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ANARCHIE UND MORAL: DAS GUTE AUS DEM TRANSZENDENTEN "OFF"

Die Moralen der AnarchistInnen und Gutmenschen


1. Was ist Moral und wozu dient sie?
2. Die Moralen der AnarchistInnen und Gutmenschen
3. Libertär und brav: Der anarchistischer Knigge
4. Anarchistischer Gedankenbrei: Religion - nein! Höhere Werte - ja, doch ...?
5. Links

Die folgenden Ausführungen stellen einige geläufige Moralvorstellungen vor, die in Kreisen verbreitet sind, in denen auch anarchistisch gesinnte Menschen mitwirken. Die Abgrenzung zwischen AnarchistInnen und ihrem Umfeld fällt allerdings schwer. Bis auf den Kern der FAU mit ihrer intensiven Labelpolitik und wenige, ähnlich verfahrende Basisinitiativen, ist schwer erkennbar, wer sich als AnarchistIn versteht und wer nicht. Zudem sind Übergänge zwischen anarchistischem und bürgerlichem Lager erkennbar (siehe Kapitel zu den Hauptströmungen des Anarchismus im deutschsprachigen Raum).

Im Original: AnarchistInnen pro Moral
Aus Stehn, Jan: "Anarchismus und Recht" in der sich als anarchistisch bezeichnenden GWR, Nr. 216, Februar 1997
Dieser 'Bund' hat keine PräsidentIn und kein Parlament, auch kein Zentralkomitee oder Gerichtshof. Für mich hat der anarchistische Bund weder Mitgliederlisten noch Organisation. Ich stelle ihn mir als Bewegung von Menschen vor, die ihr Selbstverständnis als soziale AnarchistInnen durch ein gemeinsames Symbol sichtbar und bekannt machen. Die Umsetzung der Versprechen braucht allerdings Organisation - das geschieht in freien Vereinigungen, in BürgerInneninitiativen, in GenossInnenschaften, in Komitees und Vereinen. Ja, der Staat, der ist abgeschafft. ...
Gut wäre allerdings, wenn wir uns den Menschen, die sich unserem Bund nicht anschließen, auf ein friedliches, herrschaftsfreies Nebeneinander verständigen können. Fünf Gebote sind dafür wichtig:

  • keine Gewalt gegen Menschen und deren Eigentum
  • keine Manipulation der Meinung anderer durch Unehrlichkeit
  • keine Zerstörung gemeinsamer Umwelt
  • keine gravierende Ungleichheit in den Eigentumsverhältnissen
  • Konflikte durch Gespräche und gemeinsam bestimmte Schiedsleute lösen.
Diese Grundsätze beinhalten die Minimalethik herrschaftsfreier Beziehung. Sie sind letzter möglicher anarchistischer Konsens zwischen Menschen und Gesellschaftsgruppen, die keinen weitergehenden Konsens miteinander finden.

Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist eine moralische Norm. Anders als der diskursiv, d.h. durch den herrschaftsförmigen Gebrauch erzeugte Anschein ist Gerechtigkeit inhaltsleer, wird bei Benutzung aber regelmäßig mit einem hinter dem Begriff versteckten Inhalt (Diskurs) gefüllt. Dieser versteckte Inhalt verfolgt dann das jeweilige Interesse, während die Verbindung mit dem Begriff der Gerechtigkeit eine moralische Aufladung darstellt und Argumente überflüssig machen soll. Die Behauptung, etwas sei "gerecht", dient damit in der Regel dazu, die eigenen Wünsche durchsetzungsstärker machen.

Wie beliebig Gerechtigkeit tatsächlich ist, soll an einem einfachen Beispiel gezeigt werden. Die folgen drei Sätze zur Frage der Verteilung von Gütern oder dem Tauschmittel Geld scheinen sich zu widersprechen:
  • Wer mehr schuftet, soll dafür auch belohnt werden.
  • Alle Menschen sollen gleichviel zum Leben haben.
  • Alle Menschen sollen soviel zum Leben haben, wie sie benötigen.

