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NGO - INTERNE STRUKTUREN UND STRATEGIEN

Funktion und Funktionsweise


Was ist eine NGO? · Funktion und Funktionsweise · Praxis und Alltag in NGOs · Verbände und Lobbyarbeit · Verbände und Anbiederung · Spenden und Mitglieder jagen · Hauptsache in den Medien? · Links und Materialien

taz wirbt für hierarchische NGOs statt kreative Bewegungen
Aus einem Kommentar von Heike Holdinghausen, Redakteurin für Wirtschaft und Umwelt
Nicht sexy, aber nötig: Extinction Rebellion braucht Hierarchien, klare Regeln und eine Satzung, wenn die Bewegung langfristig erfolgreich sein will. ...
Wer große Geldsummen annehmen will, muss sich professionalisieren und landet am Ende dort, wo BUND, Nabu, Greenpeace oder Urgewald schon sind. Dass viele der junge Wilden dort nicht hinwollen, ist verständlich. Sie setzen lieber Themen, dominieren die politische Debatte. Aber das wird sich erschöpfen. „Die Bewegung“ wird nicht 80 Prozent der Menschheit überzeugen, mal schnell das Klima retten und die Demos schließlich einstellen können. So funktioniert nicht mal die Demokratie im kleinen Deutschland – und der Rest der Welt schon gar nicht. ...
Auch deren etablierte Organisationen sind aus sozialen Bewegungen hervorgegangen. Neben Fridays for Future und Extinction Rebellion mögen die NGOs verstaubt wirken. Doch ob die Rebellen wollen oder nicht: Sie sind den Etablierten schon jetzt näher, als sie glauben. Sie stützen sich auf ihre Erkenntnisse, in ihnen finden sie ihre zuverlässigsten Verbündeten. Wenn es gut läuft, gelingt es Extinction Rebellion, ihre Kraft in eine Form zu gießen. Dann gibt es eine schlagkräftige NGO mehr, mit jungen Mitgliedern, breit verankert, solide finanziert. Arm ist eben nicht sexy.

Sie sagen es selbst ...
Peter Wahl wurde um die Jahrtausendwende zu einem der wichtigsten Führer der heranwachsenen NGOs. Dabei sah er die selbst eher kritisch ...

