Biotopschutz

RECHTFERTIGENDER NOTSTAND

Wo wird der Rechtfertigende Notstand bisher akzeptiert?


1. Gesetzestexte und Kommentare zum § 34 Strafgesetzbuch (StGB)
2. Notstand im Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)
3. Notstand im Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG)
4. Wann gilt der rechtfertigende Notstand (Kriterien)?
5. Wo wird der Rechtfertigende Notstand bisher akzeptiert?
6. Weitere Anwendungen?
7. Ähnliche Wirkung: Grundrechts-Rechtsgüterabwägung
8. Ähnliche Anwendungen in anderen Ländern
9. Links und Materialien

Absurderweise ist vor allem der Staat Bundesrepublik Deutschland und seine Schergen derjenige, der sich bei seinen penetranten Rechts- und Grundrechtsverstößen am häufigsten auf den rechtfertigenden Notstand nach § 34 Strafgesetzbuch beruft, während er durch seine RichterInnen anderen das verwehrt. Aber so ist die Logik von Rechtsstaat: Wer die Macht hat, hat (macht) das Recht. Und wer das Recht hat, hat die Macht (hat recht).

Kraushaar, Wolfgang: "Der nicht erklärte Ausnahmezustand", aus: Dossier RAF (Quelle)
Fast alle Juristen sind sich darin einig, dass nur der einzelne Bürger, nicht aber der Staat sich auf diesen Paragraphen berufen könne.

Kampf um Gentechnik und Tierrechte - Strafverteidigung nach §34 StGB
Eine der wenigen Ausnahmen war ein Urteil in Magdeburg - genau vor der Strafkammer, deren Nichtbeachtung des § 34 StGB beim Feldbefreiungsprozess von Gatersleben zu einer Revision führte und das Verfahren hätte wiederholt werden müssen. Das geschah dann nicht, sondern es wurde eingestellt. Etliche Jahre später ging es um einen ganz anderen Fall, nämlich heimliche Filmaufnahmen von Tierquälereien. Und jetzt hatte das Landgericht gelernt Es gab einen glatten §34-Freispruch für die Tierrechtler*innen am Landgericht Magdeburg (11.10.2017). In der Verhandlung wegen Haufriedensbruch bekräftigte der Richter in seinen Schlussworten "Sie haben genau das getan, was nötig war und was als mildestes Mittel zur Verfügung stand". Wenn staatliche Organe ihre Arbeit nicht so machten, wie es sein sollte, sei das Eingreifen der Bürger nötig. Nicht einmal eine Stunde Verhandlungsdauer und das Landgericht Magdeburg bestätigte das Urteil des Amtsgericht Haldensleben und sprach wiederholt die drei Rechercheaktivist/innen frei. In seiner Begründung ging das Landgericht noch über die Argumentation des Amtsgerichtes hinaus, indem es den Angeklagten, den noch "stärkeren" Rechtfertigungsgrund der Nothilfe zugute hielt.
Hintergrund waren heimlich durchgeführte Rechercheaufnahmen in Schweinemastanlagen in Sachsenanhalt. Der Vorwurf war Hausfriedensbruch. Interessant an der Rechtssprechung ist u.a. das die Aktivist*innen nicht sofort anzeige wegen verstoßes gegen das Tischutzgesetz erstatteten sondern die Aufnahmen zunächst zusamen mit Fernsehsendern veröffentlichten, zu einen Zeitpunkt als die Tiere schon längst geschlachtet wurden. Sie haben mit dieser Aktion also nicht direkt die betroffenen Tiere - die sie gefilmt haben - geholfen, sondern wollten auf einen weitreichenderen Gesellschaftlichen Wandel hinwirken (mehr zum Hintergrund).
Weitere Berichte in den Medien: n-tv ++ Mitteldeutsche Zeitung ++ MDR


Klimaschutz und Verkehrswende
Im Räumungsjahr des "Danni" (Bau der A49) kam es zu etlichen Aktionen auf und über Autobahnen, die zu Gerichtsverfahren führten. Einige Zeit später mischten die "Klimakleber" das Land auf - es folgten Tausende Ermittlungsverfahren. Fast immer ging es um den (konstruierten und politisch motivierten) Vorwurf der Nötigung. Schon nach diesem Paragraphen muss die Frage der Verwerflichkeit geprüft werden, zudem werden Rechtfertigungsgründe vorgetragen. Die Erfolgsquote mit dieser Art der Verteidigung blieb aber gering. Mehr Wirkung hatte die Verteidigung der Aktion als Versammlung und ohne nötigende Wirkung, also das Durchleuchten der Tatbestandsmerkmale.