Keiner der drei Sätze ist mit einem anderen in Einklang zu bringen. Dennoch sind alle "gerecht", d.h. sie stellen jeder für sich aus einem bestimmten Blickwinkel eine gerechte Lösung dar. Welcher Blickwinkel eingenommen wird, folgt aus dem Interesse der/s BetrachterIn. Ein schönes weiteres Beispiel war der Streit um das Elterngeld. Ist es gerecht, wenn das alle bekommen? Oder ist es gerechter, wenn das die nicht bekommen, die ohnehin reich sind?

Aus Schmollack, Simone: "Die Gerechtigkeitslücke", in: taz, 12.10.2010 (S. 12)
Wenn die FDP jetzt vorschlägt, dass Besserverdienende kein Elterngeld mehr bekommen sollen, klingt das zunächst nach einer gerechten Idee: Warum sollen Menschen, die so viel Geld verdienen, dass sie es kaum ausgeben können, zusätzlich noch etwas bekommen, nur weil sie ein Kind kriegen? Und wiederum jene, die jeden Cent meher dringend brauchen, nämlich Hartz-IV-EmpfängerInnen und -AufstockerInnen, gar nichts mehr beziehungsweise nur ein paar Euro?
Trotzdem: Gerecht im Sinne des Gleichheitsgebots im Artikel 3 des Grundgesetzes ist der FDP-Vorschlag nicht. Menschen mit den gleichen Voraussetzungen, in diesem Fall der Geburt eines Kindes, dürfen bei familienpolitischen Sozialleistungen nicht unterschiedlich behandelt werden.


Noch ein Beispiel. Vor einigen Jahren erschien folgender Comic:



Die dahinterstehende Initiative für neue soziale Marktwirtschaft war eine neoliberale Denkwerkstatt von Konzernen, die unter dem Schein der Unabhängigkeit mit Botschaften die Diskurse zur gesellschaftlichen Umstrukturierung beeinflussen sollte. Mit dem Comic sollte für eine Gerechtigkeit gleicher Preise für alle geworben werden: Es wäre empörend, müssten Menschen unterschiedlich viel für das Gleiche zahlen. Es fällt aber nicht schwer, das genaue Gegenteil in den Comic hineinzuinterpretieren, denn auch das genaue Gegenteil des eben als gerecht bezeichneten wirkt auch gerecht - nämlich wenn alle einen Preis zahlen, der ihrer Zahlungsfähigkeit entspricht. So zeigte der Comic, wahrscheinlich unbeabsichtigt, vor allein eines: Gerechtigkeit ist keine Qualität, sondern eine moralischer Schein für beliebige Inhalte.

Gerechtigkeit ist nur eine leere Hülle, ein sogenannter "Containerbegriff", in den jede Person oder Interessensgruppe je nach eigenem Willen oder politischem Programm einen eigenen Inhalt hineinfüllen kann. Insofern ist Gerechtigkeit eine moralische Norm, die gar keine externe Wertequelle darstellt, sondern nur den Anstrich für einen konkreten Inhalt bietet, hinter dem das persönliche oder politische Interesse versteckt werden kann. Damit dient die Forderung nach Gerechtigkeit der Erhöhung eigener Durchsetzungskraft, ist folglich also immer herrschaftsförmig, weil sie aus eigenen Interessen einen universellen Maßstab, eben eine Moral erzeugt.