Im Original: Kritik von Innen - Peter Wahl über NGOs
Peter Wahl, "NGO Multis, McGreenpeace und die Netzwerk Guerilla. Zu einigen Trends in der internationalen Zivilgesellschaft", in: Peripherie Nr. 71 (1998, S. 55ff)
Mehr noch, es ist kaum wünschenswert, NGOs eine größere Rolle zu geben.
Denn, wie viele Autoren zurecht anmerken, gibt es gerade unter Demokratiegesichtspunkten auch problematische Seiten am NGO Phänomen (ausführlich dazu Brunnengräber in diesem Heft). Dabei wird in der Regel der Aspekt der demokratischen Legitimität der NG0s im Vergleich zu aus freien und geheimen Wahlen hervorgegangenen Regierungen in den Vordergrund gestellt. Es besteht weitgehend Konsens in der Literatur, daß NGOs im Vergleich dazu eine nur sehr begrenzte Legitimität besitzen und daher in einem „Legitimationsvakuum“ (Messner, 1998, S. 274) operieren. ...
Die Mitgliedschaft der meisten NGOs bewegt sich aber im dreistelligen Bereich, viele haben noch weniger oder überhaupt keine Mitglieder. Wenn die Arbeit von NGOs Oft mit dem Begriff advocacy (dt. Anwaltschaft) beschrieben wird, dann trifft dies in diesem Fall sehr genau den Sachverhalt: stellvertretend für andere nimmt man mangels einer eigenen Basis deren Interessen wahr.
Darüber hinaus sind die Mitwirkungsmöglichkeiten der Basis in vielen Fällen sehr gering. Sei es, daß traditionelle Verbandstrukturen durch bürokratische Erstarrung kaum Einfluß auf die hauptamtlichen Apparate, die die eigent-lichen Akteure sind, haben. Sei es, daß im Namen von Effizienz und Professionalität anstelle demokratischer Strukturen bewußt straffe Hierarchien etabliert werden. Das bekannteste Beispiel dafür ist Greenpeace, das demokratische Organisationsformen expressisverbis ablehnt. ...
Die Vorbereitungstreffen zur Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro (UNCED) es gab insgesamt vier sog. PrepComs (preparatory committees), von denen jedes für sich bereits eine Konferenz mit mehreren hundert Teilnehmern war und UNCED selbst waren der erste große Auftritt der NGOs auf einer Weltkonferenz. Dies entsprach der Empfehlung des
Brundtland Berichts, in dem es über NGOs hieß: "Immer mehr Probleme von Umwelt und Entwicklung könnten ohne sie [die NGOs; P.W.] nicht in Angriff genommen werden.“ (WCED 1987, S. 322). Die daraus folgende offene Akkreditierungspraxis der UNO hatte es mehreren tausend Organisationen ermöglicht, in Genf, New York und Rio dabei zu sein.
Die Situation war sowohl für Regierungen als auch für NGOs relativ neu.
Das Ensemble der NGOs war zu jenem Zeitpunkt noch weitgehend unstrukturiert. In langwierigen und schwierigen Selbstorganisationsprozessen wurde eine horizontale Vernetzung mit quasi "basisdemokratischen" Zügen angestrebt. Die Partizipation und Artikulation möglichst vieler NGOs sollte ermöglicht werden. Komplizierte Proporzschlüssel zwischen Nord, Süd und Ost NGOs, zwischen großen und kleinen Organisationen und zwischen den verschieden Themen wurden erprobt, um eine demokratische Legitimität innerhalb der NGO Gemeinde und eine gewisse Repräsentativität zu gewährleisten. ...
Im Verlaufe des Rio Prozesses erodierte dieser Ansatz immer mehr. Statt dessen setzte sich ein effizienzorientierter Pragmatismus durch, der das interne Demokratieproblem der NGO Gemeinde nicht mehr reflektierte. ...
Von zentraler Bedeutung war allerdings, daß die Eigendynamik der politischen, kulturellen etc. Diversität unterschätzt wurde. Im Gegensatz zum offiziellen Slogan "Vielfalt ist unserr Stärke“ wurde die Vielfalt als Schwäche oder als lästig wahrgenommen. Die aus der Vielfalt der Identitäten resultierenden Interessenwidersprüche konnten nicht vermittelt werden, z.B. nach dem Modell eines demokratischen Parlaments auf nationalstaatlicher Ebene, mit institutionalisierter Mehrheit und Opposition. Die Widersprüche bestehen zwischen:
• Nord und Süd NGOs,
• gemäßigten und radikaleren NGOs,
• auf Lobby und auf Bewegung orientierten NGOs,
• anglophonen und romanisch geprägten politischen Kulturen,
• finanzstarken und finanzschwachen NGOs,
• großen und kleinen NGOs.
Die Kapitulation vor der Vielfalt reflektiert ein tiefer liegendes, bis heute ungelöstes Problem: Pluralität, politische und kulturelle Vielfalt sind ein Wert an sich, den zu respektieren zum Kernbestand demokratischer Prinzipien gehört. Den Prozeduren demokratischer Entscheidungsfindung dagegen ist eine Tendenz zur Vereinheitlichung inhärent. Das Mehrheitsprinzip und der Zwang zum Konsens, wenn gegenüber konkreten Entscheidungen eine gemeinsame Position gefunden werden soll, nivellieren die Diversität. ...
Auch aus diesem Grunde haben sich zahlreiche NGOs aus der internationalen Arbeit zurückgezogen. Andere wiederum agieren zwar weiter, aber sie müssen dies in einem unstrukturierten Feld tun, in dem hinsichtlich demokratischer Prozeduren quasi anarchische bzw. Marktverhältnisse herrschen. In Abwesenheit eines demokratischen Regelsystems bilden sich wie auf einem unregulierten Markt zunehmend informelle Hierarchien, Asymmetrien, Konkurrenz und Hegemonialstrukturen heraus.
Diejenigen NG0s, die weiterhin auf internationaler Ebene präsent sind, haben daraus die Konsequenz gezogen, vor allem ihre eigene Organisation und Position zu stärken. ...
Auf das Scheitern einer an "basisdemokratischen" Leitbildern orientierten internationalen Vernetzung haben einige große NGOs aus dem Norden mit der Schlußfolgerung reagiert, ihre eigenen Strukturen zu transnationalisieren und zu "global players" zu werden, die an mehreren Punkten des Globus zugleich präsent und handlungsfähig sind. ...
Ungeachtet der politischen Ausrichtung entstehen durch die Transnationalisierung einiger NGOs und NGO Netzwerke neue und starke Akteure, die dazu tendieren, Dominanzzentren in der internationalen NGO Szene zu werden und die mit anderen transnationalen NGOs in Konkurrenz um Einfluß und Ressourcen treten. ...
Die für eine zukünftige Strategie von NGOs interessantesten Lektionen aus der Anti MAI Kampagne sind:
NG0s haben über den Tellerrand ihrer single issues hinaus mit der neoliberalen Globalisierung eine gesellschaftliche Grundproblematik thematisiert;
9 die konfrontative Ablehnung des MAI hat sich gegenüber einer "konstruktiven Verbesserung" durchgesetzt, ohne der Wirkung der Kampagne in Medien und Öffentlichkeit zu schaden;
9 politische Durchsetzungsfähigkeit erreichen NGOs, wenn ihre Themen "die Massen ergreifen“ und Bewegung an der Basis entsteht;
o lockere Netzwerkstrukturen haben sich als effizient erwiesen, zentralistische und hierarchische Organisationsformen dagegen als nicht notwendig, bzw. sie wären wahrscheinlich kontraproduktiv gewesen;
o kleine und zu flexibler Reaktion fähige NGOs haben eine wichtige, wenn auch nicht monopolartige Rolle gespielt. ...
Die einseitige Konsensfixierung als Grundlage der politischen Kultur gilt es um Konfliktbereitschaft und Konfliktfähigkeit zu ergänzen. Alle bedeutenden gesellschaftlichen Veränderungen waren das Resultat von historischen Konflikten und Kämpfen, auch wenn diese dann in historische Kompromissen konsensual konsolidiert wurden. Zukünftig ist der flexible Einsatz sowohl von konfliktiven als auch konsensualen Mitteln erforderlich.