Aus "Rechtsbruch im Klimaschutz", auf: Verfassungsblog am 30.11.2023
Der Expertenrat für Klimafragen (ERK) ist das zweite Jahr in Folge zu dem Ergebnis gekommen, dass die Maßnahmen der Bundesregierung nicht annährend ausreichen, um die Klimaziele zu erreichen. Für das im Juli 2022 von Verkehrsminister Wissing vorgestellte – und mit „Sofortprogramm“ betitelte Papier – kam der ERK zu dem Ergebnis, dass es „schon im Ansatz ohne hinreichenden Anspruch“ sei und forderte eine Beschleunigung der Reduktionsbemühungen im Verkehr um das 14-Fache (Rn. 323; vgl. dazu bereits hier). Auch das Sofortprogramm Gebäude stellte die Einhaltung des KSG-Zielpfads nicht sicher (ERK, Rn. 110).
In diesem Jahr haben die zuständigen Minister:innen Geywitz und Wissing entgegen der Pflicht des § 8 Abs. 1 KSG sogar gar kein Sofortprogramm vorgelegt, sondern lediglich auf das Klimaschutzprogramm verwiesen. Auch diesbezüglich kam der ERK zu einem klaren Ergebnis: „Der Expertenrat stellt daher fest, dass die im Klimaschutzprogramm 2023 enthaltenen Maßnahmen für den Gebäudesektor die Bedingung an ein Sofortprogramm gemäß § 8 Abs. 1 KSG nicht erfüllen.“ (ERK, Rn. 40) Die Maßnahmen im Gebäudesektor fallen sogar hinter die Maßnahmen vom Vorjahr zurück. Gleiches gilt für den Verkehrssektor (ERK, Rn. 73 ff.).

Ansonsten ist es immer nur der bis an die Zähne bewaffnete Staat, der für sich das Recht in Anspruch nimmt, aus einem Notstand heraus Menschen angreifen zu können, selbst wenn das verboten ist ...

Alltagsanwendung in der Zwangspsychiatrie
Aus den Fixierungsrichtlinien des Landeswohlfahrtverbandes (die Fesselung von Menschen in der Psychiatrie wird u.a. auf den Rechtfertigenden Notstand aufgebaut!):
Nach § 34 StGB ist demnach eine Tat (hier: die freiheitsentziehende Maßnahme) nicht rechtswidrig, wenn u.a. folgende Voraussetzungen gegeben sind:
1. Eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für ein Rechtsgut. Die in Satz 1 genannten Rechtsgüter sind nur Beispiele.
a) Gefahr ist ein ungewöhnlicher Zustand, in welchem nach den konkreten Umständen der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist.
b) Gegenwärtig muss die Gefahr sein. Das ist sie, wenn der ungewöhnliche Zustand besteht und alsbald in einen Schaden umschlagen kann, aber auch dann, wenn der Schaden zwar nicht unmittelbar bevorsteht, aber nur durch sofortiges Handeln abgewendet werden kann.
c) Nicht anders abwendbar als durch die betreffende Tat (freiheitsentziehende Maßnahme) muss die Gefahr sein. Die Gefahr ist nicht anders abwendbar, wenn die gewählte Maßnahme (freiheitsentziehende Maßnahme) in der konkreten Situation ein geeignetes und zugleich das relativ mildeste Mittel zur Beseitigung der Gefahr ist. Der Grundsatz der Geeignetheit des Mittels betrifft sowohl die zweckentsprechende Auswahl des Mittels als auch dessen sachgemäße Anwendung. Der Grundsatz des relativ mildesten Mittels besagt, dass die Notstandshandlung (freiheitsentziehende Maßnahme) nach Art und Anwendung von den zur Verfügung stehenden Mitteln die schonendste sein muss.
2. Das geschützte Interesse muss das beeinträchtigte bei Abwägung der widerstreitenden Interessen wesentlich überwiegen: Das geschützte Interesse ist dasjenige, zu dessen Gunsten fixiert wird, also das Rechtsgut, das dadurch vor Schaden bewahrt werden soll. Die beeinträchtigten Interessen sind die Rechtsgüter des zu fixierenden Patienten, z. B. Freiheit und Gesundheit. Im Rahmen der "Abwägung der widerstreitenden Interessen" sind sämtliche für die Bewertung des Interessenkonfliktes bedeutsamen Umstände zu würdigen. Zu den im jeweiligen Einzelfall zu berücksichtigenden Umständen gehört insbesondere der Wert der betroffenen Rechtsgüter und die Größe des drohenden Schadens (sowohl für das geschützte Rechtsgut als auch für das beeinträchtigte).
3. Die freiheitsentziehende Maßnahme muss ein angemessenes Mittel zur Gefahrenabwehr sein. Durch die Angemessenheitsklausel wird die Abwägungsklausel ergänzt und nochmals klargestellt, dass eine Rechtfertigung nur dann in Betracht kommen kann, wenn die Not-standshaltung auch nach den anerkannten Wertvorstellungen der Allgemeinheit als eine sachgemäße und dem Recht entsprechende Lösung einer Konfliktlage erscheint.


