Laienverteidigung

BERUFUNGSVERHANDLUNG ZWEITER ANLAUF: PLÄDOYERS DER ANGEKLAGTEN

Anklagepunkt "Hausfriedensbruch" (Gaile Lügen)


1. Plädoyer allgemein, Anfang
2. Rahmenbedingungen eines jeden Gerichtsverfahrens
3. Spezielle Rahmenbedingungen dieses Verfahrens
4. Plädoyer allgemein, Ende
5. Symbolisch: Polizeigewalt am 2.3. und 11.4. in/vor dem Landgericht
6. Anklagepunkt „Wahlplakate“
7. Anklagepunkt "Farbschmierereien an der Gallushalle"
8. Anklagepunkt "Körperverletzung" (vermeintlicher Fusstritt)
9. Anklagepunkt "Hausfriedensbruch" (Gaile Lügen)
10. Anklagepunkt "Körperverletzung" (Puffs Daumen-Kino)
11. Anklagepunkt "Beleidigung" (Gülle prügelt)

Der 11. Verhandlunstag war geprägt von umfangreichen Plädoyers seitens beider Angeklagten, deren Ausgangstexte hier dokumentiert werden. Das folgende Plädoyer zum Vorwurf des Hausfriedensbruch in der Stadtverordnetensitzung liegt auch als .rtf zum Download vor.

Dies ist eine unvollständige Sammlung von Aspekten zum Anklagepunkt, zum Teil ohne voll ausgeschriebene Sätze und ohne jegliche Korrekturlesung. Sie dient als Manuskript zum Plädoyer des Angeklagten J.B. am 11. Prozesstag vor dem Landgericht Gießen, 29.4.2005. Alle Angaben sind ohne Gewähr, die Zitate von handschriftlichen Notizen übertragen. Mehr Infos zum Prozess und dieser Text im Internet.

Ich komme zum nächsten Punkt. Der ist etwas ungewöhnlich, quasi die Ausnahme in meinem Plädoyer. Und das aus folgendem Grund: Bei allen anderen – auch dem nach diesem noch folgenden Punkt – finde ich es völlig eindeutig und auch im Prozessverlauf eindeutig belegt, dass an den Tatvorwürfen nichts ist bzw. sie nicht beweisbar sind, die Beschreibungen völlig abweichen, sich widersprechen, interessensgeleitet mit Erfindungen angereichert wurden usw.

Der Punkt „Hausfriedensbruch“ nun weicht ab. Hier erkenne sogar ich, was der Vorwurf ist und aus welchen Vorgängen die Behauptung abgeleitet wird, dass ich hier eine Straftat begangen haben soll. Das haben ZeugInnen sogar beschrieben, wenn auch im Detail mit Abweichungen. Will heißen: Auch ich bin der Meinung, dass die Beweisaufnahme den Verdacht erhärtet hat, dass ein erkennbarer Wille des Stadtverordnetenvorstehers Gail als Hausrechtsinhaber vorhanden war, eine von ihm so interpretierte Störung der Stadtverordnetensitzung zu beenden, wobei als Option auch ein Polizeizugriff oder die Räumung der Tribüne sichtbar war. Es ist damit der einzige Anklagepunkt, wo ich überhaupt erkennen kann, dass die Anklage nicht nur auf Erfindungen, Lügen und all dem Kram fußt, der hier im Prozess und darüber hinaus ständig sichtbar geworden ist.

Dennoch, obwohl ich das anerkenne, gibt es für mich drei Gründe, warum eine Bestrafung nicht in Frage kommt:

  1. weil die Strafanzeige nicht rechtswirksam zustandekam
  2. weil die vermeintliche Straftat eben doch nicht zweifelsfrei bewiesen ist, sondern offen geblieben ist, ob nicht bezüglich der Aufforderung, den Saal zu verlassen, eine unklare Situation verblieb – anders als z.B. hinsichtlich der deutlichen Aufforderung, das Transparent einzurollen.
  3. weil selbst dann, wenn beide obigen Punkte verneint werden, eine Bestrafung der Schwere der etwa noch vorhandenen Schuld nicht entspricht und gute Gründe dafür vorliegen, dass die Angeklagten sich nicht im Unrecht wähnten, da sie schließlich tatsächlich keinen Grund für das Verlassen des Raumes geliefert hatten, sich in zweifacher Form darauf verlassen konnten, ein Recht auf Verleib zu haben und annehmen konnten, dass der Hausrechtsinhaber bzw. die von ihm zu Hilfe geholte Polizei das störende Elemente, nicht aber sie entfernen würde.

Die drei Punkte möchte ich näher begründen:

Strafanzeige nicht rechtswirksam
Den Anfang in dieser Sache machten Gail und das Rechtsamt der Stadt, in dem sie Anzeige wegen Hausfriedensbruch zu stellen versuchten. Dabei machten sie aber mindestens zwei Formfehler:
  • Gail informierte die Stadtverordneten nicht. Das ist aber nach Hessischer Gemeindeordnung zwingend vorgeschrieben. Zwar kann Gail ohne Information mit den Stadtverordneten das Hausrecht ausüben (siehe § 5 Geschäftsordnung der Stadtverordnetenversammlung Gießen), aber nicht eine Anzeige stellen oder stellen lassen. Die Aussage des Zeugen J. hat aber eindeutig ergeben, dass Herr Gail die Stadtverordnetenversammlung oder Gremien derselben über das Stellen einer Anzeige nicht unterrichtet hat – und zwar bewusst, was zwar formal für dieses Verfahren nicht von Belang ist, aber zeigt, dass es um die Kriminalisierung als solcher ging und Stadtverordnetenvorsteher Gail diese ohne Umwege erreichen wollte. Nach Hessischer Gemeindeordnung ist eine Information der Stadtverordneten aber zwingend vorgeschrieben. Dort heißt es im Paragraph 58, Abs. 7: „Der Vorsitzende vertritt die Gemeindevertretung in den von ihr betriebenen oder gegen sie gerichteten Verfahren, wenn die Gemeindevertretung nicht aus ihrer Mitte einen oder mehrere Beauftragte bestellt.“ Diese Formulierung klärt, dass eine Vertretung in solchen Fällen durch den Vorsteher nur möglich ist, wenn die Versammlung die Gelegenheit hat, auch einen anderen Vertreter für das jeweilige Verfahren zu benennen. Dieses ist jedoch nur möglich, wenn sie von einem solchen Verfahren überhaupt informiert wird. Das ist nicht geschehen. Daher hat der Stadtverordnete unbefugt gehandelt, seine Anzeige ist daher nicht rechtswirksam zustande gekommen.
    Formal besteht daher ein Verfahrenshemmnis, das im Vorneherein nicht bekannt war und daher erst jetzt reklamiert werden kann, denn es wurde durch die Aussage des Zeugen J. erst bekannt.
  • Ein weiterer Formfehler ist, dass Stadtverordnetenvorsteher Gail nach seinen Aussagen in seiner Vernehmung als Zeuge hier den Vorgang an das aus seiner Sicht zuständige Rechtsamt abgab, diesen aber die Entscheidung darüber überließ, ob sie Anzeige stellen und bei dieser Entscheidung auch gar nicht mehr eingebunden war. Auf diese Art ist eine Vollmacht nicht möglich, eine Anzeige muss von dem formal Zuständigen erfolgen bzw. diesem zumindest bekannt sein. Erschwerend kommt hinzu, dass der bereits genannte Formfehler, dass die Stadtverordneten nicht informiert waren, hierdurch noch verschärft wird, wenn selbst der Stadtverordnetenvorsteher nicht mehr informiert ist – und zwar auch sein eigenes Betreiben hin. Damit ist der Stadtverordnetenversammlung das Recht auf eigene Vertretung in laufenden Verfahren doppelt entzogen. Sie sind können nicht selbst einen Vertreter entsenden und sind auch nicht mehr durch den Vorsteher vertreten, weil dieser seine Vertretung nicht mehr wahrnimmt. Der gesamte Vorgang ist einem dem Oberbürgermeister Haumann unterstehenden Amt übertragen, ohne dass Stadtverordnete oder ihr Vorsteher überhaupt noch mitbekommen, was geschieht.
  • Widersprüche Metz – Gail beim Ablauf des Stellens der Strafanzeige: Es ist unklarer denn je, wer eigentlich warum die Strafanzeige gestellt hat. Gail behauptet, die Entscheidung dem Rechtsamt überlassen zu haben. Der Rechtsamtsleiter legt ein Schreiben von Herrn Gail vor, das deutlich macht, dass es doch her Gail war. In dem Schreiben wir Herr Metz ersucht wegen der „Störungen“ Anzeige zu erstatten. Die hat es aber gar nicht gegeben. Wenn hier eine Verurteilung erfolgt, dann ist der Grund von Seiten der Staatsanwaltschaft und des Gerichtes hilfeeilend für das Rechtschaos bei der Stadt Gießen hinzugedacht worden. Die Aufforderung zu einer Anzeige durch Herrn Gail enthielt die Begründung, dass die Angeklagten sich geweigert hätten, einer Aufforderung zum Verlassen des Saales nachzukommen, interessanterweise nicht. Die Anzeige, wegen der hier ein Gerichtsverfahren noch läuft, hat es schlicht nie gegeben.
  • Der Vollständigkeit halber möchte ich darauf hinweisen, dass sich die Gestaltung des Briefpapieres der Anzeige von Herrn Metz und des Briefes an Herrn Metz durch Herrn Gail in der Gestaltung von Briefkopf und Brief-Fuß deutlich unterscheiden. Es ist bekannt, dass die Stadt ihr Design immer wieder überarbeitet. Es besteht Zweifel, ob der Brief von Herrn Gail an Herrn Metz tatsächlich zu der Zeit geschrieben wurde, wie es nun behauptet wird, um zu beweisen, dass Herr Metz ordnungsgemäß beauftragt war. Zusammen mit der Aussage von Herrn Gail, dass er Herrn Metz eben gerade nicht konkret beauftragt hatte, ergeben sich mehr Fragen als Antworten aus diesem Vorgang.
  • Zudem ist mehr als fraglich, ob nach dem Wortlauf des § 123 StGB tatsächlich ein Hausfriedensbruch vorliegt. Denn dort steht:
    (1) Wer in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossene Räume, welche zum öffentlichen Dienst oder Verkehr bestimmt sind, widerrechtlich eindringt, oder wer, wenn er ohne Befugnis darin verweilt, auf die Aufforderung des Berechtigten sich nicht entfernt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
    (2) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt.
    Dieses „ Ohne Befugnis“ war nie gegeben. Der Aufenthalt ist erlaubt, solange die Versammlung nicht gestört ist – falsche Rechtsinterpretation von Wendel in erster Instanz. Zudem wurde dieses durch die Aussage von KHK Urban zu den Angeklagten vor Beginn der Sitzung bestärkt. Die Aufforderung von Gail war für Hausfriedensbruch nicht verwertbar, weil eine Befugnis immer bestand und nie ein Grund entstand, warum diese hätte enden sollen. Eine Stadtverordnetenversammlung muss öffentlich sein. Das liegt nicht im Ermessen des Stadtverordnetenvorsitzenden. Er kann Personen also nur mit besonderem Grund ausschließen. Diesen kann er nicht selbst trickreich herbeiführen, in dem er die Personen zu Handlungen aufruft, die diese definitiv nicht leisten müssen und zu denen sie auch nicht gezwungen werden können – wie in diesem Fall das Einholen des Transparentes. Somit war Gail befugt, die Störung zu beenden, d.h. das Transparent sicherstellen zu lassen, aber eben nicht, in der Nähe sitzende Personen ohne auf diese bezogene Gründe entfernen zu lassen oder auch nur des Saales zu verweisen.

Meine Auffassung ist weiterhin, dass die Anzeige nicht rechtmäßig zustande gekommen ist und daher eine Verurteilung nicht möglich ist. Wegen versäumter Fristen ist eine Nachbesserung nicht möglich.

Hausfriedensbruch nicht zweifelsfrei bewiesen
Die Schilderungen fast aller ZeugInnen mehren die Zweifel, ob es überhaupt eine Aufforderung zum Verlassen des Raumes gab – und zwar eine, die unabhängig ist von der Aufforderung, das Transparent einzuholen. Ebenso konnte nicht belegt werden, ob bei den undeutlichen Aufforderungen zum Verlassen des Saales überhaupt noch konkrete Personen angesprochen wurden. Und es blieb offen, in welcher Situation es zu der Aufforderung – wenn es sie denn gab – überhaupt gekommen ist. Während der Sitzung scheidet aus, denn das dort mitlaufende Tonband zeichnete keine solche Aufforderung auf. In der Unterbrechung aber war es unübersichtlich und laut. Die verschiedenen ZeugInnen berichteten von „Unruhe“ bis „tumultartig“. Auch verschiedene ZeugInnen konnten den Stadtverordnetenvorsteher nicht mehr verstehen.