Im Original: Anarchistische Kritik an Gerechtigkeitsmoral
Aus Bookchin, Murray (1992): "Die Neugestaltung der Gesellschaft", Trotzdem-Verlag in Grafenau (S. 88 ff., mehr Auszüge)
Gleich zu Beginn möchte ich eine sehr wichtige Unterscheidung treffen: nämlich zwischen Freiheitsidealen und dem Begriff von Gerechtigkeit. Diese beiden Wörter werden so austauschbar gebraucht, daß sie fast als synonym erscheinen. Gerechtigkeit unterscheidet sich jedoch grundlegend von Freiheit, und es ist wichtig, das eine von dem anderen zu trennen. Im Laufe der Geschichte haben beide zu sehr unterschiedlichen Kämpfen geführt und bis zum heutigen Tag radikal verschiedene Forderungen an die jeweiligen Machthaber und Regierungssysteme gerichtet. Wenn wir zwischen bloßen Reformen und grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft unterscheiden, so geht es dabei großenteils bei den einen um Forderungen nach Gerechtigkeit, bei den anderen aber um Freiheit - so eng beide Ideale in instabilen sozialen Perioden auch miteinander verwoben sein mochten.
Gerechtigkeit ist die Forderung nach Gleichheit, nach "Fairneß" und einem Anteil an den Erträgen des Lebens, zu denen man selbst einen Beitrag leistet. Mit den Worten Thomas Jeffersons ist sie auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips "gleich und exakt... ". Diese faire, äquivalente, anteilsmäßige Behandlung, die einem sozial, juristisch und materiell im Austausch für die eigene eingebrachte Leistung zuteil wird, wird traditionell durch Justitia, die römische Göttin, dargestellt, die mit einer Hand die Waage und mit der anderen das Schwert hält und deren Augen verbunden sind. Zusammengenommen bezeugt die Ausstattung der Justitia die Quantifizierung von Rechtsgütern, die auf beide Waagschalen verteilt werden können; die Macht der Gewalt, die in der Form des Schwertes hinter ihrem Urteil steht (unter den Bedingungen der "Zivilisation" wurde das Schwert zum Äquivalent des Staates), und die "Objektivität“ ihres Richtens, die sich durch die verbundenen Augen ausdrückt.
Ausführliche Diskussionen über Theorien der Gerechtigkeit, von Aristoteles in der Antike bis zu John Rawls in unserer Zeit, brauchen hier nicht untersucht zu werden. Sie beinhalten Ausführungen über das Naturrecht, über Verträge, Gegenseitigkeit und Egoismus - Themen, die nicht von unmittelbarem Belang für unsere Darstellung sind. Aber die Binde um Justitias Augen und die Waage in ihrer Hand sind Symbole für eine höchst problematische Beziehung, die wir nicht ignorieren dürfen. Vor Justitia sind alle menschlichen Wesen scheinbar "gleich". Sie stehen ihr gleichsam "nackt“ gegenüber, allen Status und aller gesellschaftlicher Privilegien und Sonderrechte entkleidet. Der berühmte "Schrei nach Gerechtigkeit" hat einen langen und komplexen Stammbaum. Schon in den frühen Tagen systematischer Unterdrückung und Ausbeutung gaben Menschen der Justitia mit offenen oder verbundenen Augen - eine Stimme und machten sie zur Sprecherin der mit Füßen Getretenen gegen die gefühllose Ungerechtigkeit und gegen die Verletzung des Äquivalenzprinzips.
Anfänglich wurde Justitia dem stammesmäßigen Gesetz der Blutrache, der bedenkenlosen Vergeltung für die Verletzung eines Blutsverwandten entgegengesetzt. Das berühmte lex talionis - Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben - wurde ausschließlich bei Schädigung eines Verwandten und nicht für Menschen im allgemeinen angewendet. Auch wenn die Forderung nach Rechtsausgleich innerhalb des eigenen Stammes rational erscheinen mag, so zeugte doch dieses Gesetz von einer beschränkten Denkweise und einem engen Horizont.
(S. 88 ff.)

Nun hat der Begriff der Gerechtigkeit, weil er von allen Seiten als moralischer Propagandagag genutzt wird, trotzdem ein hohes Ansehen erlangt. Wer will schon "ungerecht" sein? Jede politische Programmatik muss, will sie Durchsetzungskraft entfalten, irgendwie "gerecht" erscheinen - was jedoch angesichts der Beliebigkeit des Gerechtigkeitsbegriffs nicht schwer ist. Weil der Begriff im Meinungskampf fast unvermeidlich ist, haben auch AnarchistInnen einen Sinn für Gerechtigkeit und die damit verbundene Moralkeule entwickelt.