Aus Wikipedia zu Betreuung
Eine stationäre Zwangsbehandlung ist nur bei einem nicht-einwilligungsfähigen Patienten bei erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung nach dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit (§ 34 StGB) gestattet.

Deutscher Herbst und Stammheim-Prozesse gegen RAF-AktivistInnen
Im Fieber der Jagd nach den Staatsfeinden Baader, Meinhof & Co. haben Politik, Polizei und höchste Gerichte ganz bewusst ständig Recht gebrochen. Das wurde bei Nachfragen mit den rechtfertigenden Notstand begründet. Eine Abwägung dazu fand aber nie statt. Ein Recht, das der Staat anderen (und regelmäßig deutlich Schwächeren als den Sicherheitsorganen des Staates!) verwehrt oder zumindest nur unter der Auflage einer umfangreichen Begründung zugestehen würde, nimmt er selbst leichtfertig, bewusst und ohne weitere Begründung in Anspruch. Beispiele:

Im Original: RAF-Jagd ein Notstand?
Illegale Kontaktsperren und Einschränkungen für anwaltliche Vertretung
Aus Wikipedia zu Kontaktsperre:
Das Kontaktsperregesetz wurde im so genannten Deutschen Herbst aus Anlass der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer beschlossen. Bereits seit dem 6. September 1977, kurz nach Beginn der Entführung, galt mit Berufung auf den rechtfertigenden Notstand des § 34 des Strafgesetzbuches eine Kontaktsperre für Häftlinge der Rote Armee Fraktion.
Aus Kraushaar, Wolfgang: "Der nicht erklärte Ausnahmezustand", aus: Dossier RAF (Quelle: Bundeszentrale für pol. Bildung)
Wie Berichte von Betroffenen später bestätigen, wird auf Anordnung von Generalbundesanwalt Rebmann bereits in der auf die Entführung folgenden Nacht mit der Zellendurchsuchung bei rund 80 Häftlingen und zugleich auch mit der Praktizierung der Kontaktsperre begonnen. Einen Tag später greift Bundesjustizminister Vogel diesen gravierenden Rechtsbruch auf und bittet seine Amtskollegen in den Bundesländern, "jegliche Kontakte inhaftierter Terroristen zur Außenwelt zu unterbinden, weil dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr geboten sei". Er beruft sich dabei auf den in § 34 des Strafgesetzbuches niedergelegten Rechtsgedanken des "rechtfertigenden Notstandes".

