Laienverteidigung

STRAFE - RECHT AUF GEWALT

„Strafe macht zwischenmenschlich keinen Sinn!“


1. „Wenn nichts mehr geschützt ist, kann nichts mehr gelebt werden“
2. „Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Prozess“
3. „Strafe macht zwischenmenschlich keinen Sinn!“
4. „Strafe ist ein notwendiges Übel“
5. „Eine Empörung gegen unsere Selbstgerechtigkeit“
6. „Es gibt weder Recht noch Gerechtigkeit“
7. „Es gibt eine gewisse Eigenverantwortung“

Interview mit Jörg Bergstedt, Ökoaktivist, Buchautor und Anarchist aus Reiskirchen-Saasen (Mittelhessen, Deutschland). Bern, 10. Februar 2007.

Wo liegt das Problem, welches Sie dazu gebracht hat, Strafe so kritisch zu hinterfragen?
Das entstand durch meine Auseinandersetzung mit Herrschaftsmomenten und der Frage wie eine herrschaftsfreie Gesellschaft aussehen kann. Strafe gehört meines Erachtens zu den ganz prägenden Elementen in dieser Gesellschaft. Es gibt viele unterschiedliche Formen von Strafe und es ist etwas, was einem im Alltag ständig begegnet. Strafe ist daher eine sehr prägende Form von Herrschaft. Die Disziplinierung von Kindern in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, am Arbeitsplatz – das sind alles Momente der Strafe. Das Strafrecht ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als die aufgedonnerteste Form, da es Bestrafung zu einem Ritual macht, während zum Beispiel die Disziplinierung von Kindern in der Familie eher geräuschlos abgeht.

Sie sprechen sich also auch gegen die Bestrafung von Kindern aus?
Ja, auf jeden Fall. Strafe ist prinzipiell eine Form von Interaktion zwischen Menschen, bei der die Kommunikation nicht horizontal abläuft. Es ist nicht irgendwie zufällig, wer da gerade wen bestraft, sonst würde man es gar nicht Strafe nennen.

Kann man mit einem Kind horizontal kommunizieren? Viele Pädagogen sind ja der Ansicht, Strafe sei nichts anderes als eine Reflektion, eine selbstverständliche Reaktion, die ein Kind auch versteht. Dieses Spiel von Handlung und Reaktion führt schliesslich erst dazu, dass ein Mensch seine Handlungen bewusst und mit Einbezug seines Umfelds vollziehen und einschätzen kann.
Ich finde es ja durchaus sinnvoll, wenn die Menschen miteinander sprechen und sich einander aufmerksam machen, wenn etwas als schlecht empfunden wird, damit die Möglichkeit der Reflektion da ist. Das würde aber genau voraussetzen, dass es auf Gegenseitigkeit basiert. In dieser Definition gibt es überhaupt keinen Anhaltspunkt, warum das eine Einbahnstrasse sein soll. Selbst bei einem dreijährigen Kind und seinen Eltern gäbe es keinen Grund, warum nicht auch mal das dreijährige Kind den Eltern sagen kann, „hey, was ihr da macht, ist scheisse!“ Strafe ist aber systematisch mit einem Hierarchiegefälle verbunden. Es ist von Vornherein definiert, wer wen bestrafen kann. Zwar sind Situation manchmal offen, wenn sich zwei Menschen begegnen, die sich noch nicht kennen. Sobald sich aber einer der beiden als Herrscher über die Situation aufschwingt und Strafe ausübt, ist spätestens in dem Moment, wo diese Person eine Strafaktion durchführt, klar, dass es sich um ein Hierarchiegefälle handelt. Strafe wäre gar nicht durchführbar ohne diese Hierarchie. Das würde sich ja keiner gefallen lassen.

Strafen kann also nur der, der oben steht auf den Unteren – aber nicht umgekehrt?
Das ist die Logik von Strafe. Jener der unten steht müsste dieses Verhältnis umkehren, um auch in den Genuss zu kommen, Strafen zu können. Das Gegenstück von Strafe ist ja bekanntlich Gnade – jemanden nicht bestrafen. Aber auch Gnade hat genau dieselbe Konstruktion, die geht nur von oben nach unten. Das Kommunikationsverhältnis der Menschen ist also schieflastig, solange es diese Momente gibt. Und genau diese Form von Kommunikation will ich nicht.

