Offener Raum

SELBSTVERTEIDIGUNG VOR GERICHT: RECHTE, FORMALE MÖGLICHKEITEN UND AKTIONEN

Tipps für Angeklagte mit und ohne Rechtsbeistand/AnwältIn


1. Tipps für Angeklagte mit und ohne Rechtsbeistand/AnwältIn
2. Tipps in der Vorphase des Prozesses
3. Tipps für den Prozess selbst (Gerichtsverhandlung)
4. Beweisaufnahme
5. Plädoyers und Letztes Wort
6. Urteil
7. Aussagen und Sachverständige
8. Berufung, Revision & Co. - nach dem ist vor dem ...
9. Das Publikum
10. Angst vor Gericht(en): Einschüchterungsgründe vor Gericht und Umgang mit denen
11. Berichte und weitere Links
12. Direct-Action-Hefte zum Thema und weitere Materialien

Gerichtsverfahren sind wie ein Theater. Die Rollen sind immer die gleichen, aber vor allem die Angeklagten können sie recht unterschiedlich ausfüllen. In ihrem Auftritt entscheidet sich, ob es sich um eine Zurechtweisung oder Bestrafung in einer Kommunikation von oben nach unten, um einen Schlagabtausch auf Augenhöhe oder sogar ein Tribunal z.B. gegen Politik, Konzerne, die Justiz selbst oder andere handelt.
Es gibt viele Möglichkeiten, Gerichtsprozesse offensiv zu führen.

Welche Gerichtsverfahren taugen besonders für öffentliche Auseinandersetzungen?
Am meisten die Strafverfahren gegen Menschen, die sich gegen gesellschaftliche Verhältnisse gewehrt haben. Dann kann nämlich der leider viel zu selten eingebrachte § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) vorgebracht und damit das Gerichtsverfahren zu einem Tribunal verwandelt werden. Bei den Prozessen um Feldbefreiungen (Agrogentechnik) vor ca. 10 Jahren war das Standard und ganz am Ende sogar erfolgreich. Hier können auch gutachterlicher Stellungnahmen und vor allem Auftritte sachverständiger Zeug*innen sehr wirkmächtig sein. Das zu organisieren, wäre zum Beispiele eine gute Sache.
Einige typische Verfahren für diese Strategie dürften Wolfsburg im Zusammen mit der Blockade des VW-Werks im Jahr 2019 laufen (Stopp eines mit Neuwagen vollbeladenen Güterzuges).
Problem: Ob es die Verfahren gibt und wann die sind, können wir nicht bestimmen.

Dann gibt es Verwaltungsklagen gegen konkrete Bauprojekte und deren Planungsschritte.
Problem: Immer nur gegen einzelne Vorhaben und bestimmte Planungsdetails. Mit einer allgemeinen Verkehrswendenotwendigkeit/Klimaschutz nicht begründbar.
Aber: Wenn mit Öffentlichkeitsarbeit/Aktionen verbunden, kann es was bringen. Das Verfahren ist dann eher der Aufhänger. Wir projizieren nicht (sinnlos) unsere Hoffnung in eine staatliche Struktur, sondern benutzen die, um öffentlich Druck zu machen.

Verfassungsklage wegen körperlicher Unversehrtheit oder ähnliche Klagen international: Eventuell möglich. Das ist aber auch schon das Problem, dass es schwer einschätzbar ist, ob das überhaupt zulässig ist. Es gilt aber auch hier: Wenn mit Öffentlichkeitsarbeit/Aktionen verbunden, kann es was bringen. Das Verfassungsgericht entscheidet aber in der Regel nicht-öffentlich und ohne öffentliches Verfahren (gibt aber Ausnahmen - das wird dann meist stark beachtet).

Empfohlen von deutschen RichterInnen
Aus einem Bericht aus dem Amtsgericht Schwäbisch Hall: Richterin und Staatsanwalt hatten verständlicherweise wenig Lust auf ein Prozess „wie auf der Seite Projektwerkstatt.de“

Aus dem Urteil am 13.6.2012 von Richter Steinberg Richter am Amtsgericht Braunschweig:
Der Angeklagte hat sich zur Sache nicht eingelassen, sondern - wie vorab im Internet auf der Seite http:/kakakadu.blocksport.de - angekündigt, das Verfahren dazu benutzt, seine grundsätzliche Ablehnung des Rechtssystems zu demonstrieren. Dies zog sich durch die gesamte Verhandlung, wobei er mit seinem Beistand minutiös den Handlungsanweisungen auf der Internetseite "Prozesstipps.siehe.website" folgte. Dort werden genaue Handlungsanweisungen für die Störung von Prozessen durch "offensive Prozessführung" gegeben. An die dortigen Handlungsweisungen hat er sich bis hin zu offensichtlich vorbereiteten und abgesprochenen Störungen durch Publikum in und außerhalb des Gerichtsaales genau gehalten.