Illegales Abhören von Gefängniszellen
Aus Kraushaar, Wolfgang: "Der nicht erklärte Ausnahmezustand", aus: Dossier RAF (Quelle: Bundeszentrale für pol. Bildung)
Der Verfassungsschutz ist ohne richterliche Genehmigung in das Privathaus Traubes eingedrungen und hat dort ein Abhörgerät installiert. Der Verdacht, dass der an der Entwicklung des Schnellen Brüters in Kalkar nicht unmaßgeblich beteiligte Leiter der Interatom GmbH "politisch motivierte Gewalttäter" unterstütze, weil er Kontakt zu dem OPEC-Attentäter Hans-Joachim Klein, einem Mitglied der Revolutionären Zellen (RZ), habe, bestätigt sich überdies nicht. Maihofer, der die Aktion erst nachträglich gebilligt haben soll, verteidigt das illegale Vorgehen der Verfassungsschützer mehrmals als eine "einmalige Abwehrmaßnahme", die wegen der Brisanz des Falles unbedingt geboten gewesen sei.
Doch noch bevor die Affäre ganz überstanden ist, taucht am 15. März der Verdacht eines weiteren Abhörfalles auf. Im Stammheimer Prozess beantragt der Verteidiger von Gudrun Ensslin, Otto Schily, eine Unterbrechung der Hauptverhandlung, damit der Bundesinnenminister zur Klärung der Frage vernommen werden könne, ob Gespräche zwischen den drei angeklagten RAF-Häftlingen und ihren Anwälten abgehört, aufgezeichnet und Staatsschutzbehörden zur Auswertung überlassen worden seien. Der Vertreter der Bundesanwaltschaft tritt dem mit der Bemerkung entgegen, der Antrag sei "haltlos", Schily wolle lediglich "Kapital" aus dem Fall Traube ziehen. Nur zwei Tage später treten der baden-württembergische Innenminister Karl Schiess und sein Kabinettskollege Justizminister Traugott Bender in Stuttgart vor die Presse und bestätigen den von Schily geäußerten Verdacht. In zwei Fällen seien in Stammheim Gespräche zwischen Angeklagten und Verteidigern über einen kürzeren Zeitraum hinweg abgehört worden. Sie legitimieren die beiden Operationen wieder einmal mit dem Verweis auf den § 34 des Strafgesetzbuches, den "rechtfertigenden Notstand". ...
Auch Ärzte und Anwälte, die als "Sympathisanten" verdächtig sind, werden abgehört, weil sich die Behörden davon versprechen, auf diesem Wege eine mögliche Anlaufstelle der Entführer ausfindig zu machen. Eines der Opfer eines derartigen Lauschangriffs ist der Rechtsanwalt, der die zweite Abhöraffäre in Gang gebracht hat, der spätere Bundesinnenminister Otto Schily.
"Der Verfassungsbruch", schreibt der Spiegel ein Jahrzehnt später, "war so eklatant, daß der damalige Chef des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, Richard Meier, die Telefonkontrolle ablehnte. Aber sein Minister Werner Maihofer bestand darauf." Ohne erkennbare Skrupel unterzeichnet er alle ihm vorgelegten Abhöranträge und verkündet selbstbewusst, er übernehme dafür die Verantwortung. Die Legalität der Maßnahmen scheint dem Politiker, der von Beruf Professor der Rechte ist, in diesem Fall offenbar eine Quantité négligeable zu sein. Sein Büroleiter erinnert sich später laut Spiegel: "Nachdenken wurde damals nicht überstrapaziert, entweder gab es eine Rechtsgrundlage, oder man nahm den Paragraphen 34 …" Eine Aussage, die ein bezeichnendes Licht auf den im Strafgesetzbuch niedergelegten Gedanken des übergesetzlichen Notstands wirft.