Thomas Gebauer, "...von niemandem gewählt!" in: Ulrich Brand u.a., 2001, Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, Westf. Dampfboot in Münster (S. 101)
Insbesondere größere NGOs, die sich bereits öffentliche Reputation erstritten haben, legen auf die Akzeptanz, die die Organisation in der (medialen) Öffentlichkeit erreicht, in der Regel einen größeren Wert als auf vereinsinterne Demokratie.

Zur Vereinnahmung und Instrumentalisierung (am Beispiel Seattle)
Peter Wahl, WEED und Attac-Funktionär, "Sie küssten und sie schlugen sich", in: Ulrich Brand u.a., 2001, Nichtsregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, Westf. Dampfboot in Münster (S. 133)
Die Gewerkschaften sorten für Akzeptanz im gesellschaftlichen Mainstream, die Blockade des Direct Action Network für - fernsehgerechte - Dramatik und die NGO für die inhaltlich qualifizierte Vorbereitung und Unterfütterung der Aktionen.

Roland Roth, NGO und transnationale soziale Bewegungen ..., in: Ulrich Brand u.a., 2001, Nichtsregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, Westf. Dampfboot in Münster (S. 53)
NGO agieren ... als eine hierarchische nationale und internationale professionelle Elite mit bezahltem Personal, orientiert an konsultativen Prozessen mit nationalen Regierungsinstitutionen und internationalen Organisationen weit abgehoben von lokalen und regionalen Solidaritätsinitiativen, die zumeist auf ehrenamtlicher und freiwilliger Basis arbeiten und weniger als 10 Prozent ihrer finanziellen Mittel vom Staat erhalten. Es gibt also eine starke Tendenz in Richtung separierter Welten. Üblicherweise hat die NGO-Elite ihre lokalen Wurzeln, soweit sie überhaupt vorhanden waren, gekappt und ist wenig interessiert an der Transparenz des Informations- und Verhandlungsgeschehens, zu dem ihre Repräsentanten Zugang haben.

Alex Demirovic, NGO, Staat und Zivilgesellschaft, in: Ulrich Brand u.a., 2001, Nichtsregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, Westf. Dampfboot in Münster (S. 144)
Nur ein winziger Teil der weltweit existierenden NGO kann internationale Konferenzen besuchen und den Entscheidungsprozeß zu beeinflussen versuchen. Sie repräsentieren bestimmte Interessen und Bevölkerungsgruppen, ohne von diesen Bevölkerungsgruppen delegiert und gewählt zu werden; vielmehr entscheidet häufig die Nähe zu Regierungen, einzelnen Staatsapparaten ode Politikern, also persönliche Bekanntschaft oder Zugehörigkeit zu einem Netzwerk, über die Teilnahme. Die Bevölkerung, der "Volkssouverän", weiß häufig nicht einmal, dass sie vertreten wird.