Insofern widerspreche ich der seitens des Gerichts und der Staatsanwaltschaft geäußerten Auffassung, ein weiterer Klärungsbedarf sei nicht vorhanden, da es allein darauf ankäme, ob eine Aufforderung ergangen sei, den Saal zu verlassen. Dieses sehe ich nicht so, denn es gibt etliche Gründe, warum auch der Zusammenhang der Aufforderung und die Frage, wie glaubwürdig die das bezeugenden Personen sind, einer genaueren Untersuchung bedurft hätte:
  • Noch vor Beginn der Versammlung kam, so die übereinstimmenden Aussagen der Angeklagten, der Zeugin V. und des Zeugen Urban, der Leiter der zivilen Kräfte, eben Herr Urban, zu den Angeklagten auf die Tribüne und formulierte eine Warnung, dass es bei Störungen Konsequenzen gäbe. Hinsichtlich der genauen Formulierung gibt es zwar Abweichungen, aber sinngemäß sagen beide, dass genau solches angedroht wurde. Diese Bemerkung ist aber auch genau andersherum auslegbar: Herr Urban teilte nämlich indirekt damit mit, dass den Angeklagten keine Räumung oder irgendwelche anderen Konsequenzen drohten, wenn sie nicht stören würden. Die Angeklagten haben nicht gestört, dass hat die Beweisaufnahme ergeben. Der Satz von Herrn Urban vor der Sitzung bedeutet eine explizite Mitteilung der Position des Hausrechtsinhabers, dass die Angeklagten auf der Tribüne bleiben dürften, wenn sie nicht störten. Dass sie sich auf diese Aussage verlassen haben, kann ihnen hier nicht vorgeworfen werden.
  • Die große Unruhe in der zu dieser Frage entscheidenden Phase bei, wie alle sich dazu äußernden ZeugInnen übereinstimmend sagten, abgeschaltetem Mikrophon macht sehr wohl fraglich, ob eine deutliche Aufforderung zum Verlassen des Saales überhaupt vernehmbar war. Klar ist nur – das geschah teilweise ja auch noch mit Mikrophon und bei laufendem Tonband, dass Herr Gail zum Einrollen des Transparentes aufrief und das auch bei den Zuschauern auf der Tribüne ankam, wie ihre Reaktionen zeigten.
  • Die meisten Zeugen berichteten von Aufforderungen, das Transparent einzurollen. Einige zitierten auch die Verbindung zwischen Einrollen und möglichen Zwangsmaßnahmen. Übereinstimmend haben mehrere ZeugInnen berichtet, dass die Aufforderungen mehrfach erfolgen. Auch das schriftliche Protokoll der Stadtverordnetenversammlung gibt das einschließlich der Verbindung der beiden Punkte so wieder. Die meisten schätzen die Zahl der Aufforderungen auf drei. Alle aber berichteten von mehreren Aufforderungen, das Transparent einzurollen. Daraus ergibt sich, dass es keine oder höchstens eine konkrete Aufforderung zum Verlassen des Raumes gab. Nur Zeuge Metz behauptete, dass es zweimal mehrere Aufforderungen gab – einmal wegen dem Transparent, dann zum Verlassen. Allerdings schilderte auch Metz diese Variante erst auf konkrete Nachfrage, vorher sprach auch er nun von mehreren Aufforderungen wegen dem Transparent. Niemand außer Metz will zudem von sechs Aufforderungen etwas mitbekommen haben, die es aber ja wären, wenn beide Aufforderungen je dreimal erfolgt wären.
  • Ich gehe davon aus, dass der Staatsanwalt Vaupel wegen der Unklarheit in diesem Punkt Herrn Gail noch mal fragte, ob er explizit zum Verlassen des Saales aufgefordert hat. Ich kann mich erinnern, dass wir zu diesem Zeitpunkt vorne an den Fotos standen. Deshalb konnte ich die Antwort selbst nicht mitschreiben. Ich kann nur zitieren, was die unabhängige Prozessbeobachterin dieses Tages notiert hat: Staatsanwalt fragt: „Wurden die Störer aufgefordert, den Saal zu verlassen?“ Gail: „ wenn sie es nicht einrollen“. Das bedeutet, dass er selbst bei dieser präzisen Frage keine Antwort gibt, bei der das Transparent nicht verbunden bleibt mit der Aufforderung.
  • Herr Urban sagte in seiner insgesamt sehr glaubwürdigen Schilderung aus, dass Herr Gail „so ein bisschen auf dem Häuschen war“. Das bezieht sich auf die Phase nach der Unterbrechung der Sitzung und dem Abschalten des Mikrophons. Diese Aussage belegt zusammen mit den Schilderungen von Unruhe bis zu „Tumult“, wie Urban zunächst formulierte (er korrigierte dann auf „Aktion“), dass in dieser Phase keine klaren Anweisungen, Hinweise oder gradlinigen Vorgängen mehr stattfanden.

Es steht daher meines Erachtens fest: Die Verbindung von Transparenteinrollen und Verlassen des Raumes ist deutlich, per Mikrofon und auch mehrfach erfolgt. Sie ist aber unzulässig und damit auch die gesamte Aufforderung ungültig. Kein Mensch kann ohne rechtliche Grundlage gezwungen werden, Handlungen anderer wieder zu korrigieren. Entsprechend kann das Nichtstun auch nicht sanktioniert werden.

Eine Aufforderung, den Saal zu verlassen, ohne Verknüpfung mit dem Transparent aber ist nicht in dieser Eindeutigkeit erfolgt. Ich kann mich an sie gar nicht erinnern – außer von Seiten der Polizei, als sie schon oben auf der Tribüne stand und nachdem sie (wie ich es ja auch erwartet hatte), das Transparent sichergestellt hatte.

Für mich gab es alle Gründe anzunehmen, dass die Polizei das tun würde, was im Kontext der Abläufe naheliegend war: Das Transparent zu entfernen und sicherzustellen. Es ist auch in diesem Verfahren deutlich geworden, dass nicht ich oder andere Personen direkt gestört hätten, sondern dass das Transparent die Störung gewesen sein soll. Es zu entfernen und dann weiterzumachen, wäre plausibel gewesen. Entsprechend überraschend war, dass die Polizei dann auch mich und andere als Personen entfernte und sogar noch verhaftete. Der Grund für das Hausverbot war ja dann offenbar (wie die Zeugenaussagen hier zeigen), dass die Angeklagten einfach nichts getan haben – nämlich im konkreten Fall das Transparent nicht abgenommen haben. Das ist absurd.

Gründe für Hausverbot erfunden
Von Bedeutung ist noch, dass nicht nur die Angeklagten, sondern offenbar auch die meisten anderen Zeugen von Polizei und Stadtverwaltung die Lage zunächst so bewerteten, dass ein Grund für ein Hausverbot gar nicht vorlag. Darum haben sie neben dem den später Rausgeworfenen nicht zuordnebaren Transparent weitere Gründe für ein mögliches Hausverbot frei erfunden. Alle BelastungszeugInnen haben vor diesem Prozess oder in ihren Vermerken Störungen wie Rufe und/oder Flugblätter erfunden. Warum das? Weil auch sie den Eindruck haben, einfach nur dasitzende Personen kann man nicht aus dem Raum werfen – die Öffentlichkeit der Sitzung, d.h. die Personen waren mit Befugnis dort ... Das mag ein Hausverbot nach dem ausgesprochen autoritären Hausfriedensbruch-Paragraphen des StGB nicht ausschließen, aber es belegt, dass auch die anderen hier Befragten dachten, was die Angeklagten annahmen: Das Transparent rechtfertigt nicht deren Rauswurf. Somit ist die Version, dass die Angeklagten annahmen, die Polizei würde das Transparent entfernen und dann würde es normal weitergehen, durchaus glaubwürdig, denn auch andere nahmen an, dass ein Hausverbot ohne Zwischenrufe und/oder Flugblätter nicht gewesen sein kann. Etliche der ZeugInnen, die in ihren Vermerken weitere Störungen noch vermerken, nahmen diese in der Vernehmung hier im Prozess zurück – Ausnahme war Stadtverordnetenvorsteher Gail, der stur auf seiner Version mit Rufen und Flugblattwurf bestand: „ Es gab Zwischenrufe“ und „ Auf jeden Fall wurden Flugblätter geworfen“. Auch er rechtfertigte den Rauswurf hier in seiner Zeugenaussage ja gerade mit den Flugblätter. Er berichtete, die hier Angeklagten zum Einrollen des Transparentes aufgefordert zu haben und fügte hier in seiner Vernehmung an: „in dem Moment flogen von der Tribüne Handzettel runter“. Danach berichtete er, dass er wegen dieser Handzettel dachte: „jetzt mache ich vom Hausrecht Gebrauch“Zwischenrufe oder Flugblätter aber gab es nicht – ein Hausverbot hatte daher keine Grundlage und es gab keinen Anlass zu der Annahme, es könnte das Verlassen des Saales tatsächlich verlangt werden können. Die belastenden Vermerke im Vorfeld dieses Prozesses entstanden, um die Anklage zu stützen.

Die Vernehmungen hier erbrachten, dass die ZeugInnen sich an solche Störungen nicht mehr erinnern konnten, teilweise sagten sie klar aus, sich sicher zu sein, dass es keine Störungen in der laufenden Sitzung gab. Sowohl Zeugin Mutz wie auch Zeuge Urban verneinten deutlich, dass es Rufe gab. Zeugin Mutz sagte, dass die Angeklagten „sehr ruhig“ gewesen seien und dass sie erst auf das Transparent aufmerksam wurde, als es schon hing – letzteres wäre wohl anders gewesen, wenn es vorher Rufe gegeben hätte. Ihren anderslautenden Vermerk hatte Zeugin Mutz direkt nach dem Vorlegen der Anzeige verfasst – und sich offenbar daran gehalten, was sie passenderweise bezeugen sollte. Zeuge Urban korrigierte seinen Vermerk und sagte überzeugend aus, dass er verbale Störungen nicht gehört hätte. Auch der Pressebericht des Giessener Anzeigers nach der Sitzung kann als Beleg genommen werden. Dort steht, dass das Transparent „plötzlich“ entrollt wurde. Und Zeuge J. berichtete gar, dass er ungestört weiterreden konnte, dabei gar nicht mitbekam, dass da ein Transparent herabgelassen wurde, sondern erst durch die Unruhe unter den Stadtverordneten und die Unterbrechung durch Herrn Gail davon mitbekam. Das belegen auch das Tonband sowie die Aussage der Zeugin V..

