Vielen Fragen, Kritik und Orientierungen, die Spehr vorträgt, kann ich mich anschließen. Jegliche gesellschaftliche Ungleichheit muss legitimiert werden und gesellschaftlich zur Disposition gestellt werden können. Es gibt aber auch grundlegende Differenzen.

Freiheit und Gleichheit
Freiheit und Gleichheit müssen schon deswegen getrennt betrachtet werden, weil sie sich auf Unterschiedliches beziehen. Man kann davon sprechen, dass einzelne Menschen – in zu bestimmender Hinsicht – frei sind, aber nicht davon, dass einzelne Menschen – in welcher Hinsicht auch immer – gleich sind. Die Freiheit, um die es hier geht, ist ein Attribut von Personen - und wenn präziser von politischer Freiheit die Rede ist, von natürlichen und nicht von juristischen Personen. Die Freiheit der Subjekte besteht in den verschiedenen Möglichkeiten, die sie haben, zu Handeln und ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Die Grenzen ihrer Freiheit liegen in natürlichen und materiellen, gesellschaftlichen oder psychischen Beschränkungen, denen sie dabei immer unterworfen sind. Die Gleichheit, um die es hier geht, ist dagegen ein bestimmter Typ der Beziehung zwischen Menschen – und wenn von sozialer Gleichheit die Rede ist, nicht nur rechtlich, sondern umfassender hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Lebensbedingungen und -chancen. Die Erweiterung ihrer Freiheit ist den Menschen selbst ein unmittelbares Bedürfnis und sie haben eigene Möglichkeiten, dazu tätig zu werden. Die Realisierung von Gleichheit, oder bescheidener: der Abbau gesellschaftlich bedingter Ungleichheit der Menschen, ist dagegen unmittelbar eine Frage gesellschaftlicher Gestaltung und kollektiven statt nur individuellen Handelns. SozialistInnen sollten sich dadurch auszeichnen, dass sie möglichst große und gleiche Freiheit für jede und jeden ermöglichen und also verhindern wollen, dass Einige ihre Interessen auf Kosten der Freiheit Anderer durchsetzen. Das spezifisch linke Prinzip politischer Gestaltung ist das der Gleichheit (vgl. Norberto Bobbio, Rechts und Links, Berlin 1994, insb. S. 83ff.).

Entgegnung: Emanzipation ist genau die Verknüpfung von Freiheit und Gleichheit – wobei beide Begriffe unglücklich sind, da sie auch anders verstanden werden können. Besser wäre: Selbstentfaltung und Gleichberechtigung (bzw. statt letzterem: Gleiche Möglichkeiten). dass „Gleichheit“ das Spezifikum der Linken ist, zeugt von platter Politikanalyse des Autors. Tatsächlich sind die Liberalen vom Typ F.D.P. diejenigen, die die stärkste Neigung Richtung Freiheit des Stärkeren haben, während nach Rechts und Links deutliche Vereinheitlichungskonzeptionen zu sehen sind – zum einen das Völkische („Du bist nichts, Dein Volk ist alles“), zum anderen das Kommunistische, dass in einigen Strömungen dem Völkischen wiederum recht nahe kommt (womit nicht ausgesagt ist, dass linke und rechte Strömungen auch in anderen Punkten ähnlich sind!). Hinzu kommt, dass in der realen Praxis gerade linke Gruppe elitäre Gesellschaftsmodelle favorisieren, da es ihnen selbst Vorteile verschafft.
Es geht also nicht um „spezifisch Linkes“, sondern um die Frage der Emanzipation – bemerkenswerterweise ein Begriff, der fast nirgends auftaucht in der Debatte.

Wären in einer Gesellschaft nur Individuen als relevante Subjekte im Spiel, könnte man formulieren, dass gesellschaftliche Gleichheit (und Solidarität für den Ausgleich und die gemeinsame Bewältigung nicht gesellschaftlich bedingter Nachteile) die notwendige, aber nicht hinreichende, Bedingung der größtmöglichen Freiheit jedes und jeder Einzelnen ist, weil damit Einschränkungen der Freiheit durch Herrschaft von Menschen über Menschen ausgeschlossen wären. In gewissem Sinne ist das der rationale Kern der von Spehr vorgetragenen Position. Allerdings wäre der spezifischere Begriff der politischen Freiheit dann gegenstandslos. Der spielt bei Spehr allerdings auch kaum eine Rolle, seine „Rekonstruktion“ unterschlägt die Spezifik der Frage und verallgemeinert sie zur Vereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit überhaupt (30).

Kapitalistische Herrschaft und Staat
Aber so einfach ist es nicht. Der reale Ausgangspunkt der Diskussion ist eine historisch entwickelte Gesellschaftsformation, die grundlegend durch soziale Ungleichheit und Herrschaft geprägt ist. Gesellschaftliche Subjekte sind nicht nur die Individuen, sondern auch Organisationen verschiedener Art, insb. auch Unternehmen, und der Staat. Auf diese kann sich die Forderung der Gleichheit nicht beziehen, deren Freiheiten und ihre Grenzen im Verhältnis zueinander und insb. gegenüber den Individuen sind besonders zu betrachten und zu gestalten. Und ein wesentlicher Zweck des Staates ist, das Eigentum und die sonstigen rechtlichen Grundlagen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und damit der sozialen Ungleichheit zu gewährleisten. Die Forderungen nach politischer Freiheit und nach sozialer Gleichheit sind vor diesem Hintergrund zu sehen.
Bei der „politischen Freiheit“, von der in der Frage der Stiftung die Rede ist, geht es um die Frage der Freiheit der Menschen gegenüber Eingriffen des Staates in ihre politischen Handlungsmöglichkeiten und zur gemeinschaftlichen Gestaltung staatlicher Politik. Bedingung ist auch hier die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und als BürgerInnen in der Ausübung der demokratischen Volkssouveränität. Es geht nicht um die Freiheit der Herrschenden, sondern um Freiheit von politischer Herrschaft, die nicht demokratisch legitimiert und rechtstaatlich verfasst ist. Mehr noch: Wenn „politische Freiheit“ die Forderung gleicher tatsächlicher politischer Mitgestaltungschancen für jede und jeden beinhaltet, ist auch soziale Gleichheit oder zumindest eine enge Begrenzung sozialer Ungleichheit und die Gewährleistung sozialer Sicherheit eine notwendige Bedingung dafür. In dieser Weise radikal demokratisch verstandene politische Freiheit und soziale Gleichheit sind zusammengefasst in der Konzeption des demokratischen Sozialismus.