Bewertungen des Deutschen Herbstes: Rechtsbrüche - absichtlich, massenhaft, systematisch
Aus Kraushaar, Wolfgang: "Der nicht erklärte Ausnahmezustand", aus: Dossier RAF (Quelle: Bundeszentrale für pol. Bildung)
Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der mehrmals erwähnte § 34 des Strafgesetzbuches, der darin kodifizierte "Rechtsgedanke des rechtfertigenden Notstandes". Dieser Paragraph hat Schlüsselcharakter für die gesamte Periode des nicht verkündeten, aber praktizierten Ausnahmezustandes. Er wurde erstmals am 7. September vom Bundesjustizminister zur Rechtfertigung der zu diesem Zeitpunkt bereits angelaufenen Kontaktsperre ins Spiel gebracht. Seine Inanspruchnahme hatte jedoch keineswegs die Funktion erfüllt, die sich Schmidt, Vogel und die Krisenstäbe davon offenbar versprachen. ...
Der § 34, den der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt einmal als "Tarnwort für Verfassungsbruch" bezeichnet hat, war etwa für den Schwangerschaftsabbruch in einer übergesetzlichen Notstandssituation gedacht. Mit der Berufung auf den "rechtfertigenden Notstand" wurden Gesetzesübertretungen legalisiert, wenn dadurch vermeintlich höhere Rechtsgüter geschützt werden konnten. Der in diesem Rechtsgedanken angelegte Widerspruch kippt also nur dann nicht zur offenen Paradoxie, dem rechtsförmigen Rechtsbruch, um, wenn die Beachtung einer Prioritätensetzung von Rechtsgütern mit ihm verbunden wird. Fast alle Juristen sind sich darin einig, dass nur der einzelne Bürger, nicht aber der Staat sich auf diesen Paragraphen berufen könne. Wenn der Staat sich aber dennoch zu diesem Schritt entschließt, dann sei damit – wie es der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal formuliert hat – eine "offene Generalermächtigung" für Ausnahmesituationen verbunden. Und genau das ist geschehen. ...
Wie auch die Inanspruchnahme des § 34 zur Rechtfertigung der illegalen Abhörpraxis zeigt, ist der in ihm niedergelegte Rechtsgedanke umfunktioniert worden zu einem Instrument staatlichen Handelns gegen die verfassungsmäßig garantierten Rechte der einzelnen Bürger. Er wurde benutzt als Allzweckwaffe für Operationen, die mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren waren. In der Hand einer unkontrollierbar gewordenen Exekutive diente er als juristische Panzerfaust.
Ein Dreivierteljahr nach den Ereignissen des Deutschen Herbstes erklärt Helmut Schmidt im Bundestag: "Ich glaube, daß wir bis an die Grenze des Rechtsstaats gegangen sind. Der Hinweis auf die Inanspruchnahme des § 34 des Strafgesetzbuches mag hier heute morgen ausreichen. Die Juristen unter Ihnen wissen, daß wir da bis an die Grenzen gegangen sind. Aber wir haben sie nicht übertreten." Welche Funktion diese Äußerung auch immer erfüllen soll, sie deckt sich ganz gewiss nicht mit dem, was der Bundeskanzler aus verfassungsrechtlicher Perspektive später über sein eigenes Handeln erklärt hat.
Am 15. Januar 1979 äußert sich Helmut Schmidt in einem Spiegel-Interview zur Geiselbefreiung von Mogadischu: "Ich kann nur nachträglich den deutschen Juristen danken, daß sie das alles nicht verfassungsrechtlich untersucht haben."


Weitere Beispiele der Anwendung zum Schutz des autoritären Staates
Aus BUNDESGERICHTSHOF 1 StR 403/02 vom 12. Februar 2003
Die Auffassung des Landgerichts, die Tötung M. s sei 'völlig unverhältnismässig' gewesen, vermag der Senat nicht zu teilen. Eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter findet bei der Notwehr grundsätzlich nicht statt (anders etwa im Notstandsfall gemäss § 34 StGB; vgl. BGH NStZ 1996, 29; Tröndle/Fischer aaO § 32 Rdn. 17).