Aus den Ergebnissen der Fachtagung Fundraising und Umweltschutz (Beilage zu punkt.um 6/2002)
Der Markt hat eine regulierende Kraft auf Verbandsinhalte, wenn sich das Anliegen "nicht mehr verkaufen läßt".

Aus "Robin, Tobin und die Gipfelstürmer", in: FR, 17.12.2003 (S. 31)
Entsprechend dem Artikel 71 der UN-Charta können sich NGOs als Berater und Beobachter bei den einzelnen UN-Organen akkreditieren lassen. Dabei gibt es drei Kategorien: In der ersten dürfen die NGO-Vertreter zuhören, in der zweiten Material verteilen, in der dritten eigene Punkte auf die Tagesordnung setzen lassen. Je höher der Status, um so höher die formalen Hürden.
Viele der etwas mehr als 1400 zugelassenen NGOs bleiben in der ersten Kategorie stecken. Aber auch wer die zweite Stufe erklommen hat, ist nicht immer gern gesehen. "Es gibt immer Länder, die versuchen, uns rauszuekeln", sagt Svenja Koch von Greenpeace Deutschland. Meist werfen die Staaten den NGOs Verstöße gegen die Statusvereinbarungen vor. Japan und Norwegen fühlen sich bei jeder Anti-Walfang-Kampagne dazu berufen.
Die NGOs reagieren auf diese Deckelung mit noch größerem Expertentum und noch stärkerer Professionalisierung. Sie bauen unternehmensähnliche Strukturen auf, leisten sich gut bezahlte Managements, perfektionieren ihre Lobbyarbeit, werden zu fantasievollen Förderantragsdichtern und fusionieren ähnlich wie Gewerkschaften und Konzeren zu NGO-Multis. Bei Climate Action Netwerk (CAN), Friends of the Earth International (FOEI) und dem 4,7 Millionen Mitglieder starken World Wide Fund for Nature ist dies der Fall.


  • Kuno Roth, "Das leichte Schwergewicht" - ein Text, wie sich Umweltverbände selbst zahnlos machen, in: Zeitpunkt, 9/2010 (S. 42 f.)