Entgegnung: Der Autor versucht hier, einen Rahmen zu definieren, in dem die Debatte gefälligst stattzufinden hat. „Es geht nicht ..., sondern ...“ soll die Diskussion kanalisieren auf eine Akzeptanz von Staat und Mehrheitsdemokratie. Das ist zwar verständlich angesichts dessen, dass der Autor immer Partei-Aktivist war und seine Karriere im System zu machen versuchte, es ist aber nicht sinnvoll, solche Begrenzungen vorzunehmen – um dann auch noch Vorschläge anderer daraufhin zu kritisieren, ob sie innerhalb dieses Zwangsrahmens funktionieren würden.
Nein: Freie Kooperationen und Freie Vereinbarungen funktionieren als Gesamtmodell nicht innerhalb einer Gesellschaftsform, wie sie Krämer als einzig zulässig hier definiert.

Wo liegt also überhaupt das angebliche Problem der Vereinbarkeit von sozialer Gleichheit und politischer Freiheit? Zum einen gibt es in der Geschichte der Linken und insb. des real existiert habenden Staatssozialismus reichlich Belege, dass politische Freiheit unter der Zielsetzung der Durchsetzung sozialer Gleichheit massiv eingeschränkt wurde, was sich nicht wiederholen darf. Mit dieser Geschichte und ihren Ursachen und den daraus für eine Konzeption des demokratischen Sozialismus zu ziehenden Konsequenzen ist eine konkrete Auseinandersetzung notwendig, was weder für Spehr noch hier das Thema ist. Sie beweist aber nur, dass das Streben nach sozialer Gleichheit mit politischer Unfreiheit verbunden sein kann, aber nicht dass das notwendiger Weise so ist. Und sie erfordert jedenfalls, dass die Linke die Frage der politischen Freiheit nicht als sekundär betrachtet, sondern für ihre umfassende Verwirklichung eintritt.

Politische oder wirtschaftliche Freiheit?
Das Hauptproblem besteht aber darin, unter „normalen“ Bedingungen, auf demokratischen Wege und ohne dass im Gefolge gesellschaftlicher Katastrophen die alte Herrschaft zerfallen ist und revolutionäre Kräfte die Macht an sich bringen konnten (und zu ihrer Erhaltung oft die politische Freiheit einschränkten), gesellschaftliche Veränderungen in Richtung sozialer Gleichheit durchzusetzen. Die kapitalistische Gesellschafts- und staatliche Ordnung, in und gegenüber der diese Forderung erhoben wird, beruht auf massiver sozialer Ungleichheit und reproduziert sie ständig und produziert Interessen weiter Teile der Bevölkerung an ihrer Aufrechterhaltung. Eine Politik des Abbaus sozialer Ungleichheit muss mit ökonomischen Problemen und sozialen Widerständen rechnen, und die hier dominierenden gesellschaftlichen Kräfte und Interessen verfügen über vielfältige Ressourcen, eine solche Politik zu bekämpfen. Sie haben sogar oft genug gezeigt, dass sie eher die politische Freiheit abschaffen als die Durchsetzung sozialer Gleichheit zulassen werden.
Der Diskurs um das angebliche Problem der Vereinbarkeit von sozialer Gleichheit und politischer Freiheit hat primär die Funktion, unter Bezugnahme auf das unumstrittene Ziel der politischen Freiheit das Ziel der sozialen Gleichheit zu diskreditieren. Bei der Rede von der durch das Streben nach sozialer Gleichheit und Sozialismus angeblich gefährdeten politischen Freiheit handelt es sich zumeist um Etikettenschwindel, soweit dabei von politischer Freiheit die Rede ist und nicht nur allgemein von „Freiheit“. Tatsächlich gemeint ist jedenfalls im Kern die wirtschaftliche Freiheit von Individuen und Unternehmen gegenüber sozial oder ökologisch motivierten Eingriffen und Einschränkungen oder Aufhebung ihrer privaten Eigentumsrechte.

Entgegnung: Das ist schlicht eine Unterstellung. In der Idee der Freien Kooperation und der Freien Vereinbarungen gibt es gar keine Orientierung an Profit mehr – und mindestens bei letzteren auch kein Eigentum. Krämer projeziert hier die Spehr'schen Überlegungen wieder in sein Bild der einzig zulässigen Staatsform und guckt, ob die Freie Kooperation dort funktionieren kann. Das kann sie nicht – aber das sollte sie auch nie. Sie ist nie als konstruktiver Vorschlag für ein Herrschaftssystem der Marke Krämer (genannt: „Radikaldemokratie“ im Sinne des radikalen „Die Mehrheit entscheidet immer und gnadenlos“) entwickelt worden.

Auch wenn (Neo-)Liberale es behaupten, bedeuten aber solche Eingriffe in die wirtschaftliche Freiheit keineswegs Einschränkungen der politischen Freiheit oder überhaupt den „Weg in die Knechtschaft“ (Hayek). Sie sind vielfach wie gesagt im Gegenteil Bedingungen politischer Freiheit für alle. Ein Widerspruch besteht in Wirklichkeit zwischen wirtschaftlicher Freiheit auf der einen Seite und politischer Freiheit sowie sozialer Gleichheit auf der anderen Seite. Die tatsächlich relevanten Fragen wären die, (1.) welche Einschränkungen wirtschaftlicher Freiheit insb. großer Unternehmen und des Finanzkapitals notwendig sind, um politische und soziale Unfreiheit und Ungleichheit zumindest in Grenzen zu halten; (2.) wieweit diese Einschränkungen ökonomisch realisierbar und vertretbar sind und wie mit den dabei auftretenden Widersprüchen umgegangen werden soll; und (3) wie die Unterstützung der Menschen für eine solche Politik gewonnen und sie durchgesetzt werden kann. Hier liegt die Hauptlinie der politischen Auseinandersetzung, die SozialistInnen offensiv annehmen und führen müssen. Die Perspektive muss eine demokratische und ökonomisch produktive sozialistische Gesellschaft sein, die die Grundlagen kapitalistischer sozialer (und damit auch politischer) Ungleichheit weitgehend überwindet.