Gerade daraus entsteht ja die Idee eines Rechtsstaates, eines gesetzlich festgelegten Strafens, indem man sagt, „vor dem Recht sind alle gleich“. Es gibt also nicht diese Hierarchiestufen sondern die gesamte Bevölkerung, die sich Gesetze gibt, und alle die sich nicht daran halten werden gleich bestraft.
In einer solchen Betrachtungsweise stecken meiner Ansicht nach ganz viele Unsinnigkeiten. Schon die Aussage „jeder ist vor dem Gesetz gleich“ stimmt so nicht. Selbst wenn zwei Personen vor einem bestimmten Paragraphen gleich wären, aber eine dieser Personen den Paragraphen ändern kann, so sind sie eben nicht gleich. Dieses Potential, den Paragraphen zu ändern, ist bereits einen Unterschied. Andererseits ist die Ungleichheit im Strafgesetzbuch gut sichtbar. Die wenigsten Strafgesetze dienen nämlich dazu, Menschengewalt einzudämmen. Die meisten Paragraphen dienen der Eigentumssicherung. Hier ist es logisch, dass die Menschen nicht mehr gleich sind, denn wer kein Eigentum hat, dem nützen diese Strafgesetze nichts, wer viel Eigentum hat, dem nützen sie entsprechend auch mehr. Der zweitgrösste Brocken ist der Schutz des Staates und seiner Symbole.[1] Diese zwei Teile machen den grössten Teil des Strafrechts aus, und schon da ist erkennbar, dass auch die konkrete Strafe, wie sie in der Praxis gelebt wird, nichts mit Gleichheit zwischen Menschen zu tun hat.

Sie sagen, das Strafrecht hat gar nicht zum Ziel, Menschengewalt zu brechen?
Einmal kann man das ganz empirisch belegen: Wenn man das Strafgesetzbuch durchblättert, die Paragraphen zählt und schaut, wofür sie eigentlich da sind, so fällt einem auf, dass es am allerwenigsten um das Verhältnis der Menschen untereinander geht. Zum Anderen fällt auf – und das ist in der Rechtsphilosophie völlig unbestritten –, dass es beim Strafrecht überhaupt nicht um die Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen von Menschen untereinander geht, sondern um die Durchsetzung einer abstrakten Rechtsordnung. Wenn du einen Menschen tötest, ist nicht das Schlimme, dass du ihn umlegst, sondern dass du etwas tust, was der Rechtsordnung widerspricht. Es steht nämlich nicht das Töten eines Menschen unter Strafe, sondern nur eine bestimmte Art: Wenn du eine Person tötest, kriegst du Lebenslänglich. Wenn du hundert tötest, kriegst du einen Orden. „Der Staat bestraft den Mord, sichert sich aber das Monopol darauf“, hatte auch Bert Brecht erkannt. Allein daran kann man sehen, dass nicht ein bestimmtes Verhalten sanktioniert wird. Wenn du bei Karstadt ein Handy klaust, wirst du bestraft. Wenn ein grosser Konzern irgendwelchen Leuten, die sich nicht wehren können, hektarweise Land klaut, so macht er Profit. Das Strafrecht ist also dafür da, eine ganz bestimmte interessensgeleitete Rechtsordnung durchzusetzen.

Ein dritter Aspekt sind die Opfer. Vor Gericht geht es dem Staat nie um die Opfer! Dies kann man bereits daran erkennen, in welche Lage die Opfer geraten (das ist gerade in Vergewaltigungsprozessen sehr bekannt und diskutiert, gilt aber im Prinzip für alle). Die Opfer haben in einem Strafprozess eine total beschissene Stellung – nämlich als Zeugin oder Zeuge. Hier sind sie Objekt von allen. Die großartige Selbstinszenierung dient vor allem dem Staat und seinen Würdeträgern, die symbolisch dafür stehen, die Rechtsordnung wieder herzustellen. Nur um die geht es immer. Anlass und Gegenstand von Strafprozessen ist, dass jemand die Rechtsordnung übertreten hat. Die Menschen, auch die Opfer, interessieren sie nicht! 

