Offener Raum

TIPPS BEI FESTNAHMEN

Einleitung


1. Einleitung
2. Festnahme und Inhaftierung (Gewahrsam) nach Polizeirecht
3. Festnahme und Haft nach Strafrecht
4. Vorläufige Festnahme bei Verdacht einer Straftat
5. Was bei jeder Festnahme, Vorladung und Polizeikontakt gilt ...
6. Beschwerdemöglichkeiten
7. Links und Materialien

Die Polizei kommt - und schwups sitzt mensch im Streifenwagen oder auf der Wache. Das passiert nicht ständig, aber bei manchen Demonstrationen zu Hunderten. Und es kann jederzeit geschehen, wenn die Polizei mit einer Situation nicht fertig wird. Denn die Polizei kann nach zwei Rechtslogiken festnehmen: Einmal um bei Verfolgung einer Straftat die Flucht oder Spurenbeseitigung zu verhindern - dann handelt sie auf Grundlage der Strafgesetze. Oder sie nimmt jemensch fest, um eine Straftat oder Störung der öffentlichen Ordnung zu verhindern, handelt also präventiv. Dann sind die für jedes Bundesland existierenden Polizeigesetze die Grundlage.
Grundsätzlich, also in beiden Fällen gilt: Jede Einschränkung ist der Bewegungsfreiheit ist Freiheitsentziehung. Die beginnt schon, wenn die Polizei befiehlt „Stehen bleiben!“ Mensch darf sich nicht mehr wegbewegen. Je länger die Einschränkung dauert, desto bessere Gründe muss die Polizei dafür haben. Für einfache Kontrollen oder Anweisungen gibt es einen Haufen Gesetze, die das erlauben, und Anlässe, die dafür reichen. Für einen "Polizeikessel", der formal etwas ganz Ähnliches ist wie eine Zelle auf der Wache, muss schon ein recht weitreichender Grund als Rechtsgrundlage da sein. Erst recht gilt das für Festnahmen über längere Zeiträume. Beruht diese auf dem Strafrecht, muss ein besonderer Grund für eine mögliche Flucht benannt werden oder es besteht sogenannte Verdunkelungsgefahr, wenn Spuren oder Beweismittel beseitigt werden könnten. Auch ein Unterbindungsgewahrsam, wie die Inhaftierung zur Gefahrenabwehr heißt, darf z.B. nach dem hessischen Polizeirecht (HSOG) nur erfolgen, “wenn dies

  1. zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet,
  2. unerläßlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern,
  3. unerläßlich ist, um Maßnahmen nach § 31 durchzusetzen, oder
  4. unerläßlich ist, um private Rechte zu schützen und eine Festnahme und Vorführung der Person nach den §§ 229, 230 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches ohne polizeiliches Einschreiten zulässig wäre."

Allerdings bleibt das Problem: Polizei tut meist einfach das, was ihr am einfachsten zur Erreichung eines bestimmten Zieles erscheint – mit und ohne Gesetz. Wehren ist verboten - du darfst nachträglich klagen und feststellen lassen, dass alles hätte nie passieren dürfen ...

Aus BVerfG, 1 BvR 142/05 vom 8.3.2011
Der Schutzbereich des Grundrechts umfasst sowohl freiheitsbeschränkende als auch freiheitsentziehende Maßnahmen. Eine Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Eine Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung ist nur dann gegeben, wenn die tatsächlich und rechtlich an sich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 94, 166 (198)).