Im Original: AnarchistInnen predigen Gerechtigkeit
Aus Stehn, Jan: "Anarchismus und Recht" in der sich als anarchistisch bezeichnenden GWR, Nr. 216, Februar 1997
Die Rückbindung von Recht an Gerechtigkeit schlägt bereits den Bogen zum Anarchismus: Selbstbestimmung und Gerechtigkeit sind für ihn zwei zentrale und unverzichtbare Werte. ... Selbstbestimmung gibt es nicht ohne Gerechtigkeit. Da alle Menschen gleichwertig sind, darf das Selbstbestimmungsrecht des/r Einen nicht das der Anderen ignorieren oder verletzen. ... Für den Anarchismus stellt sich die Frage, wie die Selbstbestimmung der Menschen in ein gerechtes Verhältnis zueinander gebracht werden kann. Wieweit geht meine Freiheit und wo muß sie zugunsten der Freiheit anderer zurückstehen? Das ist die Frage nach dem 'anarchistischen Recht'. ...
Konsens versöhnt Selbstbestimmung und Gerechtigkeit ...
Nein, nicht einheitliche Regelungen sind für die anarchistische Gesellschaft notwendig, aber ein Konsens über Prinzipien und Wertvorstellungen, die einen Rahmen für die Vielfalt der Regelungen bieten. ...
Der Grundkonsens einer anarchistischen Gesellschaft könnte beispielsweise so formuliert sein:
"Jeder Mensch hat das Recht, frei zu entscheiden, welche Beziehungen und welche Vereinbarungen sie/er eingeht. Alle Beziehungen und Vereinbarungen sind in einer angemessenen Frist kündbar. Darüber hinaus versprechen wir einander, für die folgenden sozialen Verpflichtungen einzustehen:

  • Reichtumsunterschiede, vor allem an Boden, Produktionsmitteln, Gebäuden, Finanzmitteln und sonstigen Vermögen werden wir kontinuierlich durch Umverteilung abbauen.
  • Jedem interessierten Menschen sind Bildung, Wissen und Knowhow frei zugänglich zu machen. Jeder hat das Recht auf Einblick in andere Projekte. Kein Mensch darf in seiner Meinungsbildung behindert oder manipuliert werden.
  • Ungleichheit, die durch die Sorge für Kinder und pflegebedürftige Menschen, durch Krankheit, Behinderung und Notlagen entstehen, gleichen wir untereinander aus.
  • Wir setzen uns für den Erhalt der ökologischen Vielfalt in der Natur ein und schützen die Umwelt vor menschenschädigenden Veränderungen.
  • Konflikte wollen wir ohne Gewalt und ohne Androhung von Gewalt austragen. Wenn wir andere Menschen in ihrer Freiheit oder unsere sozialen Verpflichtungen verletzt haben, leisten wir Wiedergutmachung.
  • Mit gewaltfreiem Widerstand verteidigen und beschützen wir einander unsere Freiheit.
  • Die Ausgestaltung und Umsetzung dieser sozialen Verpflichtungen liegt in unseren eigenen Händen. Dafür organisieren wir uns in frei gewählten Vereinigungen."

Aus Wolfgang Hertle, "Plädoyer für zivilen Ungehorsam ", in: Friedensforum 2/2008 (S. 43)
Es wird keine gewaltfreie Gesellschaft ohne Gerechtigkeit und Basisdemokratie geben.