Gefürchtet vom Verfassungsschutz
Aus dem Bericht 2011 in Meckl.-Vorp.
Nachdem die Rostocker Ortsgruppe wegen Unstimmigkeiten mit dem Bundesvorstand der „Roten Hilfe e.V.“ aufgelöst wurde, gründeten ehemalige Mitglieder der „Roten Hilfe e.V.“ Ende 2010 in der Hansestadt Rostock eine neue Gruppe unter dem Namen „Schwarz Rote Hilfe Rostock“. Insofern führt sie die Arbeit der ehemaligen „Roten Hilfe Rostock“ weiter, verfolgt dabei aber einen erweiterten, „kreativen Antirepressionsansatz“. Sie sieht sich als Nachfolge der „Roten Hilfe Rostock“ und sagt über sich selbst: „...organisieren wir rechtliche und finanzielle Unterstützung im Repressionsfall, vermitteln Anwält_innen und beraten“. Darüber hinaus wolle sie sich schon im Vorfeld „... theoretisch und praktisch mit repressiven Situationen im Umkreis von Demos“ beschäftigen und „...alternative Verhaltenskonzepte ausprobieren“. So führte die SRH beispielsweise im März 2011 ein „Verhörtraining“ im „Peter-Weiss-Haus“ und im Januar 2011 ein „Prozesstraining“ im „Café Median“ durch, das „verschiedene Umgangsformen mit juristischer Repression“ aufzeigen sollte, mit denen „solidarisches Verhalten gegenüber GenossInnen, praktischer Selbstschutz und widerständiges Verhalten gegenüber dem Justizapparat“ miteinander verbunden werden kann. Dazu gehöre u.a. auch „...das Verfahren ins Uferlose zu ziehen, um den Repressionsrepräsentanten graue Haare wachsen zu lassen“.

Film "Unter Paragraphen - Anspruch und Wirklichkeit im Gerichtssaal"
Der Film zeigt, wie ein Gerichtsverfahren ablaufen müsste. Heimliche Mitschnitte in Strafverfahren belegen dann, dass die Realität davon stark abweicht: Richter_innen brechen beliebig des Gesetz, verwehren den Angeklagten ihre Rechte und beschimpfen sie sogar. Der 90minütige Film bietet aber noch ein drittes: Immer wird erläutert, wie mensch sich wehren könnte - mit praktischen Tipps und den rechtlichen Grundlagen. Insofern ist "Unter Paragraphen" Aufklärung und Lehrfilm zugleich. Mehr Infos und Filme hier ... ++ Der Film auf Youtube ++ Download als mp4-Datei (aktualisierte Version)

Selbstermächtigung statt Bevormundung
Aus einer oft weniger konfrontativen Ecke, nämlich den Gewaltfreien, kommt ein ziemlich spannender Text zur Frage der Selbstverteidigung (statt Passivität oder Einschüchterung). Dort gibt es auch eine*n Laienverteidigi, d.h. das Prinzip ist nicht unbekannt. Und von dieser Person stammt der folgende Text:

Aus einer Mail von Störfaktor mit dem Betreff "2018: Mehr Literatur, mehr Selbstermächtigung, mehr Newsletter" am 5.1.2018
Natürlich schmeichelt es mir, wenn Angeklagte sich von mir verteidigen lassen wollen, weil ich das so gut kann. Aber wenn das dazu führt, dass er oder sie sich gemütlich zurücklehnt und die eigene Positionierung im Prozess gänzlich abgibt, dann läuft in meinen Augen gehörig was schief. Dann mache ich die Strafverteidigung nur noch als eine Dienstleistung, die besonders günstig ist, weil ich zwar alles gebe, aber vom Gesetz her kein Honorar nehmen darf.
Politische Aktion, insbesondere die Gewaltfreie Aktion ist ein Akt der Selbstermächtigung und der Emanzipation. Nach meinem Verständnis von politischer Aktion muss es neben der Durchsetzung von Forderungen gegenüber dem politischen Gegner auch immer darum gehen, unsere eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten auszubauen. Politische Aktion muss immer auch ein Lernprozess für uns selber sein. Wenn wir diesen Lernprozess nicht ernst nehmen, werden wir auch langfristig nicht vorwärts kommen. Wie wollen wir aber dann die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend verändern?
Aktuell beispielsweise wird wieder die sich verstärkende Repression beklagt. Es ist ja richtig, diesen Vorwurf zu erheben und sich zu empören. Aber glauben wir wirklich, Menschen und Institutionen würden sich so einfach mal die Macht aus den Händen nehmen lassen? Dabei machen sie doch in gewisser Weise nichts anderes als wir: Den Preis des politischen Gegners in die Höhe schrauben, in der Hoffnung, dass noch rechtzeitig beim Gegner der Punkt erreicht wird, an dem ihm der Preis zu hoch wird. Also muss doch ein Ziel unseres Lernens sein, unsere Fähigkeit zu stärken, stärker zu sein als die angebotene Repression. Dazu braucht es eine Haltung, an der wirklich alle - mich eingeschlossen – hart arbeiten müssten. Daran würde ich gerne stärker arbeiten als in den letzten Jahren, wobei es nicht nur darum gehen kann, mutiger zu werden. Auch unsere Kompetenzen im selbstbewussten Umgang mit Autoritäten und unsere Fähigkeit selbstverantwortlich zu entscheiden und zu handeln, müssen weiter ausbilden, denn eine Gesellschaft, in der wir uns nicht ständig über die Herrschenden ärgern müssen, setzt Menschen voraus, die keine Führungspersonen brauchen.
Es geht darum, entschlossener zu werden, indem wir Ängste abbauen und unsere Fähigkeiten ausbauen, Autoritäten souverän entgegen zu treten. Genauso aber auch, dass wir auf uns und die Menschen um uns herum Acht geben; dass wir uns auch über das austauschen, was uns widerfahren ist und uns möglicherweise in unserem weiteren Engagement behindert, bevor der Berg unüberwindbar scheint. Es geht aber auch darum, unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen ohne sie zum allgemeinen Maßstab zu erheben.


Und der Erfolg?
Der ist nicht wirklich messbar. Die hohe Zahl an Einstellungen aber legt nahe, dass offensive Prozessführung sogar besser schützt als das Schweigen an der Seite des formal handelnden Anwalts. Gegenteilige Behauptungen links-autoritärer Kreise (die ansonsten auch schon mal Veranstaltungen und Trainings mit oder ohne Gewaltandrohung verhindern) basieren auf keinerlei statistischen Erhebungen. Die gibt es nämlich nicht. Was aber sicher ist: Offensive Prozessführung kann politische Themen intensiv befördern - die Prozesse um Atomtransporte, Braunkohlewiderstand und das Aktionsschwarzfahren zeigen das ebenso wie die Verhältnisse in Gießen, wo seit vielen Jahren offensive Prozesskultur im Vordergrund steht. Protestaktionen auf der Straße werden dort nur noch selten von Ordnungsamt oder Polizei bedrängt - und bei den Gerichtsverfahren ist es nach vielen spektakulären Prozessen mit zunächst noch Verurteilungen, dann vermehrt Einstellungen, schließlich sogar manch Freisprüchen in 2017 erstmal zu einer Nichteröffnung des Hauptverfahrens trotz Anklage der Staatsanwaltschaft gekommen. So soll es sein ...

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Kommentare

Andre am 11.12.2018 - 16:04 Uhr
Supersache. Danke tausendmal, Joerg und Stoerfaktor :-O

Kleiner Hinweis an Stoerfaktor und aehnlich gestimmte Leienanwaeltis:

Wenn du leienverteidigst, gibt es ja meistens im Vorfeld die Moeglichkeit der Teambildung mit den Beschuldigtis. An dieser Stelle hielte ich es fuer sinnvoll, eine Abmachung zu treffen. Diese Abmachung beinhaltet, unter Beruecksichtigung der spezifischen Befaehigungen, Moeglichkeiten und Stimmungen, die juristische Fach-Meinungsbildung und -Aktivierung (hin zur fundierten Emanzipation).

Quit pro Quo (!) Du hilfst, und die Beschuldigtis lernen (im Sinne von Ausbildung) das, was du fuer sie tust. Dann koennen sie selber auch anderen helfen.

Wie sich das am besten verpacken laesst, moege jede Person selber festlegen.

Alles Gute und Liebe und ganz viel Sonne
(Ausser ihr seit Mondscheinkinder, dann ganz viel Mond )8-)

Mia am 29.03.2018 - 07:33 Uhr
Hallo und vielen Dank für den interessanten Artikel. Trotz der guten Tipps gehe ich lieber auf Nummer Sicher mit einem Fachanwalt für Strafrecht. Es sollte mehr solcher interessanten Inhalte geben.


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