Übersicht über Festnahmesituationen und -gründe
  • Personalienfeststellung: Oft angewendet, aber auch hier nur mit Begründung möglich - die Polizei muss einen Grund angeben und der muss auch vor Gericht überprüft werden können, warum sie eineN mitnimmt. Die einfachen Personalien kann sie in der Regel nämlich auch vor Ort überprüfen. Hat mensch keinen Personalausweis dabei, reicht das meist als Grund fürs Mitnehmen. Aber: Festgehalten werden darf mensch dann auch nur zu diesem Zweck. Der kann nicht viele Stunden dauern, sollte mensch meinen ...
  • Eine erweiterte Form, auch möglich als Spurensicherung, ist die erkennungsdienstliche Behandlung (ED). Hier werden Fingerabdrücke genommen – altmodisch mit viel schwarzer Farbe oder modern mit Scannern. Fotoshooting ist angesagt, manchmal auch mehr – DNA-Entnahme geht aber mit Zustimmung oder richterlich angeordnet. Gegen alles kannst du einen Widerspruch zu Protokoll geben. Das geht auch später per Brief. Achte darauf, bei den ganzen Stationen und möglichen Wortwechseln keine Aussagen zu machen. Für kreatives Nerven bieten die ganzen Sachen natürlich viele Anlässe – wer Lust hat, kann das ganze Spektrum von Ungeschicklichkeit über Falschverstehen bis Überidentifikation ausreizen.
  • Gewahrsam: Weil die Polizei Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder eine unmittelbar bevorstehende Straftat fürchtet, kann sie nach Polizeirecht (siehe z.B. Aus dem Hessischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz) Menschen in Gewahrsam nehmen. Es gilt, dass sie dafür einen genauen Grund haben muss, der wiederum auch vor Gericht überprüfbar sein muss. Daher muss die Polizei (spätestens bei einer gerichtlichen Überprüfung) den Grund benennen und erklären können. Sonst ist es ohnehin rechtswidrig.
  • Festnahme nach Strafrecht: Steht eine Person unter dem Verdacht, eine Straftat begangen zu haben, so ist die Inhaftierung mit dem Strafrecht zu begründen. Sie dient dann z.B. dem Verhör, der Spurensicherung (am Körper, an der Kleidung u.ä.), einer erkennungsdienstlichen Behandlung oder anderem. Gegen alles kann direkt Widerspruch eingelegt werden, dann muss das Ganze nochmal schriftlich begründet werden in der (zu erwartenden) Ablehnung des Widerspruchs. Das ist schlau, immer zu machen, um sich die Möglichkeit der weiteren Klagen/Beschwerden offen zu halten, da die Widerspruchsablehnung oft wichtige Informationen über die Motive der Polizei und schriftliche Einlassungen liefert, auf die mensch sich bei der Klage beziehen kann. Mündliche Aussagen sind schwer verwertbar. Nach den strafrechtlichen Ermittlungsmassnahmen muss mensch wieder auf freien Fuß gesetzt werden (ohnehin spätestens am Ende des Folgetages). Will die Polizei jemanden länger festhalten, muss sie sofort und wiederum spätestens vor Ende des Folgetages eineN RichterIn einschalten. DieseR beschließt dann z.B. über Untersuchungshaft (bei Flucht- oder Verdunkelungsgefahr - letzteres meint, dass Spuren verwischt werden könnten u.ä.). Wie immer: Für all das müssen Gründe benannt werden. Allerdings wird es hier noch komplizierter: Führt der/die RichterIn keine an, geht die erste Beschwerde an sie/ihn selbst. Denn wenn RichterInnen Recht brechen, sind nur wenig Chancen da, dagegen vorzugehen, denn es handelt sich um die rechtssprechende Gewalt, die hier Recht bricht - und die daher keine externe Kontrolle mehr kennt, nur die höhere Instanz ... mit der sie aber zusammen studiert haben, die gleichen Cafes besuchen, im RichterInnenverband zusammensitzen und sich in der Kantine treffen.
  • Relativ neu ist die Idee der Hauptverhandlungshaft - eine ganz üble Kiste bei kleineren Straftaten. Danach kann ein (scheinbar) auf frischer Tat ertappter Mensch in Untersuchungshaft gesteckt werden (wie bei Untersuchungshaft per richterlichem Beschluss), wenn keine hohe Strafe zu erwarten ist, aber der Prozess innerhalb einer Woche stattfinden kann. Dann kommt mensch einfach gar nicht mehr raus und sieht das erste Mal was anderes als den Knast, wenn der Prozess in der ersten Instanz beginnt. Da die Zeit von maximal einer Woche selten reicht, um überhaupt in Akten zu gucken oder sich auf den Prozess vorzubereiten, bedeutet dieses beschleunigte Gerichtsverfahren eine Art standrechtlicher Entscheidung mit sehr geringen Verteidigungsmöglichkeiten. Allerdings ist ein Pflichtverteidiger immer drin, denn wer im Knast sitzt, bekommt immer einen Verteidiger auf Staatskosten bestellt. Dazu muss man aber einen angeben können - oder bekommt einen unbekannten zugeschanzt von der anderen Seite.
  • Für alle Fälle gilt, dass sowohl Polizei wie auch jede beliebige andere Person eine vorläufige Festnahme vornehmen kann, wenn ansonsten die Gefahr besteht, dass sie eine verdächtige Personen durch Flucht der Festnahme entziehen würde.

Im Original: Freiheitsentziehung durch die Polizei
Aus dem Urteil des EGMR zu den Gewahrsamsorgien beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten (EGMR, Urteil vom 01.12.2011 - 8080/08, 8577/08 - juris), zitiert nach den Leitsatzkommentaren von Tronje Döhmer
69. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass eine erschöpfende Liste zulässiger Gründe für die Freiheitsentziehung in Artikel 5 Abs. 1 Buchstaben a bis f enthalten ist und eine Freiheitsentziehung nur rechtmäßig sein kann, wenn sie von einem dieser Gründe erfasst wird (siehe u. a. Guzzardi ./. Italien, 6. November 1980, Rdnr. 96, Serie A Band 39; Witold Litwa ./. Polen, Individualbeschwerde Nr. 26629/95, Rdnr. 49, ECHR 2000-III; und Saadi ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 13229/03, Rdnr. 43, ECHR 2008-…).

70. Nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c kann die Freiheitsentziehung einer Person gerechtfertigt sein, „wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern". Dieser Grund für die Freiheitsentziehung bietet den Vertragsstaaten lediglich ein
- Mittel zur Verhütung einer, insbesondere hinsichtlich
- des Ortes und
- der Zeit ihrer Begehung und
- ihres Opfers bzw. ihrer Opfer
(siehe M. ./. Germany, Individualbeschwerde Nr. 19359/04, Rdnrn. 89 und 102, 17. Dezember 2009),
- konkreten und spezifischen Straftat
(siehe Guzzardi, a.a.O., Rdnr. 102; Ciulla ./. Italien, 22. Februar 1989, Rdnr. 40, Serie A Band 148; und Shimovolos ./. Russland, Individualbeschwerde Nr. 30194/09, Rdnr. 54, 21. June 2011 (noch nicht endgültig)).

Dies ergibt sich sowohl aus dem Gebrauch des Singulars („einer Straftat") als auch aus dem Ziel von Artikel 5, nämlich sicherzustellen, dass niemandem willkürlich die Freiheit entzogen wird (siehe Guzzardi, a.a.O.; und M. ./. Deutschland, a.a.O., Rdnr. 89).

71. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs muss eine Freiheitsentziehung, mit der eine Person an der Begehung einer Straftat gehindert werden soll, zusätzlich
- „zum Zweck der Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde"
erfolgen; diese Anforderung bezieht sich auf jede Kategorie der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe c (siehe Lawless ./. Irland (Nr. 3), 1. Juli 1961, S. 51-53, Rdnr. 14, Serie A Band 3, und, sinngemäß, Jec(ius ./. Litauen, Individualbeschwerde Nr. 34578/97, Rdnrn. 50-51, ECHR 2000-IX, und Engel u. a. ./. die Niederlande, 8. Juni 1976, Rdnr. 69, Serie A Band 22).

72. Daher ist die Freiheitsentziehung nach Buchstabe c nur in Verbindung mit einem Strafverfahren zulässig (siehe Jedius, a.a.O., Rdnr. 50). Die Untersuchungshaft fällt unter diese Bestimmung (siehe Ciualla, a.a.O., Rdnrn. 38-40). Dies ergibt sich aus Wortlaut, der zusammen mit Buchstabe a sowie mit Absatz 3 zu betrachten ist und mit diesen zusammen ein Ganzes bildet (siehe u.a. Ciualla, a.a.O., Rdnr. 38; und E. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 77909/01, Rdnr. 35, 24. März 2005). Nach Artikel 5 Abs. 32 muss jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentzug betroffen ist, unverzüglich einem Richter vorgeführt werden - unter allen in Absatz 1 Buchstabe c erfassten Umständen - und hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist (siehe auch Lawless, a.a.O., S. 51-53; Rdnr. 14).

73. Darüber hinaus ist die Freiheitsentziehung nach der zweiten Alternative von Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b zulässig zur
- „Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung".
Diese Bestimmung erfasst die Fälle, in denen es gesetzlich zulässig ist, einer Person die Freiheit zu entziehen, um sie dazu zu zwingen, eine ihr bereits obliegende tatsächliche und konkrete Verpflichtung zu erfüllen, der sie bisher noch nicht nachgekommen ist (Engel und andere, a.a.O., Rdnr. 69; Guzzardi, a.a.O., Rdnr. 101; Ciulla, a.a.O., Rdnr. 36; und E., a.a.O., Rdnr. 37). Festnahme und Freiheitsentzug müssen erfolgen, um die Erfüllung der Verpflichtung zu erzwingen, und dürfen keinen Strafcharakter aufweisen (siehe Gatt ./. Malta, Individualbeschwerde Nr. 28221/08, Rdnr. 46, ECHR 2010-…). Sobald die entsprechende Verpflichtung erfüllt wurde, entfällt die Grundlage für die Freiheitsentziehung nach Artikel 5 Abs. 1 Buchstabe b (Vasileva ./. Dänemark, Individualbeschwerde Nr. 52792/99, Rdnr. 36, 25. September 2003; und E., a.a.O., Rdnr. 37). Diese Bestimmung rechtfertigt beispielsweise nicht die administrative Freiheitsentziehung, mit der eine Person gezwungen werden soll, ihre allgemeine Verpflichtung zur Befolgung der Gesetze zu erfüllen (Engel u. a., a.a.O, Rdnr. 69). Schließlich muss zwischen der Bedeutung, die der Sicherstellung der sofortigen Erfüllung der fraglichen Verpflichtung in einer demokratischen Gesellschaft zukommt, und der Bedeutung des Rechts auf Freiheit ein Ausgleich herbeigeführt werden (Vasileva, a.a.O, Rdnr. 37; und E., a.a.O., Rdnr.37).


  • Extraseite zu den Handlungsbefugnissen der Polizei

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