Zusammenfassend lassen die Aussagen der ZeugInnen folgende Details des Ablaufes wahrscheinlich erscheinen:
  • Die, die das Transparent ausgerollt hatten, sind vor dem Polizeizugriff gegangen.
  • Störung war Transparent, das wurde auch sichergestellt.
  • Für ein etwaiges Hausverbot und damit auch für Räumung der verbliebenen Personen auf der Tribüne gab es keinen Grund.
  • Vor Beginn der Sitzung wurde den Angeklagten sogar noch mit Bezug auf den Hausrechtsinhaber Gail mitgeteilt, dass sie rausfliegen würden, wenn sie stören würden. Was umgekehrt heißt: Sie könnten bleiben, solange sie nicht stören.
  • Stadtverordnetenvorsteher Gail hat nach übereinstimmenden Aussagen mehrfach zum Einrollen des Transparentes aufgefordert. Das hat er, mindestens bei den letzteren Aufforderungen mit der Drohung, sondern die Polizei zu holen oder sonst die Personen räumen zu lassen, verbunden. Darauf deutet auch das Tonbandprotokoll hin, der dort hörbare Teilsatz wirkt gerade so, als wäre er mit einem bedingenden Vorsatz verbunden, wobei die Verbindung mit dem Einrollen des Transparentes auch hier anzunehmen ist.
  • Ob er aber auch unabhängig von der Aufforderung, das Transparent einzurollen, zum Verlassen des Saales aufgefordert hat und ob er dabei überhaupt konkrete Personen angesprochen hat, da weichen die ZeugInnenaussagen voneinander ab.
  • In dieser Phase gab es zudem nach übereinstimmenden Aussagen der ZeugInnen erhebliche Unruhe, zudem hat Stadtverordnetenvorsteher Gail sein Mikrophon nach der ersten Aufforderung abgeschaltet.
  • Naheliegend scheint daher die von den Angeklagten vorgetragene Version, erwartet zu haben, dass die Polizei das Transparent sicherstellen würde und damit die Störung beendet und der Willen des Hausrechtsinhabers erfüllt sei.

Unklar bleiben zudem die Gründe für die Festnahmen. Dass das Transparent entfernt wurde, ist nachvollziehbar. Dass die hier Angeklagten aus dem Saal geführt wurden, erklärt sich bereits nicht. Dass die dann in Gewahrsam genommen wurden, hat gar keine Begründung mehr, denn schließlich haben sie als Personen selbst nie in der laufenden Sitzung gestört, wie alle ZeugInnen bis auf Herrn Gail bestätigten. Eine Person (Zeuge A.) wurde sogar erst außerhalb der Tribüne festgenommen, d.h. es machte gar keinen Unterschied, ob mensch selbst geht oder rausgetragen wird.

Es muss davon ausgegangen werden, dass alle BelastungszeugInnen genau wussten, dass für eine Verurteilung der Angeklagten die Formulierung notwendig war, dass ein Hausverbot ausgesprochen worden sei. Daher überrascht wenig, dass es viele benannten, sondern eher, dass ihre Schilderungen trotzdem hinsichtlich Anzahl der Aufforderungen und genauem Wortlaut deutlich voneinander abwichen. Gute Erinnerung war immer nur bei den Aufforderungen zum Einrollen des Transparentes erkennbar, während hinsichtlich des Verlassens des Saales die Abweichungen zunahmen. Die Erklärung ist einfach: Die gab es nicht eindeutig. Daher gibt es auch keine konkrete Erinnerung der Zeugen daran.

Ich wurde als Zuschauer, der ich in dieser Funktion befugt im Raum weilte, von Herrn Gail nur einmal persönlich angesprochen hinsichtlich des Abnehmens des Transparents. Das ist durch Herrn Gail selbst und mehrere andere Zeugen sowie das Tonband belegt. Ich habe darauf gefragt, wieso ich angesprochen würde. Die Antwort darauf „Weil ich Sie kenne“ zeigt eindeutig, dass Herr Gail gegen mich auch gar keinen Verdacht aussprach, ich hätte die Sitzung gestört. Warum also sollte ich annehmen, dass er Sanktionen gegen mich verhängt. Ab diesem Moment sprach mich persönlich auch nicht mehr an, sondern etwas unbestimmt alle Personen auf der Tribüne – offensichtlich, so dachte ich jedenfalls, in der Hoffnung, dabei auch die für das Transparent zuständige Person mit anzusprechen. Die war aber wahrscheinlich schon gegangen, jedenfalls gab es niemanden mehr, der sich hinsichtlich des Transparentes angesprochen fühlte. Mehrere Zeugen bestätigten auch, dass es mehr als drei Personen auf der Tribüne nahe dem Transparent stehen, u.a. die Zeugen J., V., A. und Metz. Die Zeuge Urban sagte: „Es waren wohl ein paar mehr“. Auch in der Anzeige wird von „vier auf der Besuchertribüne anwesende Personen“. Es ist schon von der Logik her wahrscheinlich, dass die Person oder die Personen, die das Transparent entrollt haben, dann gegangen sind. Gail wiederholte mehrfach (wie Zeugen auch deutlich beschrieben) seine Aufforderung zum Einholen des Transparentes. Das Tonband zeigt das alles nicht mehr. Es war ausgeschaltet. Das geschieht, so die Zeugenaussage von Herrn Gail selbst, wenn die Sitzung unterbrochen wird, nicht früher. Also war die Sitzung schon unterbrochen. „Relativ schnell“ sei es nach dem Entrollen zur offiziellen Unterbrechung gekommen, sagte auch Zeugin Mutz.

Wie auch immer: Transpi schien für mich die Störung und damit das Problem, so dachte ich jedenfalls und dass empfinde ich angesichts der Abläufe und Aufforderungen auch als naheliegend. Und Urban hatte mitgeteilt, dass ich auf der Tribüne bleiben könne, wenn ich nicht selbst stören würde.

Gründe für den Ausschluss einer Bestrafung
Wenn überhaupt in diesem Prozess weiter davon ausgegangen wird, dass der Straftatbestand Hausfriedensbruch erfüllt sein soll, so ist wichtig ein Blick auf die tatsächliche Schwere der Tat und auf die Frage, ob die Angeklagten den Hausfriedensbruch angesichts der konkreten Situation überhaupt noch erkennen konnten.

Unzweifelhaft dürfte sein, dass der konkrete Ablauf wenn überhaupt, dann die niedrigste Form eines denkbaren Hausfriedensbruchs ist, nämlich das befugte Betreten und das Verweilen ohne jegliche sonstige tatsächliche Störung des sog. Hausfriedens in einer unübersichtlichen Situation, bei der ein etwaiger Rauswurf selbst wegen des fehlendes Grundes dazu sogar rechtswidrig sein dürfte. Sicherlich wäre ein solcher Vorgang in allen anderen Fällen als diesem politisch aufgeladenen Prozess zu einer Einstellung geführt hätte. Das ist auch bewiesen dadurch, dass weit umfangreichere Störungen zu anderen Zeiten im Stadtverordnetensaal nicht zu Anzeigen führten, wie alle Zeugen bestätigten. Am wichtigsten dazu war die Aussage des Zeugen Metz, der aussagte, auch Verursacher umfangreicherer Störungen hätten sich schon folgenlos den Anordnungen des Hausrechtsinhabers Gail widersetzt und die Anzeige gegen die hier Angeklagten wäre auch durch diese anderen Störungen ganz anderer Personen an anderen Tagen motiviert gewesen.

