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Marxismus und Wahrheit


1. Begriffsbestimmungen
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3. Debatte
4. Marxismus und Wahrheit
5. Wahrheit oder Subjektivität
6. Links

Aus Lotter, K./Meiners, R./Treptow, E. (2006): "Das Marx-Engels-Lexikon", Papyrossa Verlag Köln zum Stichwort "Wahrheit" (S. 365 ff.)

Zusammenfassung der Autoren:
Wahrheit besteht in der Übereinstimmung der Dinge und ihrer Gedankenabbilder (1). Die Frage der Wahrheit ist keine Frage der sprachlichen Präzision (2). Wahrheit ist nicht die Akkumulation abgeschlossener Erkenntnisse, sondern liegt im Prozeß der Erkenntnis und trägt selbst Prozeßcharakter (3). Darin liegt auch ihre historische Bestimmtheit, ihre historische Beschränktheit und Relativität begründet (4). Das Kriterium der Wahrheit ist die gesellschaftliche --> Praxis (5).

(1) Für den Methaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. [ ... ] Für die Dialektik dagegen, die die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn auffaßt, sind Vorgänge wie die obigen, ebensoviel Bestätigungen ihrer eignen Verfahrensweise. [ ... ] Eine exakte Darstellung des Weltganzen, seiner Entwicklung und der der Menschheit, sowie des Spiegelbildes dieser Entwicklung in den Köpfen der Menschen, kann also nur auf dialektischem Wege, mit steter Beachtung der allgemeinen Wechselwirkungen des Werdens und Vergehens, der fort- oder rückschreitenden Änderungen zustande kommen. (Anti-Dühring, 1876/78, MEW 20, 20 ff.)

(2) Handelt es sich nun aber darum, die Wahrheit solcher Worte zu beweisen, so kann wohl schwerlich der Beweis bis auf den Wortlaut gemeint sein, denn in dieser Rücksicht würde jedes Resümee unwahr sein, und es wäre überhaupt unmöglich, den Sinn einer Rede wiederzugeben, ohne die Rede selbst zu wiederholen. Wurde also z.B. behauptet: "Man hielt den Notschrei der Winzer fürfreches Gekreisch", so wird billigerweise nur verlangt werden können, daß eine ungefähr richtige Gleichunggezogen sei, d.h., daß ein Gegenstand nachgewiesen werde, der die resümierende Bezeichnung "freches Gekreisch" einigermaßen aufwiegt und zu einer nicht unpassenden Bezeichnung macht. Ist diese Probe geliefert, so kann es sich nicht mehr um die Wahrheit, sondern nur mehr um die sprachliche Präzision handeln [ ... ] (Rechtfertigung des ++ Korrespondenten von der Mosel, 1843, MEW 1, 172)

(3) Die Wahrheit, die es in der Philosophie zu erkennen galt, war bei Hegel nicht mehr eine Sammlung fertiger dogmatischer Sätze, die, einmal gefunden, nur auswendig gelernt sein wollen; die Wahrheit lag nun in dem Prozeß des Erkennens selbst, in der langen geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft, die von niedern zu immer höhern Stufen der Erkenntnis aufsteigt, ohne aberjemals durch Ausfindung einer sogenannten absoluten Wahrheit zu dem Punkt zu gelangen, wo sie nicht mehr weiter kann, wo ihr nichts mehr übrigbleibt, als die Hände in den Schoß zu legen und die gewonnene absolute Wahrheit anzustaunen. Und wie auf dem Gebiet der philosophischen, so auf dem jeder andern Erkenntnis und auf dem des praktischen Handelns. (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1888, MEW 21,267; vgl. MEW 1, 7)

(4) Der große Grundgedanke, daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen, in der bei aller scheinbaren Zufälligkeit und trotz aller momentanen Rückläufigkeit schließlich eine fortschreitende Entwicklung sich durchsetzt - dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. [ ... ] Geht man aber bei der Untersuchung stets von diesem Gesichtspunkt aus, so hört die Forderung endgültiger Lösungen und ewiger Wahrheiten ein für allemal auf; man ist sich der notwendigen Beschränktheit aller gewonnenen Erkenntnis stets bewußt, ihrer Bedingtheit durch die Umstände, unter denen sie gewonnen wurde; aber man läßt sich auch nicht mehr imponieren durch die der noch stets landläufigen alten Metaphysik unüberwindlichen Gegensätze von Wahr und Falsch, Gut und Schlecht, Identisch und Verschieden, Notwendig und Zufällig; man weiß, daß diese Gegensätze nur relative Gültigkeit haben, daß dasjetzt für wahr Erkannte seine verborgene, später hervortretende falsche Seite ebensogut hat wie das jetzt als falsch Erkannte seine wahre Seite, kraft deren es früher für wahr gelten konnte; daß das behauptete Notwendige sich aus lauter Zufälligkeiten zusammensetzt und das angeblich Zufällige die Form ist, hinter der die Notwendigkeit sich birgt - und so weiter. (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, 1888, MEW 21,293 f)

(5) Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage. (Thesen über Feuerbach, 1845, MEW 3,5; vgl. MEW 19,530; MEW 21,276)

  • MEW 1, 6: Allgemeinheit der Wahrheit.
  • MEW 1, 27: Wahrheit als adäquate Erfassung der Dinge.
  • MEW 2, 83: Wahrheit kein sich selbst beweisendes Automaton.
  • Grundrisse, 21 f: Wissenschaftliche Reproduktion der konkreten Totalität als Gedankentotalität.
  • MEW 20, 23 f.: Widerspruch zwischen absoluter Wahrheit und dialektischem Denken in Hegels Philosophie (vgl. MEW 13,472 ff; MEW 19,206; MEW 21,267 ff., 278).
  • MEW 20, 78 ff.: Historizität und Relativität der Wahrheit, Scheincharakter ewiger Wahrheiten (vgl. MEW 20,18,141, 330; MEW 18, 95 f.; MEW 36, 589).
  • MEW 20, 89: Verkehrung von Abbild und Gegenstand in der Ideologie (vgl.
  • MEW 37, 488, 491 f.).
  • MEW 20,496 ff.: Beweis der Wahrheit durch Tätigkeit, Experiment, Arbeit, Industrie. MEW 21, 270: Absolute und relative Wahrheit.

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