Aus BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 2104/01 - am 28. März 2002
Der Beschwerdeführer, ein guineischer Staatsangehöriger, wurde am 26. Juni 1996 wegen des Verdachts des Handels mit Betäubungsmitteln vorläufig festgenommen und durch den Beschuldigten des Ausgangsverfahrens, einen Polizeihauptmeister, in ein Krankenhaus verbracht, weil er mit Kokain gefüllte, fest verschweißte Plastikkügelchen (sog. "bubbles") geschluckt hatte. Nachdem ihm eine Beruhigungsspritze verabreicht worden war, wurde eine Magenspiegelung durchgeführt. Nach Auffassung des gesondert verfolgten behandelnden Internisten war eine Entnahme der "bubbles" mittels Gastroskopie zu gefährlich, da sie sich bereits zu einer Masse verklumpt hätten; er ordnete eine Entfernung mittels Operation an. ...
Das Ermittlungsverfahren gegen die behandelnden Ärzte hatte die Staatsanwaltschaft Münster gemäß § 170 Abs. 2 StPO bereits am 10. Januar 2000 eingestellt. Es sei davon auszugehen, dass die Magenoperation angeordnet worden sei, um eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leib und Leben des Beschwerdeführers abzuwenden. Das Verhalten der behandelnden Ärzte sei daher gemäß § 34 StGB gerechtfertigt.


Aus BUNDESVERFASSUNGSGERICHT - 2 BvR 1314/97 vom 04.05.1998
Selbst wenn der Beschuldigte K. gegenüber den Ärzten des Evangelischen Krankenhauses über die von Dr. St. vorgenommene Endoskopie hinaus auch - wie der Antragsteller abweichend von den Angaben des Beschuldigten K. und des Arztes Dr. St. vorträgt - die nachfolgende Gastrotomie angeordnet hat, ohne daß diese Maßnahme objektiv medizinisch notwendig war, so war sein Verhalten gemäß § 34 StGB gerechtfertigt.

OLG Frankfurt hebt Urteil auf, weil § 34 StGB nicht geprüft wurde
Aus OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 28.10.1996 - 32/96, StV 1997 (78 f.)
Indes leidet das Urteil an dem sachlichen Mangel, daß die Frage, ob zu Gunsten des Angekl. von dem Vorliegen eines rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) ausgegangen werden könne, nicht geprüft wurde, obwohl sich dies nach den Urteilsfeststellungen aufdrängte. Immerhin geht das AG davon aus, daß der Angekl. in Klein-Asien politischer Verfolgung ausgesetzt war und unmittelbar aus einem Gebiet in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, in dem Leben oder Freiheit bedroht sind. Wenn dies so ist, drängt sich die Prüfung auf, ob der Angekl. in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für eines der in § 34 StGB genannten Rechtsgüter gehandelt hat, um diese Gefahr von sich abzuwenden und ob daraus eine Rechtfertigung i. S. d. § 34 StGB folgt. Im Rahmen dieser Prüfung wären zum einen die Feststellungen, die das Gericht im Hinblick auf Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention getroffen hat, zu berücksichtigen.
Denn in den Rahmen der Prüfung des § 34 StGB können die Überlegungen, die der Sachlage des Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention zugrundeliegen, ohne weiteres eingestellt werden. Dabei hätte es mithin der Prüfung bedurft, welche Art von Repressalien der Angekl. zu befürchten hatte sowie der Bewertung des Gewichts dieser Situation anhand der Voraussetzungen den § 34 StGB.
Hierzu erscheinen weitergehende Feststellungen auch heute noch möglich. Zum einen ist nicht ausgeschlossen, daß der Angekl. in einer neuen Hauptverhandlung persönlich oder durch seinen Verteidiger dazu Erklärungen abgeben kann. Da den Feststellungen des Urteils zu entnehmen ist, daß der Angekl. einen Asylantrag gestellt hat, ist ferner anzunehmen, daß er im Asylverfahren nähere Angaben zu den Gründen gemacht hat, die ihn bewogen haben, sich in der festgestellten Weise zu verhalten.
Da das Urteil eine Auseinandersetzung mit der Frage des rechtfertigenden Notstandes insgesamt vermissen läßt und dies Auswirkungen auf den Schuldspruch haben kann, ist es mit den zugrundeliegenden Feststellungen insgesamt aufzuheben. Ein Freispruch - wie der von der StA bei dem OLG Frankfurt/M. beantragt - im Durchgriff (§ 354 Abs. 1 StPO) kann angesichts des Umstands, daß die Voraussetzungen des § 34 StGB nicht ausreichend geklärt sind, nicht stattfinden. Weder lassen die Feststellungen des angefochtenen Urteils als einzig mögliches Ergebnis einer neuen Verhandlung die Annahme eines rechtfertigenden Notstands erwarten noch erscheint ausgeschlossen, daß in einer neuen Hauptverhandlung weitere Feststellungen auch und insbes. zu Gunsten des Angekl., getroffen werden können. ...