Daher ist also ein unwichtiges Detail des Abends des 27.3.2003 zu einer Anklage geworden. Gewichtigeres an diesem Abend blieb ohne solche Konsequenzen:
  • es ging um eine erfundene Bombendrohung, die politisch Schlagzeilen machte und eigentlich hätte strafverfolgt werden müssen nach den Logiken des Rechtsstaates. Ich möchte nicht wissen, was geschehen wäre, wenn ich an dem Tag zur Polizei gegangen wäre und gesagt hätte: Da ist grad eine Bombendrohung eingegangen ... und das aufgeflogen wäre, dass es erlogen war.
  • drei verschiedene Polizeitruppen (OPE, uniformierte Polizei, Staatsschutz) agierten im Saal nach einem genauen Einsatzplan, wie KHK Urban berichtete
  • der Stadtverordnetenvorsteher Gail belog die Stadtverordneten... und das bei einer Debatte über Politikerlügen ... und später auch die Presse
  • Die Polizeiführung sprang tagsdrauf dem CDU-Mann Gail an die Seite und unterstützte seine Lüge gegenüber der nachfragenden Presse ... diesmal mit eigenen Lügen
  • Aus Protest gegen die Politikerlügen und die Kriminalisierung durch die erfundene Bombendrohung wurde ein Transparent heruntergelassen. Doch auch das steht hier nicht als Anklagepunkt, sondern die schlichte Anwesenheit unerwünschter Personen.

Um all das geht es hier nicht. All das hat bislang keinerlei Konsequenzen gehabt:
  • Haumann wurde sogar Oberbürgermeister
  • eine Anzeige gegen ihn wegen Vortäuschung einer Straftat wurde nicht verfolgt, eine Anklage nie erhoben
  • Gail ist immer noch im Amt
  • die Polizeiführung macht auch fröhlich weiter
  • und nicht mal wegen dem Transparent gibt es eine Anklage. Ganz im Gegenteil ist das Transparent von der Polizei sogar problemfrei herausgegeben worden (ich habe es inzwischen in Freiheit schon wieder gesehen) – wo interessant ist, an wen eigentlich, sprich: wer sich als Besitzer oder Besitzerin bei der Polizei gemeldet hat.

Es ist deutlich erkennbar, dass weniger das Verhalten der Angeklagten am 27.3.2003, sondern ihr Bekanntheitsgrad und Vorgänge rundherum, mit denen sie nichts zu tun hatten, ihnen zum Verhängnis wurden:

Stadtverordnetenvorsteher Gail sagte hier im Verfahren selbst: „Es gab turbulentere Sitzungen als diese“. Aber er ärgerte sich über die Anwesenheit der konkreten Personen auf der Tribüne und wollte die raushaben, da kam der Repressionsapparat in Wallung. Insofern ist die Strafanzeige für mich eine Gesinnungstat und keine Hausrechtsausübung. Zeuge J. hat das auch glaubhaft mitgeteilt: Die Stadtoberen gaben sogar zu, diese Strafanzeige nicht wegen irgendeiner Schwere der Tat gestellt zu haben, sondern weil sie genau diese unerwünschten Personen schädigen wollten. Unerwünscht – weil politisch nicht gewollt. Auch der Chef des städtischen Rechtsamt Metz sagte das aus, als er berichtete, dass die Idee einer Anzeige in einem Gespräch zwischen ihm und Herrn Gail aufkam, als insgesamt über Störungen der vergangenen Monate nachgedacht wurde und offenbar ein Exempel statuiert werden sollte. Diese Version widerspricht zwar den Aussagen von Herrn Gail, der meinte, die Strafanzeige, die zu diesem Prozess führte, sei ohne Zusammenhang mit anderen Punkten aus dem Grund, weil sich die Angeklagten nicht gefügt hätten entstanden. Außerdem widerspricht sie Herrn Gail, der wiederum sagte, selbst gar keinen Einfluß auf die Frage, ob Strafanzeige gestellt wird. Und sie widerspricht den Ausführungen von Herrn J., der gehört hatte, es gehe vor allem gegen die Personen der hier Angeklagten. Aber jenseits dieser Masse als Widersprüchen und Falschaussagen bleibt erkennbar: Es ging nicht um die Vorgänge als solches, sondern um die politischen Interessen – welche auch immer, die waren wohl von Person zu Person unterschiedlich.
  • Herr Metz berichtete, dass es darum ging, überhaupt die Überhand nehmenden Störungen zu unterbinden. Demzufolge wäre es eher Zufall, dass es die Angeklagten traf und dass es den Vorgang traf, der von den verschiedenen Störungen im Winterhalbjahr 2002/2003 der geringste war.
  • Zeuge J. beschrieb, dass Herr Gail und auch sein Vorgänger Schirmer von der SPD die konkreten Angeklagten als Grund für ihre Anzeige benannten. Die speziellen Personen sollten getroffen werden, unabhängig vom Vorgang.
  • Dieses Interesse kann auch der Polizei und dem Staatsanwalt unterstellt werden, die den Vorgang für die Vorbereitung einer Anklage nutzen und aufbauschten um Berichte von verbalen Störungen usw.

Dennoch läuft bis jetzt auch zu diesem Anklagepunkt das Verfahren – und eben nur zu einem grotesken Minidetail des Abends. Das Minidetail, was bislang als einziges verfolgt wurde, ist die Frage, ob die hier Angeklagten N. und B. auf den Stühlen der Tribüne sitzen durften oder nicht. Denn mehr war nicht nachweisbar bzw. ist nachgewiesen worden, dass es das nicht gab: Keine verbalen Störungen, keine Flugblätter, selbst das Ausrollen des Transparentes kann den Angeklagten nicht nachweisbar angelastet werden. Nur ihre bloße Existenz und die Behauptung der Anklage, sie seien zum Verlassen des Raumes aufgefordert worden.

Es gibt zudem noch formale Bedenken gegen eine Verurteilung:
Öffentliches Interesse ist nötig nach § 376: „Die öffentliche Klage wird ... nur dann erhoben, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt“. Staatsanwalt Vaupel hat die Messlatte bei der Ablehnung zum Faustschlag bei Gülle sehr hoch gehängt (Zitat aus Einstellung, Doku 2005, S. 42 Abb. mitte rechts). Der er bei einem medial vermittelten Faustschlag in einer öffentlichen Auseinandersetzung ein öffentliches Interesse ablehnt, aber das Sitzenbleiben in einer Sitzung (das ist ja nicht öffentlich diskutiert worden, sondern die Sitzung, das Transparent usw., was aber gar nicht Gegenstand der Anklage ist) als öffentlich interessant bewertet, macht deutlich, dass hier Gesinnungsjustiz am Werke ist.

Hinzu kommt noch, dass Herr J. bemüht war, eine direkte Einigung zu erreichen. Er nannte das in seiner Zeugenaussage hier „Versöhnung“. Dieses ist auch vom Strafrecht so vorgesehen, dass bei niedrigschwelligen Vorgängen ein solcher Verfahren zu bevorzugen ist. Mit seinem unbedingten Willen der Anklageerhebung hat Staatsanwalt Vaupel möglicherweise dazu beigetragen, dass sich Herr Gail in diesem Punkt stur stellte – genau wissend, dass seine Weigerung eine Anklage wahrscheinlicher macht. Wie Zeuge J. glaubwürdig aussagte, war nicht die Klärung, sondern die Anklage und Verurteilung sein Ziel.