Diese Rechtsordnung entspricht aber in einer Demokratie der Rechtsvorstellung einer Mehrheit der Bevölkerung.
Erst mal stimmt das historisch gesehen nicht. In den meisten Ländern stammen die meisten Gesetze aus vordemokratischen Zeiten. Das ist nur dort anders, wo die Demokratie bis in die Zeit zurückgeht, wo man Strafgesetze aufzustellen begann. In Deutschland besteht die Rechts-Katastrophe aber bis zum Abwinken, weil diese Demokratie – die ich persönlich auch nicht für eine besonders intelligente Gesellschaftsform halte – relativ jung ist. Eine Vielzahl der Strafgesetze stammen noch aus der Kaiserzeit und eine extrem hohe Zahl stammt aus dem Nationalsozialismus. Da gibt es viele Beispiele. Um nur eines zu nennen: Wenn ich jemandem Tipps gebe, wie man sich vor Gewaltübergriffen des Staates schützen kann, so ist das sogenannte Rechtsberatung, und die ist in Deutschland verboten.[2] Dieses Gesetz stammt aus der Nazizeit, um damals jüdischen Anwälten, denen die Lizenzen entzogen wurden, die Rechtsberatung zu verbieten. Dieses Gesetz gilt bis heute. Es ist also total absurd zu behaupten, dass dieses Recht aus irgendeinem demokratischen Prozess entsprungen ist.

Es ist ohnehin eine Halluzination, dass die Rechtssprechung im Auftrag des Volkes passiert, da dieses als solches gar nicht handlungsfähig ist. Dass die unterschiedlichsten Menschen, die in einem Raum wie der Schweiz leben, zusammen eine handlungsfähige Einheit bilden und jemanden beauftragen, das ist die Halluzination, die vor allen Dingen die „Beauftragen“ immer wieder erzeugen. Es ist das gleiche Spielchen wie früher, als irgendwelche Leute im Namen von Gott redeten, damit sie ein bisschen autoritätsaufgeladen sind, weil sie offenbar sonst an Argumenten nicht besonders viel zu bieten hatten. Heute macht man das indem man „im Namen des Volkes“ spricht. Nur gibt es dieses Volk überhaupt nicht. Das ist eine Konstruktion, damit bestimmte Leute doch wieder mehr Legitimation vorgaukeln und dadurch Macht aufbauen können. Alle diese Leute, die sich auf das Volk berufen, schaffen damit dieses Volk erst. Das hat nie darüber diskutiert. Die meisten aus dem sogenannten Volk kennen so gut wie keines dieser komischen Gesetze, von dem irgendwelche Leute behaupten, die hätte das Volk gemacht. Wenn ein Richter sein Urteil „im Namen des Volkes“ ausspricht, so wurde dieses nicht von den einzelnen Menschen ausdiskutiert. Das Volk dient nur Propagandazwecken. Man plustert sich auf in Autorität und bringt dann seine Privatmeinung als Volksmeinung rüber. Das gilt hier für das Strafrecht – in der Familie ist es ähnlich: Wenn die Eltern ihr Kind verprügeln, so heisst es „wir tun nur das Gute für das Kind“. Der Begriff „das Gute“ ist hier genauso mit einer bestimmten Definitionsmacht versehen. Es ist eben nicht so, dass alle Menschen gleichermassen definieren können, was das Gute oder was die Meinung des Volkes ist. Das können nur bestimmte Menschen, die treten dann auf und verstecken sich hinter diesem Unsinn, wenn sie ihre Herrschaft ausleben.

Recht ist also nur die Privatmeinung eines Richters?
Nicht unbedingt. Oder sagen wir, es muss nicht so sein. Recht ist das, worauf sich diese Leute ja berufen. Aber Recht ist logischerweise sehr strukturkonservativ. Recht wurde in der Vergangenheit geschaffen und gilt für die Zukunft. Es ist in der Logik von Recht immer enthalten, dass Gesetze immer aus einer uralten Zeit stammen, weil Rechtsetzungsvorgänge ziemlich lange dauern. Das deutsche Strafrecht stammt zum Beispiel im Kern aus dem Jahr 1877.[3] Wenn etwas gesellschaftlich passiert und ein Neuregelungsbedarf entsteht, so dauert es bereits Jahre, bis die Politik oder die zuständigen Behörden diesen erkennen, und wenn sie anfangen zu diskutieren ist das Thema schon längst veraltet. Bis dann das Gesetz verabschiedet ist und irgendwann in Kraft ist es auf einem Stand der über zehn Jahre zurückliegt. Und dann gilt es erst mal eine Weile, weil es viel zu aufwändig ist, es wieder zu ändern. Es bezieht sich aber auf einen Zeitpunkt, der ewig lang her ist. Damit erschwert das Recht gesellschaftlichen Fortschritt und Weiterentwicklung. Man muss zum Gesetzesbrecher werden, wenn man diese Gesellschaft verändern will. Die Leute in Robe würden die Einsteins, Martin Luther Kings, Mahatma Gandhis dieser Welt und andere Leute, die in den Geschichtsbüchern hochgehalten werden, ihr Leben lang in den Knast sperren, weil diese immer gegen die Regeln verstoßen haben. Recht ist die Aufrechterhaltung der Vergangenheit in der Zukunft. Deshalb ist der Bezug auf Recht nicht besonders gewinnbringend.