Entgegnung: Erstens baut Krämer hier wieder den Zwangsrahmen auf, in dem die Debatte zu laufen hat („Die tatsächlich relevanten Fragen ...“ und „Die Perspektive muss eine demokratische ...“). Zudem tritt er als deutlicher Befürworter von Staat und Macht auf – ja nicht einmal die Macht von Unternehmen will er aufheben, sondern nur die „Freiheit insb. großer Unternehmen“ eventuell „einschränken“. dass in solchen Gedankengängen die Idee der Freien Kooperation keine Chance hat, ist nicht verwunderlich.

Gesellschaft und Kooperation
Nun ist bei Spehr von all diesen Fragen wenig die Rede, und das betrachtet er als einen Vorzug seiner Auffassung. Von der anzustrebenden gesellschaftlichen Ordnung will er nicht reden. Aber erstens schwindelt er. Denn da die von ihm vorgeschlagene (Anti-)Politik auf die Überwindung aller wie auch immer „erzwungenen Kooperation“ und den Abbau aller Herrschaftsinstrumente zielt, ohne nach ihren Zwecken und dem Inhalt der damit durchgesetzten Politik zu fragen, der Staat aber wesentlich auf Zwang beruht, ist seine Perspektive eine anarchistische. Das finde ich nicht verwerflich, sondern nur politisch falsch und desorientierend. 

Entgegnung: Abgesehen davon, dass die Kritik an etwas, weil es anarchistisch ist, keine Argumentation enthält, zeigt sich hier, was Krämer antreibt: Der Haß auf herrschaftsfreie Gesellschaftskonzeption, der historische Graben zwischen staatsfixierten SozialistInnen (sind ja nicht alle so ...) und Anarchismus bzw. herrschaftsfreien Konzeptionen.

Zweitens setzt er sich aber auch mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und ihrem Staat nicht konkret auseinander. Er wählt zwar Beispiele und Ausgangspunkte aus der heutigen Zeit, aber er analysiert nicht, sondern nimmt sie nur als Illustration für eine pauschale Herrschaftskritik, die sich im Prinzip in der gleichen Weise gegen antike Sklavenhaltergesellschaften, den Staatssozialismus, den Kapitalismus oder auch patriarchalische Familienverhältnisse vortragen lässt. Herrschaftskritik ist in allen diesen Fällen notwendig, aber sie muss konkret sein und Ursachen und Bedingungen möglicher Veränderung aufzeigen. Dass in unangemessener Weise mit Begriffen wie Sklaverei, Sklavenarbeit und anderen hantiert wird, mag für Feuilleton und Propaganda Sinn machen, differenzierte Erkenntnis fördert es nicht. Auch die einleitende Geschichte mit den drei Bären mag unter literarischen Gesichtspunkten Sinn machen, aber in der Sache finde ich es reichlich problematisch, einen ganz offensichtlich auf das Eltern-Kind-Verhältnis gemünzten Text zu einem „typischen Stück demokratischer Propaganda“ mit ihrem „ganzen Grauen“ (5) zu verdrehen, zumal bei aller Kritik an ggf. autoritären Erziehungsmethoden das Eltern-Kind-Verhältnis gerade nicht in dieser Form als Unterdrückung der Kinder interpretiert werden kann und auch wenig mit Demokratie zu tun hat.

Entgegnung: Wie in vielen linken Zusammenhängen üblich, zeigt auch Krämer beim Thema „Erwachsene – Kinder“, dass ihm eine Analyse von Herrschaft völlig fremd ist und er das Unterdrückungsverhältnis daher nicht als solches erkennen dann. Hier wie im Verhältnis zum Staat (was ja eine Meta-Ebene des Eltern-Kind-Verhältnisses darstellt!) glaubt er an die guten Eltern bzw. den guten Staat, wo dann die Herrschaft o.k. ist, wenn die jeweils Herrschenden bzw. das Systems nett ist und das Richtige will. dass aber Herrschaft immer bedeutet, dass Konkurrenz vereinfacht und damit verschärft wird, blendet er aus – auf der direkten Ebene (Eltern-Kind) wie auf der gesellschaftlichen (Staat-Menschen).

Aber das Problem des Textes von Spehr geht noch tiefer. Seiner ganzen Konzeption der „Freien Kooperation“ liegt eine völlig unangemessene Vorstellung von Gesellschaft überhaupt zu Grunde. Spehr reduziert Gesellschaft auf Kooperationen, also bewusst eingegangene – und aufkündbare - interpersonale Interaktionen und Beziehungen. Was den gesellschaftlichen Lebensprozess der Menschen und Gesellschaft als System mit eigenen emergenten Zusammenhängen und Entwicklungslogiken ausmacht und Menschen und ihre Existenzbedingungen und Tätigkeiten grundlegend prägt, wird von ihm nur betrachtet unter dem Aspekt davon für die Individuen ausgehender Zwänge, die es zu beseitigen gelte. Davon ausgehend kommt er auf seine Utopie „Freier Kooperation“, in der die „Verteilung von Verfügungsgewalt, Besitz, Arbeit und die überkommenen Regeln (...) vollständig zur Disposition stehen, (...) jederzeit“ (23), und ebenso die Beteiligung der Menschen an all ihren „Kooperationen“ (ebd. und 11). Selbstverständlich ist das durchaus ein Gesellschaftsbild, wenn auch kein konkretes Modell. Vor allem aber ist es absurd, illusorisch, weil es von wesentlichen Bestimmungen wirklicher und möglicher Gesellschaften überhaupt abstrahiert.