Bedeutend für eine Bestrafung sind zudem die Paragraphen des Strafgesetzbuches, die eine Bestrafung an die Bedingung des Vorsatzes hängen oder den Irrtum über die Tatumstände beschreiben.

„Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht“ heißt der § 15 des Strafgesetzbuches. An dieser Stelle hört mein juristischer Verstand auf, ich keine keine bisherigen Urteile zu diesem Punkt, ich bin kein Rechtsanwalt, das Gericht hat mir einen entsprechenden Rechtsbeistand verweigert. Wenn ich vom gesunden Menschenverstand her diesen Paragraphen zu verstehen versuche, ist Hausfriedensbruch nur strafbar, wenn ein Täter weiß, dass er einen solchen begeht. Genau das liegt hier nicht vor, weil sich die Angeklagten sowohl auf die gesetzlich ja garantierte Öffentlichkeit von solchen Versammlungen sowie auf die Ansage des KHK Urban zu Beginn der Sitzung verlassen konnten – solange sie selbst nicht störten, mussten sie auch einen Rauswurf selbst nicht fürchten. Deutlicher noch scheint mir der folgende § 16: „Wer bei der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich“. Auch hier fehlt mir juristisches Hintergrundwissen und ich interpretiere wieder als Mensch – genau da fällt mir aber auf, dass die Unklarheit darüber, dass ja die Garantie der Öffentlichkeit einer Stadtverordnetensitzung und die Ansage der Bedingungen, wann dieses – bezogen auf die Angeklagten – erst in Frage stellt würde (nämlich bei einer direkten Störung durch die Angeklagten selbst, dazu gehört. Denn wenn überhaupt ein Hausfriedensbruch vorliegt (was angesichts der Lage weiter bestritten wird), dann gibt es wegen der konkreten Situation an dem Abend trotzdem gute Gründe dafür, dass die Angeklagten annahmen, keinen zu begehen. Auch der § 17 über Verbotsirrtum könne folglich in Frage kommen: „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte“.

Für die Strafzumessung wäre, sollte doch und gegen die hier vorgebrachten Bedenken, eine Verurteilung erfolgen, der § 46 von Bedeutung. Dort werden hinsichtlich der Strafhöhe Aspekte genannt, die beachtet werden müssen, u.a.
  • die Beweggründe und die Ziele des Täters
  • das Maß der Pflichtwidrigkeit
  • das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.

Der letztere Punkt wird im § 46a noch verdeutlicht. Dort steht, dass das Gericht für den Fall, dass ein Täter einen sog. Täter-Opfer-Ausgleich „ernsthaft erstrebt“, so kann das Gericht die Strafe mildern oder sogar von der Strafe absehen. Zeuge J. berichtete glaubhaft, dass er eine Versöhnung oder zumindest Klärung organisierten wollte – und das Herr Gail das ablehnte, während die Angeklagten dazu bereit gewesen wären, wie sie ja auch bei dem Klärungsgespräch mit der Polizeiführung teilnahmen, allerdings in der Polizeiführung heftig umstritten war, ob Gespräche geführt werden sollten.

Ich bin weiterhin der Meinung, dass eine Bestrafung nicht möglich ist, aber ich erwähne diese Punkte der Vollständigkeit halber – und nicht ohne eine Spitze: Der Herr Daschner, der wohl bekannt sein dürfte, ist trotz Verurteilung, dass er strafbar gehandelt hat, ohne Bestrafung weggekommen, weil er ja nicht wissen konnte, dass foltern verboten ist und er ja auch nur Gutes wollte usw.

Gesammelte Falschaussagen
Von Interesse hinsichtlich der Glaubwürdigkeiten der ZeugInnen ist die Frage, wie stark sie sich selbst oder untereinander widersprachen. Daher soll hier eine Liste ausgewählter Widersprüche folgen:

Aussagen von Herrn Gail
  • Zeuge Gail hatte bereits in der ersten Instanz eine Falschaussage zu seinem Wissen um die Anwesenheit von Zivilpolizei gemacht, das ist bekannt. Die Zeugenvernehmung von KHK Urban hat das in diesem Prozess eindrucksvoll bestätigt. Außerdem hat Rechtsamtsleiter Metz berichtet, dass er während der Stadtverordnetensitzung vom Leiter des Stadtverordnetenbüros, Herrn Bill, von den Absprachen mit der Polizei erfahren hat. Von wem, wenn nicht von Gail, will wiederum Bill das aber wissen? Es ist daher wahrscheinlich, dass Gail nicht, wie bewiesen, von allem wusste, sondern sogar noch andere informierte – die im übrigen alle dichthielten, als Gail dann nach dem Polizeieinsatz die Stadtverordnetenversammlung belog. Ein bemerkenswerter Filz der Obrigkeit ...
  • Genau dazu hat Gail seine Falschaussage dieses Mal erweitert – noch bevor er weitere Aussagen verweigerte. Er stritt nämlich diesmal zusätzlich ab, von dem Bereitstehen der Eingreiftruppe in der Polizeistation Gießen-Nord gewusst zu haben. Das ist eine weitere Falschaussage, denn auch in diesem Punkt ist der Vermerk und der hier abgegebene Bericht von Herrn Urban eindeutig. Erst danach eilte ihm das Gericht zu Hilfe und drängte ihn zur Aussageverweigerung. Doch dieser Satz war schon gefallen.
  • Auch eine weitere Aussage war falsch: Gail hat von „3 Elementen“ gesprochen, die seiner Meinung nach sicher seien: Transparent ... Zwischenrufe ... Flugblätter. Das erste gab es unstrittig, es baumelte friedlich von der Balustrade. Unklar ist, wer es dort hinabrollte. Die Zwischenrufe gab es nur in Gails Phantasie während der laufenden Sitzung. Gail sagte, „es gab Zwischenrufe“ und sogar „Anmachen“ in Richtung der Stadtverordneten gegeben. Tonband und alle anderen Zeugen widersprechen dem deutlich. In einer Sitzungsunterbrechung mit Stadtverordneten zu reden, ist aber weder verboten noch eine Störung. Zeuge J. berichtete klar, dass er nicht durch Zwischenrufe, sondern von Gail unterbrochen wurde. Gail habe „gleich reingeredet“. Die Flugblätter sind eine Erfindung oder Verwechselung seitens Herrn Gail. Es ist unklar, warum er sich darauf festlegte, dass es sie sicher gegeben habe. „Auf jeden Fall wurden Flugblätter geworfen“, sagte er wörtlich. Damit und mit der Erfindung der Zwischenrufe hat er seinen ohnehin bekannten Falschaussagen zwei weitere angefügt.
  • Gail gab zu, dass die Anzeige die erste ihrer Art war, begründete dies damit, dass bisher seine Anordnungen immer befolgt wurden. Dem widersprach deutlich der Rechtsamtsleiter Metz, der schilderte, dass auch bei Störungen in den Sitzungen vorher Gails Forderungen nicht befolgt wurden und deshalb diesmal die Strafanzeige erfolgt sei, während Gail eben die Einmaligkeit der Nichtbefolgung als Grund nannte.
  • Schließlich hat er bezüglich des Ablaufs der Strafanzeige eine falsche Aussage gemacht. Er sagte in seiner Vernehmung am 8. Prozesstag, die Polizei habe ihn am Abend noch gefragt, ob er Anzeige erstatten wolle. Er habe diesen Vorgang an Herrn Metz vom Rechtsamt delegiert, der dann die Entscheidung getroffen hat, Anzeige wegen Hausfriedensbruch zu stellen. Er, Gail habe mit dem weiteren Verlauf nichts mehr zu tun gehabt. Metz habe gesagt: „Natürlich müssen wir Strafanzeige stellen“, und dann im Folgenden ohne weitere Beteiligung von Gail das Verfahren betrieben, u.a. auch ohne ihn, Gail, entschieden, dass Anzeige gestellt wird. Dem widersprach Zeuge Metz nicht nur, sondern konnte einen schriftlichen Gegenbeweis präsentieren, nämlich die Aufforderung von Gail, in dem dieser Metz anwies, die Strafanzeige zu stellen.
  • Ein bisschen unklar bleibt auch, warum Herr Gail trotz bester Sichtposition eigentlich so wenig mitbekam, z.B. hinsichtlich des Transparentabrollens oder der sich entfernenden Personen. Er konnte dazu keine Angaben mehr machen. Das widerspricht seinen eigenen Worten, dass schon ängstlich auf die anwesenden Personen schaute: „was macht er denn jetzt, (...) jeder wartete ganz gespannt, was passiert denn jetzt“
  • Ebenso unklar bleibt, welche Absprachen zwischen den Inhabern des geteilten Hausrechts bestanden. Gail sagte, er hätte sich mit Dr. Kölb abgestimmt diesbezüglich und nur die Verantwortung für den Saal übernommen. Die Festnahmen, z.B. das von Zeugin V. beschriebene auf den Boden werfen und fesseln der Angeklagten und des Zeugen A. geschah aber auf dem Flur bzw. im Treppenhaus, also außerhalb des Saales. Zeuge A. hatte sogar von sich aus den Saal verlassen (wie neben ihm auch Zeuge J. bestätigte) und war trotzdem, also außerhalb des Zuständigkeitsbereichs von Gail, verhaftet worden. Bislang ist nichts bekannt über Absprachen von Polizei und den Hausrechtsinhabern auf der anderen Seite der Saaltüren – außer der Bemerkung von Bürgermeister Haumann in genau dieser Sitzung am 27.3.2003. Auch er will gar nichts davon gewusst haben, dass Polizei da gewesen sei. Hat er gesagt damals ... so wie er auch mal gesagt hat, es hätte eine Bombendrohung gegeben. Klärungsbedarf ist also noch gegeben ...