Sie halten die Demokratie „nicht für eine besonders intelligente Gesellschaftsform.“ Andere Argumentationen[4] kritisieren die heute gelebte Demokratie zwar als falsch und unvollkommen, aber mit der Motivation, die Demokratie zu verbessern. Da die Menschen von Natur aus unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten haben, die einen stärker, die anderen schwächer sind, lässt sich eine Gesellschaft mit dem höchsten Mass an Freiheit für den Einzelnen gar nicht anders verwirklichen als mit der Demokratie. Ohne eine institutionelle Herrschaft würden diese Unterschiede zwischen den Menschen zu Ungerechtigkeit und Unfreiheit führen. Mit einer Demokratie hat man immerhin die beste Möglichkeit, die Herrschaft in den Dienst des Schwächeren zu stellen, da jeder eine Stimme hat, und damit den Machtunterschieden zwischen den Menschen entgegenzuwirken.

Ja, das ist ein schönes Bild – aber herrschaftstheoretisch meines Erachtens Unsinn. Angenommen es gibt diese Unterschiede zwischen Menschen – dafür spricht ja einiges (unabhängig davon ob sie natürlichen oder sozialen Ursprungs sind) - und die Menschen neigen dazu, ihre Privilegien zum eigenen Vorteil auszunutzen und damit anderen zu schaden. Daraus aber zu folgern, man müsse eine institutionelle Herrschaft aufbauen, um die Menschen wieder zu egalisieren, geht von einer völlig falschen Überlegung aus. Man würde dann ja annehmen, dass Menschen in einer Herrschaftsposition weniger geneigt sind, ihre Privilegien auszunutzen, als wenn sie diese Position nicht haben. Das ist absurd. Wäre ich privilegierter und könnte mich besser durchsetzen als Sie, dann wäre es doch noch fataler, wenn ich darin zusätzlich mit Regeln bestätigt würde. Denn wer von uns beiden würde wohl den massgeblichen Einfluss auf die Regeln haben? Es ist ja kein Zufall, dass im Bundestag kaum Rollstuhlfahrer sitzen. Wir haben zwar einen rollstuhlfahrenden Minister in Deutschland, was aber daran liegt, dass er wichtiger Politiker wurde, bevor er im Rollstuhl gesessen hat, sonst wäre er das nie geworden.[5] Das heisst, Menschen die privilegiert sind, haben auch wieder privilegierte Möglichkeiten, diese institutionellen Machtposten zu ergaunern. Herrschaft ist immer eine Verstärkung der ohnehin bereits vorhandenen Ungleichheiten.

Diese Menschen, die an der Macht sind, in diesen Institutionen agieren, leben aber ständig mit der Gefahr, abgewählt zu werden. Dadurch können sie ihre Privilegien nicht einfach so ausnutzen.
Das fördert einzig eine populistische Orientierung. Wenn sie wiedergewählt werden wollen, müssen sie sich nach bestimmten wahltypischen Kriterien verhalten. Dass eine politische Stellung zur Wahl gestellt wird, führt also auch nicht dazu, dass die Politik eine höhere Qualität gewinnt.

Der Mechanismus, wie die Leute in ein Amt reinkommen, ist ein Nebenproblem. Das Hauptproblem ist die konkrete Position, die sie in diesem Amt haben. Natürlich kann es passieren, dass diese Amtspersonen durch Personen gestürzt werden, die ebenfalls über solche Privilegien verfügen. Aber das waren nicht Leute aus Zusammenhängen, die sonst keine Privilegien haben. Was stattfindet sind immer nur Konkurrenzkämpfe innerhalb von Eliten. Und diese Eliten sind enorm dadurch stabilisiert, dass es diese ganzen Verregelungsmechanismen gibt.