Gesellschaft als besonderes System
Spehr vertritt seine Sicht durchaus explizit, z.B. wenn er die besondere Qualität und Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse mit dem Hinweis bestreitet, jede soziale Kooperation (und jeder einzelne Mensch) sei selbst ebenso komplex, und dies mit der „Selbstähnlichkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen“ begründet (40). Aber eine solche Verwendung von Versatzstücken aus der Theorie der Selbstorganisation dynamischer Systeme bzw. Chaostheorie mag zwar den Zeitgeist ansprechen, ist aber in der Sache völlig unangemessen.
Sicher können sowohl einzelne Zellen als auch komplexe vielzellige Organismen wie Menschen als auch Gesellschaften abstrakt als komplexe, selbstreproduzierende dynamische Systeme fern vom thermodynamischen Gleichgewicht betrachtet werden, die in der Tat bestimmte Analogien in ihrer funktionalen Differenzierung aufweisen und alle nie völlig von außen steuerbar sind. Aber genauso wenig, wie man deswegen das Funktionieren eines menschlichen Organismus darauf reduzieren und damit erklären kann, dass darin viele einzelne menschliche Zellen in Wechselwirkung miteinander stehen, ohne über die Gestalt des menschlichen Körpers insgesamt, seine Gewebe, Organe und Organsysteme und ihr Zusammenwirken und ihre nervöse und hormonelle Steuerung zu sprechen, kann man Gesellschaften darauf reduzieren und damit erklären, dass darin viele einzelne Menschen miteinander in irgend welche Kooperationen treten. Und die Wechselwirkung zwischen z.B. Staat und Wirtschaft ist genauso „selbstähnlich“ mit der Wechselwirkung zwischen zwei Individuen in der Küche wie die Wechselwirkung zwischen Gehirn und Herz mit der zwischen verschiedenen Zellen im Verdauungstrakt. Das erklärt überhaupt nichts und vermittelt keine angemessenen Handlungsorientierungen.

Entgegnung: Krämers Kritik geht auch hier davon aus, dass Staat und Markt weiter existieren.

Das heißt nun keinesfalls, dass Individuen in Gesellschaften wie Zellen in Organismen zu betrachten wären, insb. haben wir es in Gesellschaften mit bewussten und mit einer wesentlich größeren Autonomie ausgestatteten Individuen zu tun, die auch nicht ein für alle Mal auf bestimmte Funktionen und Tätigkeitstypen im Gesamtsystem festgelegt sind, soziale Systeme haben spezifische Funktionsweisen und auch die Struktur von Gesellschaften insgesamt ist veränderbar – es geht ja gerade um die Berücksichtigung dieser Spezifik. Aber Gesellschaften bleiben dabei immer Systeme und die Autonomie der Individuen immer relativ. Gesellschaft als System ist auch nicht einfach zu begreifen als „Geflecht von Kooperationen, die ihrerseits größere Kooperationen bilden“ (63) (genauso wenig wie ein Organismus, indem man ihn als Geflecht von Geweben, die ihrerseits größere Gewebe bilden, betrachtet). Wenn man da so herangeht, wundert nicht mehr, dass bei Spehr zwischen den unterschiedlichsten Gesellschaftsformationen der letzten paar tausend Jahre anscheinend keine grundsätzlichen Unterschiede bestehen, die Auswirkungen auf das (anti-)politische Herangehen an sie haben müssten, sind sie doch alle irgendwie durch Herrschaft geprägt.
Entgegnung: Zwar sagt Krämer nicht explizit aus, dass Gesellschaft wie ein Organismus funktioniert, aber der ständige Vergleich läßt das erahnen. Das Bild der Gesellschaft als Organismus ist eine typisch rechte Metapher. Sie ist mindestens biologisch (verschiedene sog. „Geschlechter“, „Rassen“ usw. erfüllen jeweils zu ihnen passende, in Wirklichkeit ihnen zugewiesene Aufgaben), in der Regel aber sogar faschistisch verfaßt (auch sozial kategorisiert, verbunden mit weitreichenden Durchsetzungsstrategien und Wertigkeiten von den Führungs“rassen“ bis zum unwerten Leben). Warum Krämer diese faschistischen Gesellschaftsbilder hier frei in seine Argumentation einbaut, bleibt unklar.

Wenn man Gesellschaften begreifen will, muss man sie als strukturiertes Gesamtsystem betrachten, muss die Organisation und Funktionsweisen der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche oder Subsysteme wie Wirtschaft bzw. Unternehmen, Staat, Haushalte und Familien, Finanzsystem, Öffentlichkeit und Medien, sonstige Organisationen und Bewegungen der Zivilgesellschaft usw. und ihre Wechselwirkung miteinander sowie ihre internationale Einbindung analysieren. Man muss die Bedeutung internalisierter gesellschaftlicher Normen, Regeln und Wertorientierungen, von Steuerungsmedien wie Recht und Geld, die Rolle unmittelbaren Zwangs und sozialer Abhängigkeit bzw. des „stummen Zwangs der Verhältnisse“ (Marx), aber auch gesellschaftlicher Diskurse und der Herstellung von Konsensen konkret untersuchen. Man muss sich für die hiesigen Verhältnisse klar sein über den zentralen Stellenwert der kapitalistischen Wertvergesellschaftung und die darauf aufbauende gesellschaftsprägende Dynamik, man kann nicht von der grundlegenden Unterschiedlichkeit der Lebensbedingungen verschiedener Klassen und Gruppen von Menschen abstrahieren und von den Interessenwidersprüchen und Auseinandersetzungen, die die Gesellschaft durchziehen.