Übergesetzlicher Notstand
Es kommt noch dicker. Je mächtiger Teile dieser Gesellschaft schon sind, je mehr sie durch das geltende Recht bereits privilegiert sind, desto mehr reklamieren sie Notstandsregelungen für sich, um noch mehr Macht anwenden zu können. Eine Steigerung gegenüber dem rechtfertigenden Notstand ist das Wort- und Gedankenungetüm "übergesetzlicher Notstand". So etwas gibt es gar nicht. Auf die folglich absurde Idee kamen bisher vor allem ranghohe Polizei- und Militärführer. Ihnen, denen das Recht eine ungeheure Machtfülle bereits gibt, wollen plötzlich selbst das Recht unbeachtet lassen dürfen - was sie dem kleinen, aus Hungergefühl ein Brot stehlenden Menschen niemals zubilligen würden.
Als amtierender und damit befehlsgewalt-innehabender Verteidigungsminister hatte Franz-Josef Jung 2007 den Abschuss von Passagiermaschinen, die entführt wurden und möglicherweise als fliegende Bomben eingesetzt werden sollten, für möglich und sinnvoll gehalten. Das Bundesverfassungsgericht hatte diese Möglichkeit aber verneint, Jung blieb trotzdem bei seiner Meinung - und bezog sich auf den rechtfertigenden Notstand.
Vor Jung hatte sich schon der Polizei-Vizepräsident von Frankfurt bei seiner Überlegung, mal ein bisschen zu foltern, auf einen übergesetzlichen Notstand berufen. Absurd: Der Inhaber des machtvollsten Teil einer Gesellschaft (Militär) nimmt für sich das Mittel des Notstands in Anspruch ...

Aus einem Text auf Spiegel-Online am 17.9.2007
Ein "übergesetzlicher Notstand" ist weder im Grundgesetz noch in anderen deutschen Gesetzesbüchern geregelt. Wer sich darauf beruft, stellt sich automatisch außerhalb des geltenden Rechts. Er sucht einen Entschuldigungsgrund für den bewussten Verstoß gegen eine strafrechtliche Vorschrift wie etwa das Folter- oder Tötungsverbot, um damit angeblich übergeordnete Werte zu schützen.
Nach Ansicht von Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) gelten dann "andere Regeln" als sonst, wenn "eine gemeine Gefahr" oder "die Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" droht. Dann sei auch der Abschluss eines von Selbstmordattentätern entführten Passagierflugzeuges erlaubt.
Der jetzt von Jung ins Spiel gebrachte Begriff des übergesetzlichen Notstands wird nicht das erste Mal zur Rechtfertigung eines absichtlichen Rechtsbruchs diskutiert. Vor vier Jahren tauchte der Begriff in der Folter-Debatte im Zusammenhang mit der Entführung und Ermordung des Bankierssohns Jakob von Metzler auf.
Damals hatte der frühere Vizepräsident der Frankfurter Polizei, Wolfgang Daschner, dem mutmaßlichen Entführer im Verhör Gewalt androhen lassen, um den Aufenthaltsort von Jakob zu erfahren.



Entschuldigener Notstand (§ 35 StGB)
Aus Kindhäuser, Urs (2002): Strafgesetzbuch. Lehr- und Praxiskommentar, Nomos in Baden-Baden (Vor § 32, Rd-Nr. 84)
Übergesetzlicher entschuldigender Notstand: Als "übergesetzlicher" entschuldigender Notstand wird eine Situation angesehen, in welcher der Täter existentielle Güter zur Rettung gleichwertiger anderer Güter verletzt. Da § 35 nur eingreift, wenn es sich bei den geschützten Gütern um solche des Täters oder ihm nahestehender Personen handelt, wird der Entschuldigungsgrund als "übergesetzlicher" Notstand bezeichnet.

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