Wie könnte man den Machtunterschieden zwischen den Menschen sonst entgegenwirken?
Viel eher, indem man sich dafür engagiert, dass die Gesellschaft kommunikativer wird. Damit werden die Unterschiede zwischen zwei Personen nicht mehr so relevant, weil sie im gesellschaftlichen Getue nicht isoliert stehen, sondern sich über sehr komplexe Beziehungen mit allen möglichen Leuten austauschen. Wenn jemand dann trotzdem Macht ausübt, würde eine kommunikative Reaktion entstehen, es würden sich viele Menschen einmischen und intervenieren. Das denke ich, hat die Chance, das Verhältnis zwischen Menschen zu verändern. Aber nicht indem einzelne Leute noch zusätzlich Macht kriegen, um wieder aufzupassen.

Zurück zu Strafe: Zweifeln Sie auch an deren konkreten Nutzen?
Grundsätzlich schon. Einerseits im Vergleich mit den genannten Alternativen. Andererseits bringt Strafe meines Erachtens aber schon als solches, auch ohne Vergleich mit einer emanzipatorischen Alternative, erhebliche Nachteile, weil sie Kommunikationsverhalten in eine bestimmte Richtung drängt. Die Situation vor Gericht ist besonders auffällig für eine solche Analyse: Der Staatsanwalt will gewinnen und verschweigt entlastende Sachen, weil es darum geht sich taktisch durchzusetzen. Und der Angeklagte ist gut beraten, sich ebenso zu verhalten, auch wenn er in einer offenen Kommunikation vielleicht eher seine Fehler einräumen würde. Es ist wie eine Fernsehshow, wo man sich gegenseitig niedermetzelt. Das führt zu einem Kommunikationsverhalten, bei dem die Unaufrichtigkeit gefördert wird und auf keinen Fall passiert, was notwendig wäre, nämlich dass sich Menschen in einer Art und Weise auseinandersetzen, bei der die Chance besteht, dass sich Menschen verändern. Und zwar dann nicht aus Angst[6], sondern aus gegenseitigem Interesse.

Daher hat Strafe per se eine massiv negative Wirkung. Hinzu kommt noch, dass Strafe Menschen sozial isoliert, was eindeutig die Chance bei weitem erhöht, dass sie wieder und verschärft straffällig werden. Mir ist es persönlich zwar relativ egal, wenn Menschen straffällig werden. Wenn jemand in einem riesigen Kaufhaus ein Handy klaut, wo es mehr Handys gibt als es für den aktuellen Bedarf der ganzen Stadt reichen würde, warum soll ich da was dagegen haben? Was ich problematisch finde ist macht- und gewaltförmiges Verhalten von Menschen untereinander – und zwar unabhängig davon, ob es strafbar ist oder nicht. Hier habe ich die Hoffnung, dass gesellschaftliche und kommunikative Reaktionen die Menschen verändern, die so etwas tun. Das tut Strafe aber definitiv nicht, tatsächlich ist es eher umgekehrt. Die Erstbestrafung wegen Minidelikten ist die Einstiegsdroge für die kriminelle Karriere und später auch für Gewaltdelikte.[7]

Kann man dann in jedem Fall einfach kommunizieren? Kann man mit einem kaltblütigen Mörder oder Sexualverbrecher, bei dem irgendwas nicht mehr richtig tickt, überhaupt noch reden? Muss man da nicht einfach die Möglichkeit haben, gegen solche Menschen Massnamen einzuleiten, damit sie mit ihren Handlungen nicht mehr Menschen schädigen können?
Wer eine solche Meinung vertritt, müsste eigentlich konsequent die Todesstrafe fordern. Weil wenn jemand unverbesserlich ist – und über solche Fälle wird ja geredet – so bringt auch das „der Resozialisierung dienende“ Einsperren nichts mehr[8]. Dann würde man allerdings etwas klarer sehen, was für ein Denken hinter einer solchen Meinung steht. Welcher Mensch will sich anmassen, andere Menschen als unrettbar deklarieren zu können?