Gesellschaft und Individuum
Man kann die Tätigkeiten und Interaktionen der Menschen nicht begreifen als bloß subjektive. Man muss sich darüber klar sein, (1.) dass von bzw. auf Ebene der Gesellschaft materielle, soziale, kulturelle, politische etc. Bedingungen gesetzt werden, die die Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen weitgehend bestimmen; (2.) dass die Auswirkungen der Tätigkeiten und sozialen Prozesse weit über diejenigen Subjekte hinausreichen, die an den jeweiligen „Kooperationen“ beteiligt sind, sei es über den gesellschaftlichen Zusammenhang des Austausches der Produkte, sei es über Systemzusammenhänge etwa finanzieller Art, sei es über ökologische Folgen oder andere externe Effekte; (3.) dass das Bewusstsein der Menschen in so einem umfassenden Sinne gesellschaftlich geformt ist, dass Marx sagen konnte, dass „das menschliche Wesen in seiner Wirklichkeit das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (MEW 3, S. 6) ist, und (4.) dass von der Gesellschaft Anforderungen an die Individuen ausgehen, in bestimmter Weise tätig zu werden, und dass die Gesellschaft Mechanismen aufweist, die bewirken, dass diesen Anforderungen genüge getan wird, dass also Menschen in dieser Weise tätig werden. Was diese Menschen sich dabei im Einzelnen denken oder sonst noch tun, und welche Menschen das im Einzelnen sind und wie genau sie es tun, und dass es auch Menschen gibt, die in verschiedener Weise nicht mitmachen, ändert nichts daran, dass es läuft. Man muss die menschlichen Tätigkeiten und Interaktionen also auch als Systemprozesse der Gesellschaft betrachten.
Die Einbindung in den gesellschaftlichen Lebensprozess ist die notwendige Bedingung des Lebensprozesses der Individuen. Die Menschen können zwar aus einzelnen „Kooperationen“ aussteigen, „den Baum wechseln“ (23), aber das hat seine Grenzen, man kann nicht aus der Gesellschaft aussteigen. Aus der Perspektive der Einzelnen erfordert es, dass andere Bäume zur Verfügung stehen, und wenn die auch nicht besser sind, ist nicht viel gewonnen. „Sein eigenes Ding zu machen“ (23) ist häufig die noch schlechtere Alternative, und auch das macht niemand außerhalb der Gesellschaft. Was Spehr als „Ausnahme“ formuliert, dass „es für den Betreffenden keine vergleichbare und vertretbare Alternative“ (54) gibt, ist ein regelmäßiges Problem in vielen Lebenslagen sehr vieler Menschen. Und wenn die Gesellschaft nicht für diese Fälle Vorkehrungen trifft, die die Form von Ansprüchen der Menschen gegenüber der Gesellschaft haben und Verpflichtungen für andere Menschen implizieren, damit diese Ansprüche eingelöst werden können, sehen die Betreffenden ggf. sehr schlecht aus. Spehr schreibt: „Wir können uns nicht aussuchen, welche Flüchtlinge wir in unsere Gesellschaft aufnehmen.“ (54) Aber in Wirklichkeit können und tun „wir“ das sehr wohl, und genauso könnten „wir“ Erwerbsunfähige, Obdachlose oder Pflegebedürftige innerhalb unserer Gesellschaft zugrunde gehen lassen. Und ohne gesellschaftliche Regelungen, die das verhindern sollen, würde es tatsächlich massenweise geschehen, und es geschieht in vielen Regionen der Welt.

Entgegnung: Weder Staat noch die Indivduen sind abtrennbar die VerursacherInnen von Rassismus oder anderen Diskriminierungen. Diskursive Herrschaft durchzieht alles, d.h. viele Menschen tragen den Rassismus in den Alltag und handeln dort rassistisch, der Staat aber ist nicht derjenige, der sie zügelt, sondern er setzt alles auf seine Art um: Rassistische Schulbücher, Abschiebung, Einwanderungsgesetze usw. Insgesamt vertritt Krämer hier die These von den bösen Menschen, die durch den Staat zu guten werden. Herrschaftstheoretisch ist das Unsinn, weil Herrschaft gerade konkurrierendes (und dazu gehört diskriminierendes) Verhalten vereinfacht und damit steigert statt verhindert oder auch nur vermindert. Zum anderen sind die jeweils Herrschenden auch Menschen, so dass die Hoffnung, dass sie sich als Herrschende nicht konkurrierend verhalten, bereits jeder logischen Analyse nicht standhält.

Aus der Perspektive der Gesellschaft ist erforderlich, dass die Individuen ihren Beitrag leisten, den gesellschaftlichen Lebensprozess, Produktion und Reproduktion am Laufen zu halten. Nicht jedes Individuum, und es ist offen, wer welchen Beitrag und wie, aber im Prinzip ist diese Bedingung grundlegend. Je produktiver und reibungsloser der Reproduktionsprozess läuft, desto größer können die Spielräume und Freiheiten der Individuen sein (real sind sie im Kapitalismus für die meisten Menschen viel kleiner, als es vom Produktivkraftniveau her möglich wäre). Dies bedeutet, dass die Existenz und Funktionsfähigkeit gesellschaftlicher Systemzusammenhänge, Mechanismen und Regeln, die die dazu notwendigen Beiträge der Individuen gewährleisten und eine Übereinstimmung zwischen subjektiven Tätigkeiten und Systemerfordernissen bewirken, zugleich notwendige Bedingungen größtmöglicher Freiheit der Individuen selbst sind. Die Frage kann nicht sein, ob es solche Mechanismen gibt, sondern nur, welche und wie die gestaltet sind, um maximale Freiheit und Gleichheit zu ermöglichen. Diese sind wohlgemerkt nicht von irgendeiner Autorität festzusetzen, sondern sollen soweit möglich aus offenen und demokratischen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen der Gesellschaft insgesamt hervorgehen.

Entgegnung: Hier wird offensiv die Anerkennung von Staat und Herrschaft eingefordert. Es kann nicht darum gehen, Herrschaftsfreiheit anzustreben, sondern darum, sie richtig zu gestalten. Damit führt Krämer schlicht eine andere Debatte. Das ist legitim, auch wenn klar sein sollte, dass es wenig Gemeinsamkeit gibt zwischen der Forderung nach einer anderen Herrschaft bzw. anderen Herrschenden und der Abschaffung von Herrschaft – vor alle muss befürchtet werden, dass es Menschen wie Krämer sein werden, die dann, wenn sie an der Macht sind, all diejenigen, die von Herrschaftsfreiheit träumen, gnadenlos verfolgen werden wie die jetzt Herrschenden auch.
Was überrascht, ist dass Krämer das alles gar nicht klar ist. Der Versuch, ein Konzept für eine herrschaftsfreie Gesellschaft auf Funktionsfähigkeit innerhalb des von ihm beschriebenen Herrschaftssystems zu überprüfen, konnte nicht anders ausgehen. Was Krämer versucht hat, ist die Überprüfung, ob Mensch mit Fußbällen Skat spielen kann ...