Im Original: Protest als Modernisierer von Staat und Kapitalismus
Aus Annette Ohme-Reinicke (2012): "Das große Unbehagen", Herder in Freiburg (S. 186-189)
Modernisierung oder Aufbruch?
Die Betrachtungen des Maschinensturms und des konservativen Heimatschutzes am Anfang dieses Buches haben gezeigt, dass eine fundamentale Ablehnung technischer Innovationen und technischer Großprojekte nicht selbstverständlich mit einer emanzipatorischen Politik einhergeht. Umgekehrt machte die Affirmation des "technischen Fortschritts" etwa durch die sozialdemokratische Arbeiterbewegung und große Teile der Gewerkschaften deutlich, dass technische Modernisierung gesellschaftlich und politisch nicht neutral sein kann, sondern faktisch eine auf Rationalisierung, Konkurrenz und Vereinzelung basierende Verwertungslogik beinhaltet. "Technischer Fortschritt" ist strukturell eben immer die Weiterentwicklung profitorientierten Denkens und Handelns mit neuen Mitteln, das seit über einem Jahrhundert mit der Verheißung eines qualitativ besseren Lebens daherkommt. Diese Ideologie wird seit einigen Jahrzehnten durch ver-schiedene Protestbewegungen in Frage gestellt und beginnt, sich darin aufzuheben. Das zeigt sowohl die Gespaltenheit der SPD hinsichtlich "Stuttgart 21" als auch die Ablehnung des Projekts etwa durch den DGB Baden Württemberg.
Vielleicht kündigt sich hier eine historische Zäsur des bürgerlichen Selbstverständnisses schlechthin an. Denn die Entwicklung und Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft gründete wesentlich auf der Ideologie, der technische Fortschritt sei naturgesetzlicher Heilsbringer und Schrittmacher der geschichtlichen Entwicklung. Genau das wird aber von den Bewegungen immer massiver in Frage gestellt. Damit ist auch eine wesentliche Säule des bürgerlichen Selbstverständnisses ins Wanken geraten.
In den Auseinandersetzungen um "Stuttgart 21" ist das Selbstbewusstsein der Stuttgarter Bürger als Bürger und das heißt heute: als ein politisch gestaltendes Subjekt gewachsen, keine Frage. Es sind überdies viele wertvolle Erfahrungen damit gemacht worden, wie Proteste organisiert, wie Netzwerke gebildet, wie Informationen ausgetauscht werden können. Es ist aber noch nicht ausgemacht, wohin sich die Bewegung entwickeln wird.
Und allen Bewegungen, die wir bisher unter den Bedingungen der Industrialisierung erlebt haben, scheint eine eigentümliche Dialektik inne: Ziele, Forderungen und Praktiken, gedacht als emanzipatorisch gesellschaftsverändernd, die sich in ihrer Zeit provokativ radikal ausnehmen, geraten im Lauf der Zeit zu Faktoren der Modernisierung. Aus der Arbeiterbewegung wurde Sozialpartnerschaft; die Anti AKW Bewegung wollte die Atomkraftwerke abschaffen und erhielt zunächst "sichere" Reaktoren; die Frauenbewegung wollte Gleichberechtigung der Geschlechter und feiert inzwischen Karrierismus als Erfolg; die Ökologiebewegung bekam verschiedene Tonnen zum freiwilligen Müll Sortieren und die GRÜNEN; die Forderung nach Selbstbestimmung verlängert sich im aktivierten "unternehmerischen Selbst" der Ich AG; der antiautoritäre Aufbruch der 60er Jahre, der sich gegen Normierung und Zwang richtete, diffundiert in "Diversity". Egal, ob es sich um die Arbeiterbewegung als Klasse handelt, die Studentenbewegung, die Frauenbewegung, die Anti AKW Bewegung oder die verstaatlichten sozialistischen Bewegungen: Emanzipatorische Forderungen und Ziele wurden letztlich integriert und diffundieren in neuen Formen kapitalistischer Verwertung.
Diese Dialektik könnte sich auch hinsichtlich der Bewegung gegen "Stuttgart 21" andeuten. Die kleine mentalitäts-geschichtliche Einführung, die am Anfang dieses Buches steht, ließe sich dann etwa im Anschluss an Beobachtungen von Michael Kienzle fortführen: "Der Bauzaun (...) wurde zur Magna Charta eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins." (Kienzle, in: Weitz, 2010: 81) Diese "mentalitätsgeschichtliche Revolte" (ibid.) bliebe eben eine "mentalitätsgeschichtliche", die "Magna Charta" erinnerte dann an einen Versuch der Bürger, sich Gehör und Mitsprache zu verschaffen. Und ein mentaler Wandel, den die Proteste zweifellos hinterlassen werden, stünde einer " modernen " Stadt ja nicht schlecht. Der würde dann eben einmal mehr in die Verwertungslogik der kapitalistischen Mühle integriert, dieses Mal mit Hilfe der Grünen.'
FN: Hinsichtlich der Funktion der Grünen war etwa Johannes Agnoli schon vor 20 Jahren sehr weitsichtig: "Statt eine Fundamentalopposition zu sein, erfüllen die Grünen die Aufgabe aller institutionskonformen Oppositionen: die mögliche Rebellion zur Ordnung zu rufen und in die Ordnung zurückzuholen. Wie vormals
die Sozialdemokratie." (Agnoli 1990: 209f)
Einmal mehr hätte sich eine Protestbewegung als Modernisierer gezeigt und dabei vielleicht Schlimmeres, Unsinniges verhindert, immerhin. Mehr aber auch nicht. Und wie heißt es schließlich in einem Lied, das in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung vor über fünfzig Jahren gesungen wurde: "Freedom is a constant trying." Auch die Schlusszeilen des von Leonard Cohen der Stuttgarter Bewegung gewidmeten Liedes, "I tried to be free", wären sehr passend.
Damit könnte man den Stuttgarter Bürger als erwachenden Citoyen verstehen. Sein Gegenbegriff ist der Bourgeois. Dieser wird ja seit der französischen Revolution als der Bürger verstanden, der im Privaten seinen wirtschaftlichen Interessen nachgeht, im Unterschied zum Citoyen, der seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachkommt.
Eine andere Perspektive auf Bürger und Bürgerschaft ließe sich aber erschließen über die klassische griechische Polis und die römische Tradition. Dort ist der Bürger der Einwohner einer Stadt, der mit anderen Bürgern zusammen im politischen Raum über die beste Entwicklung der städtischen Belange streitet. "Bürger" ist somit zum einen eine bestimmte Lebensform, die an das Städtische, das Gesellschaftliche gebunden ist, zum anderen aber verweist der Bürger auf ein Verständnis des Politischen, in dem sich Menschen als Menschen im Lichte der Öffentlichkeit zusammenfinden. Dieses Verständnis des Politischen, das in der Neuzeit etwa von Spinoza und Hegel vertreten wurde, konnte sich bis heute gegen die Dominanz liberalen Denkens, das die Notwendigkeit repräsentativer Politik einschließt noch nicht durchsetzen. Die nicht mehr liberalen, sondern republikanischen Ideen beinhalten jedoch den Hinweis, dass jede Orientierung sozialer und politischer Bewegungen an die Beeinflussung und Besetzung staatlich politischer Institutionen zur Entschärfung oder sogar zum Zerbrechen der Kraft der Bewegungen führt. So geschehen auch in der Protestbewegung gegen "Stuttgart 21", als die Hoffnung auf institutionalisierte Moderationsverfahren sowie eine neu gewählte Regierung gerichtet wurde und die Bewegungen an Dynamik verloren. In einem an der Polis gewonnen Verständnis vom Bürger und der Bürgerschaft gibt es dagegen keine staatlich institutionellen Adressaten, denen die Bürger ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen übertragen. Es gibt dort keine die Bürger stellvertretend repräsentierenden und entscheidenden politischen Organe, sondern die Bürger selbst sind es, die an öffentlichen Orten gemeinsam die Entscheidungen über die Gestaltung ihres Gemeinwesens treffen.
Um dieses Selbstbewusstsein als neues bürgerliches weiterzuentwickeln die Ansätze sind in der Bewegung gegen " Stuttgart 21 " vorhanden bedarf es öffentlicher Orte und Foren, zu denen jeder Zutritt haben muss, in denen jeder für seine Überzeugung streitet, sodass die Macht der Bürger sich im Ringen um die beste Gestaltung ihres Gemeinwesens zeigt. Selbstverständlich kann das Modell der Polis und der Res Publica nicht unmittelbar auf unsere Gegenwart übertragen werden. Aber sowohl die englische Revolution, die Pariser Comune, als auch die amerikanische Revolution und die vielen Versuche, im 20. Jahrhundert, Formen des Republikanismus von unten nach oben, also räterepublikanisch zu entwickeln, verdeutlichen, dass und wie Bürgerlichkeit als Res Publica, die Politik nicht an Repräsentationsorgane delegiert, sondern kommunitär, als wirkliche Bewegung agierend, umgesetzt werden kann.