Andererseits, was hat das mit dem Thema Strafe zu tun? Sitzen im Knast lauter Sexualmörder? Die sind dort eher selten! In den Knästen sitzen ganz andere Leute. Und dafür sind die Knäste auch gebaut. Sonst würde ein Knast mit ein paar Plätzen für ganz Deutschland oder die Schweiz reichen! Ich glaube, dass die Horrorbilder von den Sexualstraftätern und Mördern ohnehin in fast allen Fällen nicht mit den realen Abläufen übereinstimmen. Die Vergewaltigung ist normalerweise das Ende eines Prozesses, den es, behaupte ich, in fast allen Fällen nie so gegeben hätte, wäre die Gesellschaft kommunikativer gewesen. Sexistische Übergriffe sind ja in Konstellationen wie „Familie“[9] oder Cliquen gang und gäbe. In der Regel geschehen vor einer Vergewaltigung extrem viele Abläufe, die ganz viele Leute mitkriegen, die aber alle weggucken – weil wir nicht in einer Gesellschaft der Kommunikation leben und man für Interventionen nicht zuständig ist. Es sollten nicht erst, wenn eine Vergewaltigung stattfindet oder – meistens ja – stattgefunden hat, die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Bildzeitung kommen, sondern bereits dort reagiert werden, wo das Problem anfängt. Das Drama ist in unserer Gesellschaft nicht nur, dass auf die harten Nummern mit Strafe reagiert wird, was die Sache nicht verbessert, sondern dass auf die anderen Geschichten gar nicht reagiert wird, dass es niemanden interessiert. Da könnte ich mir eine ganz andere Gesellschaft vorstellen, wo dieses Endstadium, die richtig heftige Gewalttat, kaum noch vorkommt, weil solches Verhalten viel früher abgefangen wird. Beim Morden sehe ich das ähnlich. Viele Morde gehen auf das Konto einer langen Entwicklung.

Diese Horrorfälle, die immer wieder von Leuten heranzitiert werden, die offensichtlich keine guten Argumente für Strafe wissen (was ich ja sehr gut nachvollziehen kann, es gibt nämlich auch keine! J), sind absolute Ausnahmefälle, für die die Strafjustiz eigentlich gar nicht geschaffen ist. Und selbst wenn man davon ausgeht, dass in einer utopischen Gesellschaft die eine oder andere schreckliche Gewalttat weiterhin vorkommen wird, so will ich lieber in einer Gesellschaft leben, wo diese vorkommen aber darauf kommunikative Reaktionen folgen, als einen Apparat aufzubauen, der systematisch Horror verursacht.

Wo liegen also die Ursachen von Verbrechen, von schädlichen Handlungen?
Das sind zwei unterschiedliche Fragen. Ketzerisch würde ich sagen, ein Verbrechen geschieht dadurch, dass man eine bestimmte Handlung mit einem Strafparagraphen im Strafgesetzbuch versieht. Manchmal nimmt man sie auch wieder raus – und dann ist es kein Verbrechen mehr. Man denke zum Beispiel an den Abtreibungsparagraphen. Das war irgendwann mal ein Verbrechen, dann war es kein Verbrechen mehr. So einfach geht das. Es ist immer noch dieselbe Handlung. Früher war Menschen zu töten eine heilige Handlung – das nannte sich dann „Opfer“. Heute würde man das anders sehen.

Natürlich gibt es aber für die konkreten schädigenden Handlungen auch Ursachen. Auch Affekttaten haben eine Ursache, sind aber ganz anders zu betrachten als etwas Geplantes. Die überwiegende Mehrheit der anderen Straftaten haben ihre Ursache im Leben der Menschen, die daran beteiligt sind. Das ist extrem häufig gesellschaftlich bedingt. Die mit Abstand grösste Masse bilden Eigentumsdelikte, wobei die meisten Eigentumsdelikte im Strafbereich Beschaffungskriminalität sind. Hier ist logisch, dass wenn jemand Drogen nimmt und um die Drogen zu finanzieren kriminell wird, das eindeutig soziale Ursachen hat. Auch Gewaltdelikte haben meist deutlich erkennbar soziale Ursachen.