Aus Albert, Michael (2006), "Parecon", Trotzdem Verlag Grafenau
Global soll Gerechtigkeit herrschen statt Armut, Solidarität statt Habgier, Vielfalt statt Konformismus, Demokratie statt Unterordnung, Nachhaltigkeit statt Raubtierverhalten. ... (S. 8)
Partizipatorische Ökonomie (wie hier vorgeschlagen): Gemeineigentum; Allokation durch partizipatorische Planung mit Räten; ausgewogene Tätigkeitsbündel; Entlohnung nach Einsatz und Entbehrung; Entscheidungen durch partizipatorische Selbstbestimmung ohne Klassenschranken.
(S. 31)
Entlohnung je nach persönlichem Bedarf. Doch so gut sich diese Norm anhört, sie hat eigentlich gar nichts mit ökonomischer Gerechtigkeit zu tun, sondern zählt zu einer anderen Kategorie - der des Mitgefühls. Unter moralischen Wertaspekten kann die reine Gerechtigkeit nicht das letzte Wort sein.
(S. 43)
Eines ist allerdings klar: Es hätte natürlich keinen Zweck, die Einkommensgerechtigkeit und das Mitgefühl so weit zu treiben, dass die Produktion zusammenbricht oder andere unerwünschte Nebeneffekte uns das Leben erschweren. (S. 44)
Gewiss kann man gegen unsere Norm ganz pragmatisch einiges einwenden. Soll ein kleines Kind wirklich über Dinge entscheiden, von denen es allein betroffen ist, oder lassen wir - da dem Kind noch die notwendige Urteilskraft fehlt - die Eltern an seiner Statt entscheiden?
(S. 46)

Parecon-Autor Michael Albert in einem Interview
Wirtschaftsgerechtigkeit, das sei, wenn man im Verhältnis zu seiner Anstrengung, bzw. zu den erbrachten Opfern, belohnt wird.

Aus "Utopie - ein Vorschlag" der Utopie-AG/Gewaltfreies Aktionsbündnis Hamburg (1995, S. 24)
Grundsätzlich ist es doch gerecht, daß jemand, der viel und gut arbeitet, auch mehr verdient.

Als moralische Keule ist Gerechtigkeit eine Waffe im Ringen um politische Hegemonie. Es ist daher kein Wunder, dass sie nicht nur von - mangels präziser Analyse oft herrschaftsblinden - AnarchistInnen zur vermeintlichen Stärkung ihrer Positionen eingesetzt wird, sondern auch von denen, die Macht und Kontrolle befürworten. Gerechtigkeit richtet sich bei ihnen gegen die Ideen von Herrschaftsfreiheit oder Anarchie.

Im Original: Ungerechte Anarchie?
Quelle??? (leider verlorengegangen - muss neu gesucht werden)
Mit Gerechtigkeit - so hieß es - bezeichnen wir den höchsten Anspruch, den wir für eine politische Ordnung erheben. Es ist ein Anspruch, der sich weder durch andere Ansprüche (wie: Koordination, Effizienz oder Stabilität) außer Kraft setzen noch gegen sie aushandeln läßt. Gerechtigkeit bezeichnet die unbedingte, die sittliche Forderung. Wenn man also nicht ein beliebiges, sondern das schlechthin höchste, das sittliche Kriterium sucht, dann müssen die egoistische und die utilitaristische Position ausscheiden. ... (S. 414)
Mit dem Gerechtigkeitsprinzip der wechselseitigen Einschränkung und Sicherung von Freiheit nach strikt allgemeinen und für alle gleichen Grundsätzen ist das letzte Kriterium, das höchste normativ-kritische Prinzip zur Beurteilung der Sittlichkeit (Vernünftigkeit), nicht der positiven Geltung und auch nicht der Wohlfahrtsgemäßheit öffentlicher Zwangsgesetze benannt. Das Kriterium betrifft nicht bloß Gesetze erster Ordnung (Gebote, Verbote, Verfahrensvorschriften), sondern ebenso Gesetze zweiter Ordnung (Regeln zur Lösung von Streitfällen und Vorschriften über die Entstehung sowie die Veränderung von Gesetzen). Keineswegs gibt es sich damit zufrieden, daß Gesetze auch Gesetze, d. h. ohne Eigennamen formuliert sind. Es fordert darüber hinaus, daß die Gesetze von Grundsitzen bestimmt werden, die als universal gültig gedacht können. Das Kriterium der politischen Gerechtigkeit ist also ähnlich dem Kriterium sittlicher Maximen, dem kategorischen lmperativ. ...
(S. 415)
Mit dem Prinzip der Gerechtigkeit wird nicht bloß die Anarchie abgelehnt; es werden ebenso Diktatur und Despotie verworfen, da sie die Menschenrechte nicht respektieren. Der politische Grundkonflikt heißt keineswegs Sozialismus versus Kapitalismus bzw. Freiheit versus Sozialismus. Im Gegensatz zu diesem politischen Schlagworten von „links“ bzw. „rechts“ besteht der politische Grundkonflikt vielmehr im Gegensatz von politischer Gerechtigkeit (gerechter Herrschaft bzw. Verfassungsstaat) gegenüber der Diktatur auf der einen und der Anarchie auf der anderen Seite.
(S. 417)