Harmlos, aber medial präsent
Die Zielrichtung moderner Akteur*innen im politischen Raum lässt sich auch an der zunehmenden Zahl von Beratungs- und Ausbildungsinitiativen ablesen, die unter tollen Namen (enden auf Akadamie oder ähnlich) auftreten, aber meist aus eher akademisch gebildeten, kaum mit Praxiserfahrung ausgestatteten Menschen bestehen. Sie bieten anderen Menschen an, sie fit zu machen für politische Intervention, aber ihre angebotenen Methoden sind eher langweilig, traditionell, also wenig kreativ und offensiv - aber dafür gespickt mit modernen medialen Auftrittsmöglichkeiten.

Von der Seite changemaker-academy.org
Es gibt so viele Wege, sich einzubringen! In der Politik, als Social Entrepreneur:in, im Beruf, ehrenamtlich, durch bewussten Konsum oder mit wirksamen Spenden. (Aufzählung ungekürzt)

Die es nicht kapieren: Hetze gestrig-autoritärer Politiker gegen NGOs
Die modernen NGOs sind eine Ressource, Integrationshilfe und Akzeptanzbeschaffung für den Staat. Dazu müssen die Eliten sich offen gestalten und Kritik assimilieren. Diese moderne Form der Herrschaft, in der sich die NGOs dank etlicher Staatsgelder wohlfühlen und politischen Protest wirksam kanalisieren, ist etlichen gestrigen PolitikerInnen noch nicht geläufig. Sie pöbeln und wollen gar keine Kritik ...

Rechts: Beispiel des CDU-Abgeordneten Bleser, der in einer Zeitung Folgendes ankündigte ...

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