Straftaten sind also kein individuelles Problem des Einzelnen? Hat der Mensch nicht einen freien Willen und kann seine Handlungen abwägen?
Natürlich, der Mensch kann theoretisch immer selbst entscheiden aus dem Punkt heraus, auf dem er – wiederum in sozialen Prozessen geprägt – gerade steht. Auch eine Person die durch Drogenkonsum in massive psychische Zwänge gedrückt wurde, Geld zu beschaffen, kann sich in dem Moment immer noch dagegen entscheiden. Selbst wenn ich in einem Drittweltland hungere und dann Land besetze, so könnte ich das auch lassen – dann verhungert man halt. Die Frage ist nur: Warum sollte man das tun? Was ist der individuelle oder was der gesellschaftliche Sinn? Weil irgend so ein Strafgesetzbuch das verhindert! Genau das ist der Unterschied zu einer kommunikativen Gesellschaft. In einer solchen Welt würde nicht nach den Regeln entschieden, sondern danach, was Menschen miteinander aushandeln. Das ist eine viel spannendere Geschichte, als wenn das Ganze verregelt wird und die Privilegierten, die Strafrechtsfanatiker, nun auch noch behaupten, sie würden die Leute davor schützen, dass sie untereinander gewalttätig werden. Dabei sind sie ja gerade diejenigen, die diese gewalttätige Gesellschaftsordnung durchsetzen.

Damit will ich nicht die Individuen freisprechen, als wären sie nur gesteuerte Maschinen! Aber trotzdem würde ich nicht eine Schuldfrage stellen. Es spricht einiges dafür, dass der soziale Druck, der zu bestimmten Notwehrmassnahmen führt, hoch ist. Aber nebenbei: Strafe würde ohnehin alles nur wieder schlimmer machen. Nirgendwo passiert mehr Gewalt als im Knast. Wer also will behaupten, dass Knäste dafür da sind, Gewalt zu verhindern?

Besteht in einer solchen utopischen kommunikativen Gesellschaft, wie sie es als Alternative sehen, nicht die Gefahr, dass sich bestimmte Menschen, die bessere kommunikative Fähigkeiten haben, sich über andere hinwegsetzen?
Diese Gefahr besteht. Das zu verneinen wäre absurd. Es wird im Zwischenmenschlichen immer wieder zu der Reorganisierung von Hierarchien kommen aufgrund der Unterschieden, die da sind. Meine Hoffnung ist allerdings, dass in einer stärker kommunikativen Gesellschaft zwar Unterschiede bleiben, aber auf einem „höheren Niveau“ des Umgangs damit. Zum Beispiel, indem das Erkennen von Hierarchien einfacher gelingt und man das nicht nur den Zufällen überlässt. Streit ist ohnehin häufig auch eine Ursache, aus der Straftaten entstehen. In einer kommunikativen Gesellschaft könnten bewusst offensive Streitmöglichkeiten geschaffen werden, wo man nicht nur darauf wartet, dass sich Konflikte zufällig regeln, sondern ganz positiv damit umgegangen wird. Streit bedeutet schließlich vor allem unterschiedliche Meinung und ungeklärte Situation. Ungeklärte Situationen aber können den Ansporn sein, dass sich Dinge in der Gesellschaft verbessern. Dann geht es darum, nicht in einen Machtkampf einzutreten, sondern eine Streitkultur zu entwickeln, bei der Ideensammlung, kreative Lösungen und neue Entwürfe in den Vordergrund treten.

Kann man, wenn man diese Idee verwirklichen will, das nicht auch innerhalb des jetzigen Systems machen?
Nein, in dem Sinne kann man das meines Erachtens nicht. Ich würde aus persönlichen Gründen sagen, solange ein Richter in Robe einen halben Meter über mir schwebend mich ins Gefängnis zu stecken droht, so lange werde ich mich definitiv nicht mit dem auf eine offene Debatte einlassen, wo ich ihm erzähle was ich so denke und was ich so weiss von den Sachen. Er ist mein Gegner, nicht mein Kommunikationspartner. Man kann innerhalb des Jetzigen Räume schaffen, in denen es anders ist. Das finde ich zum Experimentieren sehr interessant

Wie kann man denn vorgehen?
Wie in allen Bereichen bin ich der Meinung, dass die Vielfalt das Interessanteste ist. Dass es nicht den einen Weg gibt. Aber auf jeden Fall würde ich sagen, es müssen widerständige und visionäre experimentelle Bereiche dazugehören. Das heisst, sowohl Einfluss nehmen, dass es konkret andere Bereiche in dieser Gesellschaft gibt. Wie auch ganz frech widerständig sein. Jede Gerichtsverhandlung ist ein optimaler Ort, um den Unsinn von Strafe zu thematisieren. Man kommt nicht umhin, das Schlechte schlecht zu machen.