Angesichts dieser massiven Lügen und Falschaussagen von Herrn Gail kann seinen Schilderungen keine besondere Glaubwürdigkeit zukommen. Wenn er schon ständig aus politischen Gründen Dinge erfindet, warum soll er das bei seiner Behauptung, er hätte die Angeklagten auch unabhängig vom Transparent zum Verlassen des Raumes aufgefordert, nicht auch getan haben. Aber es ist noch bemerkenswerter: Er hat das nicht einmal überzeugend behauptet. In Bezug auf die Frage, ob er die Angeklagten des Saales verwiesen habe, konnte sich Zeuge Gail nur sicher daran erinnern, dass er mehrfach (an andere Stelle sprach er von „dreimal“) die Angeklagten aufforderte, das Transparent einzurollen. Das will ab dem zweiten Mal mit der Androhung der Räumung verbunden haben: „...“. Ob er ohne diese Verbindung mit dem Transparent zum Verlassen des Saales aufforderte, wusste er selbst nicht mehr genau.

Zeugin Mutz
Die Staatsschutzbeamte Mutz, ihr neuer Name ist Noeske, tischte eine bemerkenswerte Story auf. Sie will aus privatem Interesse vor Ort gewesen sein. Doch ihre Vernehmung brachte daran erhebliche Zweifel:
  • Sie saß genau den zu observierenden Personen gegenüber mit optimalem Blick auf sie.
  • Zudem hat sie eine Kamera dabei, die nicht ihr privat, sondern dem Polizeipräsidium Mittelhessen gehört. Und fotografierte genau das, was sie auch sollte.
  • Später geht sie im Festnahmetross mit auf die Polizeistation. Das begründete sie in ihrer Vernehmung mit „Wollte mir einen Kaffee holen“.

Die Schilderung ist lächerlich. Worum ging es wirklich? Die Zeugin versuchte mit ihrer Aussage, eine Lügen des Polizeipräsidenten und der Polizei-Pressestelle zu decken.

KOK Mutz hatte eindeutig sichtbar den Auftrag, als Angehörige des Staatsschutzes die Personen aus dem sogenannten Umfeld der Projektwerkstatt zu beobachten und sogar zu fotografieren. Sie saß von Beginn an im Stadtverordnetensaal – unabhängig von irgendwelchen „Entwicklungen“, die Polizeipräsident Meise als überraschende Änderungen vor Ort herbeiphantasiert. Eine Staatsschützerin mit Fotoapparat sitzt weder zufällig noch spontan noch aus persönlichem Interesse an solch einem Ort und mit dieser Ausstattung. Da sie auch eine zivile Polizeikraft ist, muss die Aussage von Polizeipräsident Meise in der FR vom 17.3.2005 auch auf sie angewendet werden. Meise sagte, wie schon zitiert: „Es war in keinster Weise geplant, dass zivile Kräfte ins Parlament gehen.“ Der Ausdruck „keinster“ unterstreicht, dass Meise selbst jegliches Missverständnis ausschließen wollte. Nichts, gar nichts sei geplant. Wie aber kommt dann eine Staatsschützerin vor Ort, die gar nicht als spontane Einsatzgruppe begriffen werden kann? KOK Mutz hat dem Gericht eine erfundene Story aufgetischt, um ihren Chef und die Presseabteilung der Polizei zu schützen.

Zeuge Metz
Zeuge Metz sprach im überwiegenden sehr stringent und in sich widerspruchsfrei. Daher sind seine Aussagen von großer Bedeutung. Er widerlegte Gail sowohl hinsichtlich des Ablaufs beim Stellen der Strafanzeige, außerdem beschrieb er, dass Herr Gail erst nach einiger Zeit das heruntergelassene Transparent bemerkte. So schilderte es ja auch Herr J., der selbst auch erst an der entstehenden Unruhe im Stadtverordnetenplenum auf das Transparent aufmerksam wurde. Es hat als keine Unruhe und Rufe von der Tribüne gegeben. Die Darstellung von Herrn Gail ist falsch.

Den Ablauf beim Erstellen der Strafanzeige schilderte Zeuge Metz wie folgt: Er berichtete zunächst von einem unverbindlichen Gespräch mit Herrn Gail über mögliche Konsequenzen direkt nach der Sitzung. Dann hätte Stadtverordnetenvorsteher den schon benannten Brief mit der Aufforderung zu einer Strafanzeige wegen „Störungen“ an Herrn Metz geschickt. Dieser Brief liegt vor. Rechtsamtleiter Metz berichtete dann, dass Gail mit der konkreten Formulierung des Strafantrags nichts mehr zu tun hatte und die dann schließlich abgesandte Fassung auch erst als Durchschrift erhielt, als sie schon abgeschickt war.