Regeln und Institutionen
Spehr betrachtet als „Realität: dass wir Sklaven sind. Verfügbar. Regeln und Kontrollen unterworfen, denen wir uns nicht entziehen und über die wir nicht bestimmen können. Den ganzen Tag, mit all unseren Empfindungen und Fähigkeiten; bis ans Ende unserer Tage und bis in die siebte Generation. (...) Fast alles ist erzwungene Kooperation.“ (17) Indem er gesellschaftliche Regeln und Normen pauschal als Medien von Herrschaft und Unterdrückung behandelt, verschleiert und vergibt er, was eigentlich nötig wäre, nämlich konkret diejenigen herrschenden gesellschaftlichen Normen und Institutionen zu kritisieren, die und insoweit sie tatsächlich unter dem Deckmantel der Neutralität und Allgemeingültigkeit soziale Herrschaft und Diskriminierung exekutieren und der Artikulation sozialer Abgrenzung der Oberen von den Unteren in der Gesellschaft dienen. Da gäbe es wahrlich reichlich zu kritisieren und zu verändern und Diskussionsbedarf, wie dabei die Prioritäten zu setzen sind.
Aber indem Spehr in dieser Weise undifferenziert vorgeht, gewinnt sein Ansatz Züge pubertärer Rebellion gegen „die Gesellschaft“ überhaupt und wird illusionär. Denn auch jede zukünftig mögliche Gesellschaft wird wie alle bisherigen auf einer Vielzahl zunächst fraglos vorausgesetzter und z.T. sozusagen schon „mit der Muttermilch eingesogener“ Regeln beruhen. Dabei geht es nicht nur um die etwa in Gesetzen und Verträgen formalisierten Regelungen, sondern auch um alltägliche Verhaltensmuster, Einstellungen, Bedeutungszuweisungen, die Sprache etc. Ungeachtet auch meiner persönlichen Neigung, Regeln, die ich nicht einsehe, in Frage zu stellen, sollte man sich klar sein, dass wir ständig sozusagen in jeder Minute eine Vielzahl von Regeln befolgen (die sich durchaus den verschiedenen nationalen Gesellschaften, aber auch z.T. zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Milieus innerhalb einer Gesellschaft unterscheiden), und dass soziales Leben anders gar nicht funktionieren kann. Institutionen, Habitus, Mentalitäten etc. sind nicht einfach willkürlich zu ändern, sondern soziale Realitäten, die sich die Einzelnen nicht aussuchen können, sondern die sozusagen sozial vererbt werden und die sich zumeist gesellschaftlich auch nur sehr langsam, im Verlaufe von Generationen, verändern.
Und auch in Bezug auf formalisierte Regeln, konkret v.a. Gesetze, kann man nicht jederzeit alles in Frage stellen, sondern kann es immer nur darum gehen, bestimmte sich als besonders problematisch erweisende Regeln zu kritisieren und zu ändern. Wobei dann neue Regeln heraus kommen, die später Andere vielleicht auch wieder ändern werden. Und es wird dabei normalerweise notwendig sein, auch für das Ändern der Regeln wiederum Regeln zu beachten, die selbstverständlich auch wiederum der Veränderung zugänglich sein müssen. Regeln sind in weiten Bereichen nicht (oder nicht nur) Medium von Herrschaft, sondern unabdingbare Voraussetzung für einigermaßen reibungsloses gesellschaftliches Leben, wo es anderes zu tun gibt als ständig über alles Mögliche zu verhandeln, wo es häufig überaus sinnvoll ist, dass sich möglichst alle an die Regeln halten, auch wenn sie ihnen nicht passen, von der Rechtschreibung über die Straßenverkehrsordnung und die Kleinfeuerungsanlagenverordnung (die den zulässigen Schadstoffausstoß von Heizungsanlagen begrenzt) bis zum Eigentumsrecht (trotz der in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung damit verbundenen und zu kritisierenden Funktion der Herrschaftssicherung).

Entgegnung: Demokratie- und Herrschaftseuphorie, die kaum noch unterscheidbar ist von der aktuellen Demokratie-Modernisierungsdebatte. Fehlen eigentlich nur noch die Begriffe „nachhaltig“ und „demokratisch“.

Gesellschaftliche Produktion und Arbeitsteilung
Gesellschaften sind insb. davon geprägt, dass und wie sie ihre Produktion und den Austausch der Produkte und Dienstleistungen organisieren. Der gesellschaftliche Zusammenhang und die gesellschaftliche Regulierung dieser Prozesse sind grundlegend für die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Entwicklung insgesamt. Dies lässt sich nicht als ein Komplex kleinerer und größerer Kooperationen begreifen, schon weil dies den falschen Eindruck ihrer prinzipiellen Gleichartigkeit und Auswechselbarkeit erweckt. Gesellschaftliche Produktion auf entwickeltem Niveau bedeutet aber im Kern hoch entfaltete Arbeitsteilung, innerhalb einzelner Betriebe und Produktionsprozesse, zwischen verschiedenen Betrieben, zwischen verschiedenen Branchen und zwischen verschiedenen Regionen und Ländern und in all diesem zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen, Möglichkeiten und Neigungen.
Diese gesellschaftliche Arbeitsteilung ist flexibel und die Einzelnen sind es auch, können ihre konkrete Arbeit wechseln, etwas Neues lernen, andere Funktionen übernehmen. Aber diese Veränderungen sind nicht beliebig, weder für die Individuen noch für die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Das gesamte Ensemble der in der Gesellschaft ge- und verbrauchten Produkte und Dienstleistungen muss produziert oder im Austausch erworben werden können, die Produkte müssen so verteilt und konsumiert werden, dass dieser Prozess und seine subjektiven wie objektiven Bedingungen dabei beständig reproduziert werden, und die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit als hauptsächliche Grundlage des erreichten Niveaus der Bedürfnisbefriedigung sollte dabei gehalten und möglichst weiter gesteigert werden.
Das bestehende System der Produktionsverhältnisse gewährleistet dies mittels der Mechanismen des Marktes und des Finanzsystems, staatlicher Rahmensetzung, Regulierung und Umverteilung, sozialer Auseinandersetzungen auf verschiedenen Ebenen usw.. Die Betrachtung von Tätigkeiten als Systemprozesse heißt hier ganz konkret: wenn es ein gesellschaftliches Bedürfnis (im Sinne der Marx’schen Analyse, nicht von außer herangetragener moralischer Kriterien) an irgendeiner Produktion gibt, wird dafür bezahlt, und zwar soviel, dass sich die Leute finden, die die entsprechende Arbeit machen. Das verläuft in spezifisch kapitalistischer Weise mit den entsprechenden ökonomischen, sozialen, kulturellen, psychischen, ökologischen und politischen Problemen, Widersprüchen und Krisen, aber es funktioniert.
Ein alternatives System der Produktionsverhältnisse, das die genannten Probleme und Krisen vermeiden oder jedenfalls erheblich mindern soll, muss auch funktionieren, und es wird dabei auf viele der genannten Mechanismen nicht verzichten können. Es ist nicht möglich, dafür am Reißbrett ein fertiges Modell zu entwerfen, das dann umzusetzen wäre, aber ebenso wenig wird es sich einfach irgendwie ergeben aus einer (Anti-)Politik der „Freien Kooperation“, wie sie Spehr vorstellt, die sich um diesen Gesamtzusammenhang gar nicht kümmert. Auch das gegenwärtige System funktioniert ja nicht nur aufgrund spontan wirkender Mechanismen, sondern erfordert vielfältige durchaus bewusst durchgesetzte Rahmensetzungen und Eingriffe (durch den Staat, Tarifverträge usw.).