[1] Paragraphenstatistik am Beispiel des Deutschen Strafgesetzbuches: Nur gerade 7.3% der Paragraphen behandeln ausschliesslich Gewalttaten gegen Menschen. Die überwiegende Mehrheit, rund 74,7%, betreffen den Schutz von Staat und öffentlicher Ordnung, den Schutz von Eigentum, Wirtschaft und Markt sowie normgerechtes Verhalten. Dazwischen befassen sich 18% mit Delikten, welche z.T. in Kombination mit gewaltförmigem Verhalten stehen. (Siehe Tabelle) [Gruppe Gegenbilder (Hrsg.). Autonomie und Kooperation. 2005. Reiskirchen-Saasen]

[2] „In Deutschland ist die Rechtsberatung durch das Rechtsberatungsgesetz gesetzlich reglementiert. Eine rechtliche Beratung im Einzelfall dürfen nur bestimmte Personen vornehmen, nämlich im Wesentlichen nur Rechtsanwälte, Rechtsbeistände, Steuerberater, Patentanwälte. Diese müssen eine bestimmte Ausbildung nachweisen, um ihre Zulassung zu erhalten.“ [Quelle: de.wikipedia.org/wiki/Rechtsberatung]

[3] Vgl.: Bossi, Rolf (2006): „Halbgötter in Schwarz“, Goldmann in München (S. 89).

[4] Vgl.: Martin Wilke. Demokratie statt Anarchie – über die Unmöglichkeit, Herrschaft abzuschaffen. Thesen für eine Ordnung der Freiheit [www.martinwilke.de/anarchie.htm] „[...] Herrschaft kann, wenn sie in den Dienst der Schwächeren gestellt wird, dazu genutzt werden, Ungleichverteilung von Macht [hier: Handlungsmöglichkeiten anm.] zu reduzieren. Herrschaft kann den Machtlosen Macht geben, indem sie die Macht der Mächtigen beschränkt. Herrschaft kann eine organisierte Gegenmacht gegen private Macht Einzelner darstellen. [...] Herrschaft muss durch das Recht begrenzt werden und sollte sich auf defensive, machtausgleichende und konfliktentscheidende Herrschaft beschränken. [...] Demokratie führt nicht automatisch zu Freiheit des Einzelnen aber ein Höchstmass an Freiheit innerhalb einer Gesellschaft lässt sich nicht ohne Demokratie erreichen“

[5] Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Inneren: „Mitglied des Bundestages seit 1972; 1981 bis 1984 Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion.“ [Quelle: bundestag.de] „Am 12. Oktober 1990 wurde Schäuble bei einem Attentat nach einer Wahlkampfveranstaltung ... durch einen Schuss ... schwer verletzt. Er ist seitdem vom dritten Brustwirbel an abwärts gelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen.“ [de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Schäuble]

[6] Anm. Jörg Bergstedt: Strafe kann im Einzelfall bewirken, dass Menschen aus Angst keine Straftat mehr begehen. Das ist allerdings kein besonders grosser Teil, die meisten werden sich überlegen, wie sie das besser hinkriegen. Der eine oder andere Mensch wird sogar umgebracht, weil er Zeuge einer Tat war und der Täter Angst hat, von dieser Person vor Gericht gezerrt zu werden – das Strafrecht führt also unmittelbar zu Todesfällen.

[7] Diese Aussage trifft auch Kreisrichter Fritz Äbi (Siehe Interview Seite 79): „Im Kreisgericht, bei grösseren Delikten [Freiheitsstrafe von über einem Jahr, Anm.], sind die allermeisten Fälle solche mit Vorstrafendossiers. Menschen, die einmal mit kleinen Delikten angefangen haben und immer tiefer in die Kriminalität hineingerutscht sind. Dass wir dort jemanden haben, der gar nichts vorher gehabt hat, kommt selten vor.“

[8] Interessant dazu: Interview mit Kreisrichter Fritz Äbi. Laut ihm ist lebenslängliche Strafe oder Verwahrung weniger absolut als die Todesstrafe, da für den Täter die Möglichkeit besteht, sich zu ändern. Auch wenn dies in der Praxis kaum realistisch erscheint.

[9] Dazu Bergstedt: „So etwas zusammengeklumptes wie eine Familie ist ja meist ein hoch anonymer Haufen, wo ausser Ohren lang ziehen und Arbeitsaufträge verteilen häufig sehr wenig Kommunikation stattfindet, vor allem horizontale Kommunikation fehlt da meistens. Die wäre aber sehr wichtig, damit auf Vorgänge reagiert wird.“

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