Zeuge Urban
Der Auftritt des Chefs der Operativen Einheit der Polizei Gießen war beeindruckend. Es war das einzige und erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, mit einem Beamten mittelhessischer Polizeibehörden zu tun zu haben, der sowohl überhaupt durchschaut, was er tut und zum zweiten schlüssig Abläufe beschreiben kann. Bei allen anderen Zeugen hier und auch bei meinen vielfachen Begegnungen mit Polizei in den vergangenen Jahren hatte ich diesen Eindruck nie: Lügen, völlige Ahnungslosigkeit über rechtliche Grundlagen des Polizeihandelns, widersprüchliche Aussagen, fehlende Fähigkeit sich auszudrücken bis hin zu plumper Neigung zur Gewalt sind für mich bislang die prägenden Merkmale Gießener Polizisten gewesen. Mit KHK Urban ist endlich mal ein Polizeibeamter aufgetreten, der bewiesen hat, dass das nicht so sein muss. Er führte eine Kommunikation auf Augenhöhe und war der einzige Zeuge, der die Souveränität besaß, einen Widerspruch zwischen einer Aussage und seinem Vermerk auf einen Irrtum seinerseits zurückzuführen und diesen Irrtum zu korrigieren. Alle anderen Zeugen verstummten entweder und bauten bei ihren Vernehmungen frei jeglichen Bezug zu tatsächlichen Abläufen an ihren Lügengebäuden herum.

Vor Herr Urban ziehe ich daher den Hut – er ist der einzige Polizist, dem ich angstfrei begegnen kann, weil ich weiß, dass er eine offene, gleichberechtigte Kommunikation beherrscht und daher nicht zu Gewalt oder ähnlichem neigen muss, wenn ihm Argumente fehlen. Ich bedaure, dass jemand mit solchen Fähigkeiten Polizist geworden ist, wo er doch Befehlsstrukturen genau nicht braucht. In der Sache zum vorliegenden Anklagepunkt hat Urban nichts beigetragen außer dass er mit der eindeutigen Korrektur seines Aktenvermerk zu verbalen Störungen eine weitere Lüge des Stadtverordnetenvorstehers Gail bezeugte.

Aufklärer auf der Anklagebank
Ergänzend möchte ich zur Klärung der Situation auf etwas hinweisen, was offensichtlich ist. Hier stehen die beiden Aufklärer nicht nur der Gail-Lügen, aber auch dieser als Angeklagte vor Gericht. Die Anzeigeerstatter und einige BelastungszeugInnen gehören zu denen, die bewusst die Unwahrheit gesagt haben. Das ist eine groteske Situation.

Die damalige Aktion im Stadtparlament richtete sich gegen einen sehr ähnlichen Fall – nämlich der Lüge des damaligen Bürgermeisters und heutigen Oberbürgermeisters Haumann, genauer seine Erfindung einer Bombendrohung. Auch diese Lüge musste mit viel Aufwand geklärt werden. Die offiziellen Regierungs- und Verwaltungsstellen waren wochenlang mit Vertuschungsversuchen beschäftigt. Der König der Vertuscher aber wurde dann die Gießener Staatsanwaltschaft und insbesondere Staatsanwalt Vaupel. Ich selbst habe minutiös und präzise die Daten zur erfundenen Bombendrohung zusammengetragen. Sie wurden im März 2004 in der damaligen ersten „Dokumentation von Fälschungen, Erfindungen und Hetze durch Presse, Politik, Polizei und Justiz in und um Giessen“ veröffentlicht. Diese Dokumentation ist auch der Polizei und der Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Neben der Bombendrohung sind viele weitere Straftaten von Polizei, PolitikerInnen und Redakteuren nachgewiesen worden. Doch niemand hat Ermittlungen aufgenommen. Am 8.6.2004 habe ich deshalb selbst umfangreiche und mit vielen Belegen unterfütterte Anzeigen eingereicht – u.a. zur Bombendrohung von Herrn Haumann und auch zur Falschaussage von Herrn Gail. Eigentlich ist das nicht meine Aufgabe, sondern die der Staatsanwaltschaft. Aber die Gießener Staatsanwaltschaft hat offenbar andere Ziele als Ermittlungen. Auch im Fall Gail hat sie binnen weniger Tage, d.h. ohne jegliche Ermittlungen, das Verfahren eingestellt.

Vor diesem Hintergrund ist die Situation hier skuril, dass genau ich hier und heute sowie bei den weiteren Terminen dafür sorgen muss, dass Straftaten aufgedeckt werden, während ich gleichzeitig darum kämpfen muss, dass das Gericht nicht wieder den überführten Lügnern glaubt und am Ende ich ins Gefängnis wandere, wären das Gras über all die anderen Dinge wächst und Herr Vaupel das tut, was er so gerne tut: Einstellen, wenn es sich gegen das obere Drittel dieser Gesellschaft richtet.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat aus der Gießener Allgemeine vom 1.4.2003, der Text ist also kurz nach den Vorgängen in der Stadtverordnetenversammlung geschrieben worden und von den Eindrücken dort geprägt: „Nicht nur die, die das Gewaltmonopol der Polizei in Frage stellen, müssen ihr Verhältnis zum Rechtsstaat klären; das gilt auch für jene, die sich angesichts berechtigter Fragen und leisester Kritik an der Staatsmacht jedes Mal gleich wie Heinrich Manns Untertan aufführen“. Diese „leiseste Kritik“ steht hier heute zur Aburteilung. Insofern könnte nicht nur der Polizeieinsatz, sondern auch das Verfahren gemeint sein.

Daher hielte ich eine Verurteilung nicht nur für formal unmöglich, sondern auch für unangemessen. Wenn es eine Schuld gibt, dann die, nicht richtig darauf geachtet zu haben, was der Hausrechtsinhaber genau will, vorauseilend gehorsam und gefügig gewesen zu sein. Angesichts erfundener Bombendrohungen und ständiger Polizeigewalt in den Monaten vor der Stadtverordnetensitzung würde ich heute hier auch um Verständnis bitten, wenn ich geschrieen oder randaliert hätte am 27.3.2003 nach vielen Wochen mit Lügen, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Beschlagnahmen, Polizeiprügel und mehr. Das habe ich aber alles gar nicht gemacht. Eine Verurteilung wäre deshalb wegen der extrem geringen Schuld, die in dieser Unaufmerksamkeit gegenüber einem inakzeptabel eng ausgelegtem Hausrecht besteht. Ich kann darauf lernen, auch bei Unruhe noch achtsamer zu sein, was irgendwelche aufgeregten Hausrechtsinhaber oder überforderten Polizeibeamten mit so alles mitteilen wollen. Aber das zu garantieren fällt schwer, denn solche Situation sind hektisch und erfordern viel Aufmerksamkeit für mehrere parallele Vorgänge. Herr Gail „war aus dem Häuschen“ schilderte Herr Urban. In der Stadtverordnetenversammlung war „Unruhe“ bis „Tumult“, schilderten mehrere Zeugen. Ich habe in dieser Pause, die da ja schon war, von der Tribüne herunter Gespräche mit Stadtverordneten geführt, auch das weder verboten noch eine Störung der Sitzung selbst.

Letztlich ist das für den Prozess aber unerheblich. Denn unabhängig von der Frage, ob die Aufforderung zum Verlassen deutlich und bedingungslos, also ohne Bezug zum Transparenteinrollen, erfolgt ist, bleibe ich der Meinung, dass eine Verurteilung hier und heute ohnehin nicht in Frage kommt, weil die Anzeige nicht formgerecht zustande kam und daher ein Schuldspruch nicht möglich ist, zudem fehlt der für eine Strafe notwendige Vorsatz, die Garantie der Öffentlichkeit sowie die das stützende Aussage von KHK Urban am Beginn der Versammlung mussten den Angeklagten tatsächlich suggerieren, sich mit Befugnis auf der Tribüne aufzuhalten.

Links
  • Download dieses Plädoyers als .rtf
  • Übersichtsseite zum Plädoyer-Freitag am 11. Verhandlungstag
  • Übersichsseite zur Berufungsverhandlung
  • Übersicht zum Rahmenprogramm des Verfahrens (u.a. Veranstaltungsreihe zu Repression, Knast und Justiz)
  • Polizeidoku Giessen- über Fälschungen und Hetzte seitens Polizei, Presse und Politik

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