Demokratisierung
Eine bessere Alternative – ich nenn sie mal Sozialismus - kann nicht schlicht auf „Freie Kooperation“ setzen, sondern erfordert demokratische Planung und Steuerung, die auf gesellschaftlichen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen über die Entwicklungsziele, Prioritäten und Beschränkungen von Produktion und Konsumtion beruht. Um das Zerrbild einer widerspruchsfrei „wundervoll funktionierenden gesellschaftlichen Maschine“ (26), das Spehr dagegen ins Feld führt, geht es dabei überhaupt nicht. Wohl aber um Demokratisierung, die als „Anspruch anderer, im eigenen Leben herumzupfuschen“ (26) zu diskreditieren in Anbetracht der teils gravierenden negativen Betroffenheit anderer Menschen von vielen Tätigkeiten, die häufig den Subjekten gar nicht auffallen oder sie nicht interessieren, nur als ignorant bezeichnet werden.
Diese gesamte Problematik wird von Spehr weitgehend übergangen, da sie den Horizont der „Freien Kooperation“ überschreitet und in Frage stellt. Auch die von ihm diskutierte Putzfrauenproblematik (14ff.) kann nicht angemessen nur auf der Ebene der unmittelbar Beteiligten diskutiert werden. Es gibt dafür gesellschaftliche Hintergründe, die mit dem Interesse der Gesellschaft zu tun haben, dass qualifizierte Arbeitskräfte überwiegend zu entsprechenden Tätigkeiten eingesetzt werden und nicht für Putzen und andere Tätigkeiten, die andere auch oder sogar besser machen können. Dieses Interesse zu negieren, würde bedeuten, auf die Produktivitätsvorteile der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu verzichten und die Investitionen sowohl der Gesellschaft wie der Einzelnen in ihre Qualifikationen zu entwerten. Man muss diskutieren, wie diese Arbeitsteilung sozial zu gestalten ist (und im Einzelnen, aber nicht pauschal auch, wo darauf verzichtet werden sollte). Zu diskutieren wären die Interessen und gesellschaftlichen Diskriminierungen, Regulierungen und Kräfteverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, die dazu führen, dass z.B. Putzdienstleistungen überwiegend in sozial ungeschützter, persönlich abhängiger und unterbezahlter Form verrichtet werden anstatt wie ein großer Teil der industriellen Arbeit hierzulande bei akzeptabler Bezahlung und sozialer Absicherung usw. organisiert werden.

Entgegnung: Hier befürwortet Krämer die erzwungene Kooperation. In seinem Gedankenmodell schwingt eine Regierungsinstanz oder irgendein anderes Entscheidungsgremium mit, dass Menschen einteilt (damit keine Ressourcen an hoher Qualifikation verschwendet werden!). Die Idee des Organismus blitzt erneut durch und Krämer dockt an rechte Ideologien an. dass erzwungene Kooperation dann gut sein soll, wenn sie besser bezahlt und abgesichert ist, zeugt von einer grundkapitalistischen Ausrichtung. Wenn der finanzielle Ertrag stimmt, soll mensch glücklich sein ...

Mit Kritik und Appellen an die unmittelbar Beteiligten, sich an „unfreien Kooperationen“ einfach nicht mehr zu beteiligen, kommt man nicht weit, wenn man diese Verhältnisse ändern will. Es müssen zugleich die Rahmenbedingungen geändert werden. Dazu gehören veränderte Regeln (nicht der schlichte Wegfall der bisherigen Regeln), die es überhaupt erst ermöglichen, dass alle Beteiligten ihre Interessen angemessen zur Geltung bringen können. Man braucht also eine veränderte Politik des Staates und anderer Institutionen, mit deren Hilfe solche Regeln zu entwickeln und durchzusetzen wären, und man braucht entsprechende politische Kräfte, konkrete Konzeptionen und Strategien, die sich darauf orientieren. Das gilt erst recht, wenn nicht nur Bedingungen „freier Kooperation“ durchgesetzt werden sollen, sondern auch die Bedürfnisse derjenigen angemessen berücksichtigt und nicht den Unsicherheiten persönlicher Beziehungen überlassen werden sollen, die sich an produktiven „Kooperationen“ nicht (mehr) beteiligen können, weil sie zu jung, zu alt, krank oder behindert sind oder sich aus anderen Gründen dazu nicht in der Lage sehen.

Vereinbarungen und Verträge
Die Ignoranz gegenüber den realen ökonomischen und sozialen Fragen zeigt sich noch klarer da, wo es mal konkreter wird. Im allgemeinen Teil wird postuliert, „freie Kooperation“ vollziehe sich „nicht in Form einklagbarer Verträge, sondern in Form von Vereinbarungen, die jederzeit zur Disposition gestellt werden können“ (25). Entwickelte gesellschaftliche Produktion beruht aber darauf, dass eine Vielzahl an Arbeitsprozessen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten verlässlich ineinander greifen, also die Kooperation nicht zwischendurch zur Disposition gestellt werden kann. Auch im Einzelnen beruhen die meisten Produktionen darauf, dass die Zeitpunkte von Leistung und Gegenleistung auseinanderfallen (vom ganzen Kreditsystem zu schweigen), und das läuft nicht auf Basis unverbindlicher Absprachen, die jederzeit einseitig zur Disposition gestellt werden können, sondern nur bei einklagbaren und sanktionierten Verträgen.
Später wird dann positiv als reale Bestrebung in Richtung „freier Kooperation“ gewürdigt, wenn Entwicklungsländer „langfristige Verträge, Absatzgarantien oder Ausfallgarantien verlangen“ (53). Die Würdigung ist sinnvoll, steht aber offenbar in Widerspruch zum allgemein formulierten Prinzip. Abgesehen von diesem punktuellen Einbruch der Realität in die Utopie ist der Abschnitt über Märkte (52f.), die als „Dachkooperationen“ betrachtet werden, in weiten Teilen von theoretischer und begrifflicher Verwirrung geprägt. Auf eine Kritik im Einzelnen möchte ich hier verzichten.