Es wäre aus einer emanzipatorischen Sicht und für eine vorwärtsbringende Streitkultur wünschenswert, wenn im politischen Meinungskampf Interessen und Ziele transparent sind. Daher sollten Vorschläge und Meinungen nicht hinter wohlklingende Worthülsen verborgen, sondern offen benannt und konkret begründet werden. Die Ablehnung des Gerechtigkeitsbegriffes ist kein Plädoyer für Ungerechtigkeit, denn die Umkehrung schafft nur eine neue Worthülse ohne Inhalt. Sondern sie befürwortet die Konfliktführung mit offenen Karten: Aus welchem Blickwinkel hat ein Vorschlag Folgen für wen? Statt: Das ist doch gerecht. Oder ungerecht.

Gewaltfreiheit
Schauen wir auf eine weitere moralische Attitüde, die in anarchistischen Kreisen weit verbreitet ist: Die Gewaltfreiheit. Sie bildet für einige Strömungen des Anarchismus die zentrale ideologische Orientierung. Nötig ist sie vor allem, um deren enge Verzahnung mit Teilen des gut betuchten, privilegierten BildungsbürgerInnentums nicht zu gefährden.
Das Postulat der Gewaltfreiheit trägt ein ähnliches Problem mit sich wie die Gerechtigkeit. Es hat keinen konkreten Inhalt, sondern "gewaltfrei" wirkt als etwas per se Gutes, weil es auf einer starken gesellschaftlichen Akzeptanz aufbaut. Diese folgt aber gerade daraus, dass verschiedene politische Strömungen die Idee der Gewaltfreiheit aus ihrem eigenen Blickwinkel füllen können. SitzblockiererInnen demonstrieren eigene Gewaltfreiheit (mitunter ganz absichtlich auch als Harmlosigkeit begriffen), um damit moralisch mögliche Angriffe der Ordnungskräfte des Staates abwehren zu können. In deren Blickwinkel wiederum ist Gewaltfreiheit aber schlicht das Gewünschte, weil Legale - eine Ableitung aus dem staatlichen Gewaltmonopol. Der Staat kann sich umso leichter durchsetzen, je eindeutiger die Gewalt verteilt ist. Er hätte gern 100% beim Staat, deshalb ja das Monopol. Das wird diskursiv und formal durchgesetzt oder durchgeprügelt. Was die einen (gewaltfreie AktivistInnen) also als Stärke begreifen, ist aus dem Blickwinkel der anderen die gewünschte Schwäche. Beide aber stellen es als positiv dar, d.h. wenn nach einer gewaltfreien Aktion Polizei und AktivistInnen (meist über ihre penetrant vorhandenen SprecherInnen) verkünden, die Aktion sei gewaltfrei gewesen, so meinen es beide positiv und freuen sich darüber. Während die einen ihre eigene Aktion meinen, meinen die anderen das Verhalten der anderen. Gewaltfrei ist also die Gewaltfreiheit des Protestes, während das Verhalten der Herrschenden ausgeblendet wird. Deren Gewalt ist legitim und vor allem legal. Gesteigert wird das in Betrachtungsweisen, bei denen die Gewalt der Herrschenden unterteilt wird in legale bzw. legitime und nicht legitime Gewalt. Überraschenderweise sind es gerade Teile der ansonsten als dogmatisch gewaltfrei auftretenden Kreise, die plötzlich wichtig finden, ob ein Krieg völkerrechtswidrig ist oder ob in einem eroberten Land das böse Militär oder die gute, weil zivile Polizei aufräumt. Für die betroffenen Menschen ist der Unterschied mitunter kaum spürbar. Wenn aber hinter der Attitüde der "Zivilen Konfliktbearbeitung" (einem Lieblingswort bei Gewaltfreien) dann jeder brauchbare Gewaltbegriff verschwindet, bleibt an Inhalt gar nichts mehr übrig.

Nun wird es viele "Gewaltfreie" geben, die der These widersprechen, Gewaltfreiheit würde keinen konkreten Inhalt haben. Aus dem jeweils aktuellen Blickwinkel ist dieser Widerspruch sogar verständlich, denn die meisten AkteurInnen sind davon überzeugt, einen klaren Begriff der Gewaltfreiheit zu haben. Doch simple Nachfragen zeigen, dass es damit nicht soweit her ist. Stellen Sie doch einmal solchen Menschen die Frage: "Was habt Ihr gegen Beate Klarsfeld und Georg Elser?" Fast alle werden antworten wie: "Wer ist das?"
Wenn die entlarvende Anfangssituation vorbei ist, bringen Sie ein paar Zitate von Gandhi, wo dieser, wenn nichts anderes mehr hilft, zur Gewalt rät. Wer Jesus als gewaltfreies Vorbild benennt, kann mit der Geschichte der Vertreibung von Händlern aus dem Tempel verwirrt werden, wo sogar - der fraglos nicht besonders seriösen, aber von Gläubigen meist hochgeschätzten Bibel zufolge - eine Peitsche als Werkzeug zum Einsatz kommt (alles genauer in der Kritik an der Gewaltfreiheitsdogmatik).
Wenn Ihr Gespräch soweit gediehen ist, fallen die Reaktionen unterschiedlich aus - aber immer als bizarrer Abwehrkampf, um die eigene Ideologie retten zu können. Das Spektrum reicht von "das sind aber Ausnahmen" (was immerhin zugibt, dass Gewaltfreiheit doch nicht immer passt, also keine höhere Moral ist) über Erklärungen, dass das auch gewaltfrei gegangen wäre (solche dogmenrettenden Texte gibt es wirklich z.B. über den Widerstandsstrategien gegen Hitler - diskutiert sich sicherlich auch gut bei einem Glas Rotwein im gesicherten Wohnzimmer), bis zu "das ist doch keine Gewalt" (zumindest zur berühmten Ohrfeige durchaus zu hören). Doch dieses Geeire beweist nur, dass wir es bei Gewaltfreiheit mit einem inhaltlich unbestimmten Moralbegriff zu tun haben. Er steht stellvertretend für das "Gute", moralisch Überlegene - und damit der Gewalt als etwas Schlechtes, moralisch Verwerfliches gegenüber. Gerät dieses simple Schema durcheinander, z.B. durch Kenntnisnahme schwierig zu diskreditierender Gewalt, so wird das bisher Schlechte, wenn es nicht einfach durch Nichtbefassung mit dem Thema kein Problem darstellt, eingemeindet in das "Gute" - und schon stimmt die Moral wieder.
Es ist noch nicht sehr lange her, dass gewaltfreie Propaganda im deutschsprachigen Raum auch die Sachbeschädigung zur Gewalt zählte und ächtete. Im Grundlagenbuch "Gewaltfreie Aktion" wird das 2011 zumindest clandestine Sabotage ausgegrenzt. Seitdem bestimmte Formen der Sachbeschädigung z.B. beim Behindern von Castortransporten aber in der Allgemeinheit hohes Ansehen genießen, werden diese zu gewaltfreien Aktionen umgewertet und heute zur Eigenwerbung benutzt (aber nur, wenn sie gelingen). Heute gilt das Herausreißen (also: Töten) von gentechnisch veränderten Pflanzen als gewaltfrei, während der Steinwurf in eine Glasscheibe als Gewalt gilt. Wer die Logik hinter solchen Wertungen enttarnen will, darf nicht die Frage nach Gewalt, sondern muss die nach einem moralischen "Gut" und "Böse" stellen - natürlich aus der Sicht derer, die mit moralischem Anspruch über die Aktionen Anderer richten. Einen weiteren Erklärungsansatz für die wirren Ein- und Ausgrenzspiele bietet der Blick auf Spenden- und Mitgliederzahlen.