Betriebe und soziale Sicherung
Eingehen muss ich allerdings noch auf die Ausführungen Spehrs zu Betrieben und zur Erwerbsarbeit (s. 45ff.). Zunächst ist die Vorstellung, hoch entwickelte Produktion könne so organisiert werden, wie er das vorführt, nachgerade lächerlich (z.B. die Vorstellung, dass bei Konflikten der Betrieb einfach zwischen den verschiedenen Gruppen mit unterschiedlicher Ansicht aufgeteilt werden könne „wie eine Amöbe“ (45) – ich versuche mir das gerade bei einem Stahlwerk vorzustellen). Zum anderen ignoriert er schlicht die systematische Machtasymmetrie zwischen Kapital und Lohnabhängigen. Das Kapital hat es nicht nötig, über „Fähigkeiten und Sachverstand (zu) verfügen, die in der Kooperation (gemeint ist der Betrieb, RK) sonst nicht so gut vertreten sind“, um „Eindruck (zu) machen“ (46), weil es über das Eigentum an den Produktionsmitteln verfügt. Die damit zusammenhängenden Problematiken werden überhaupt nicht reflektiert, sondern einfach postuliert, dass „das Eigentum derer, die einen Betrieb gründen oder in ihn einsteigen“ (45), geschützt werde (was übrigens auch in gewissem Widerspruch zu den allgemeinen Ausführungen dazu steht, vgl. 23). Als Bedingung „freier Kooperation“ wird hier v.a. die Existenz einer sozialen Sicherung genannt, die „allen zumindest ein qualitativ ausreichendes Leben garantiert“ (46).
Zu dieser „unabhängigen Grundsicherung“, die insgesamt als das zentrale realpolitische Instrument seiner Konzeption erscheint (auch 48 und 66), sei nur nebenbei bemerkt, dass sie Strukturen voraussetzt, die mit „Freier Kooperation“ nichts zu tun haben, nämlich Mechanismen der – zwangsweisen, staatlichen – Abschöpfung und Umverteilung von mehr oder minder großen Teilen der gesellschaftlichen Produktion, je nachdem, wie sie ausgestaltet sein soll. Es soll nur angemerkt werden, dass damit diverse wirtschafts- und sozialpolitische Diskussionspunkte verknüpft sind und z.B. Spehrs Vorstellung, „dass die verschiedenen Sicherungssysteme zu einem einzigen Grundsicherungssystem zusammenfallen, das vollkommen unabhängige Leistungen zuweist“ (46), sozial- und verteilungspolitisch als äußerst problematisch zu betrachten ist. Eine solche Grundsicherung reichte jedenfalls auch überhaupt nicht aus, um Bedingungen realer Freiheit und Gleichheit in hoch vergesellschafteten Produktionsverhältnissen herzustellen.

Kapital und Arbeit
Spehr stellt sich vor, dass die Herrschaft des Kapitals im Produktionsprozess dadurch auszuschalten sei, dass Kapitalinvestitionen „Anteile am Gewinn, aber keine Bestimmungsgewalt“ (46) beinhalten sollen. Darauf wird sich aber Kapital nicht einlassen, wenn es nicht davon ausgehen kann, dass der Betrieb im Sinne der Profitmaximierung bzw. des Shareholder Value- also nicht als „Freie Kooperation“ - geführt wird, oder es – in einklagbaren Verträgen – feste Zinszusagen und Sicherheiten bekommt. Aber da ja alles verhandelbar sein soll, wird das dann wohl das Ergebnis der „freien “ Verhandlungen zwischen den Kapitalgebern und den Betrieben sein. In der real existierenden Welt ist Spehrs Konzeption ein Horrormodell für diejenigen, die nicht über Kapital verfügen, sondern arbeiten müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen (jedenfalls wenn es mehr als nur Grundsicherung sein soll), denn ganz nebenbei sollen auch noch die bisherigen Arbeitnehmerschutzgesetze beseitigt werden, weil sie eine Einschränkung der freien Verhandelbarkeit der Bedingungen in der „Kooperation“ Betrieb bedeuten würden: dort „werden Regeln vereinbart, die (...) Arbeitsverträge betreffen (...) Die Gesellschaft redet in diese Regeln nicht hinein“ (45).

Entgegnung: Wiederholungsfehler – auch hier überprüft Krämer die Spehr'schen Ideen innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die Krämer ja offenbar nicht aufgehoben haben will.

Da wundert man sich kaum noch, wenn im anschließenden Kapitel von Spehrs Text als das „zentrale Instrument moderner Diskriminierung“ (47), dessen „Privilegien die Verfügung über alle andere Arbeit und alle anderen Arbeitenden“ (48) sichert, aufgedeckt wird: nein, nicht das Kapital, sondern die „formale Arbeit“. Sie ist „weder prekär, noch illegalisiert, noch monoton, noch minderbezahlt, noch biografisch zerstückelt“ (47). Wer sie hat, „kann die Bezahlung und die Bedingungen seiner Arbeit einklagen und seine Arbeitsstätte einigermaßen frei wechseln. Er hat Urlaub, eine feste Begrenzung seines Arbeitstages und gut funktionierende pressure groups. Er muss nicht ‚um Erlaubnis bitten, wenn er mal pinkeln will’.“ (48). Weil ein großer Teil der Arbeitenden nicht über diese unerhörten „Privilegien“ verfügen (abgesehen davon, dass diese Beschreibung der Arbeitsbedingungen qualifizierter Beschäftigter doch in einigen Punkten geschönt ist), erhebt Spehr die Forderung: „Entprivilegierung der formalen Arbeit“. Auf die Idee, dass es für die Betroffenen vielleicht weitaus attraktiver sein könnte, diese „Privilegien“ auf möglichst alle Erwerb.

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