Im Original: Gewaltfreiheit und Moral
Aus Johann Bauer, "Direkte gewaltfreie Aktion ...", in: Friedensforum 2/2008 (S. 40)
Wie kann unter widrigen Umständen, Enttäuschungen, Niedertagen an Zielen und ethischen Motiven festgehalten werden, die nicht unmittelbar durchsetzbar erscheinen? Eine Antwort, die Ziele und Mittel, Effektivität und Demokratie, Durchsetzungsfähigkeit und Moral im Gleichgewicht zu hatten sucht, ist die gewaltlose Revolution. ...
Gewaltlosigkeit muss aktiv, aggressiv, revolutionär sein, sonst verfehlt sie ihr Ziel der Beseitigung der verschiedenen Gewaltformen. Sie muss sich ja gegen entschlossenen Widerstand derer durchsetzen, die die bisherigen Formen der Gesellschaft verteidigen. Die Revolution darf sich ihre Mittel nicht von ihrem Feind vorschreiben lassen; sie muss ihr Ziel durch ihre Mittel kennzeichnen.


Aus Wolfgang Hertle, "Plädoyer für zivilen Ungehorsam ", in: Friedensforum 2/2008 (S. 43)
Gewalt macht blind, ihr autoritärer Charakter steht in völligem Gegensatz zum demokratisch-gewaltfreien Ziel der Selbstbestimmung. ... Es wird keine gewaltfreie Gesellschaft ohne Gerechtigkeit und Basisdemokratie geben. ...
Unser Ziel kann nur sein, die Gegenseite mit moralischen Mitteln zu "entwaffnen".


Da das Thema "Gewalt" in vielen sich anarchistisch gebenden Zusammenhängen eine hohe, wenn nicht identitätsstiftende Rolle spielt, ist ihm ein eigenes Kapitel gewidmet. Wie zu sehen sein wird, ist die Gewaltfrage nicht nur zentraler Bezugspunkt bei den "Gewaltfreien", sondern auch identitätsstiftend als genaues Gegenteil, als Fetisch von Militanz. Ihr wird eine Eigenqualität zugemessen, ohne den Inhalt und die konkrete Zielrichtung, die damit verpackt wird.

  • Extraseiten zu Pro & Contra Gewaltfreiheit und möglichen Perspektiven

Manche Anarchist_innen machen es sich in Bezug auf herrschaftsfreie Utopien in der Gewaltfrage sehr einfach: Gäbe es Anarchie, wäre die Gewalt weg - eine herrschaftstheoretisch weder begründete noch naheliegende Annahme.

Aus "Eine befreite Gesellschaft und Gewalt oder: Warum Knäste unnötig sind!", in: Gaidao Nr. 55 (S. 16)
Frau und Kind werden so von vornherein entmachtet und als vermeintlich schwache Wesen kommt ihnen eine Position zu, die überwiegend wahlweise zu Sexualdelikten an Frauen oder Übergriffen an Kindern infolge von Machtmissbrauch führen kann. In einer Gesellschaft jedoch, in der Kinder als gemäß ihrem Entwicklungsstand eigenständig denkende und sich entfaltende Individuen anerkannt werden, in dem Frauen sich vollständig vom Joch männlicher Herrschaft emanzipiert haben, wären solche Delikte schlicht nicht denkbar.

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