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BESTRAFEN DES "SCHWARZFAHRENS": RECHTSWIDRIG, UNSINNIG, AUFWÄNDIG

Richter*innen, Staatsanwält*innen und Polizei gegen § 265a StGB


1. Wer fährt "schwarz"? Wieviele werden dafür bestraft?
2. Richter*innen, Staatsanwält*innen und Polizei gegen § 265a StGB
3. Jura-Wissenschaft zum § 265a
4. Parteien und Politiker*innen fordern Entkriminalisierung des "Schwarzfahrens"
5. Medientexte und -kommentare gegen Strafen für "Schwarzfahren"

Eine Vielzahl auch hochrangiger Richter*innen, Staatsanwält*innen und Rechtsanwält*innen plädiert für eine Abschaffung des Straftatbestandes. Manche wollen das Fahren ohne Fahrschein stattdessen zur Ordnungswidrigkeit machen - konsequent ist das aber nicht, weil weder die Gerichte so entlastet würden noch die absurde Doppelbestrafung (erhöhtes Beförderungsentgelt plus Bußgeld) abgeschafft.

  • Text auf einem Jurablog

Im Original
Richterbund-Chef Gnisa gegen Bestrafung von Schwarzfahris (rbb am 4.1.2018)
Der Deutsche Richterbund hat sich dafür ausgesprochen, das Schwarzfahren als Tatbestand aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Dadurch könnten die Gerichte entlastet werden, sagte der Vorsitzende des Richterbundes, Jens Gnisa, am Donnerstag im Inforadio des rbb: “Natürlich können sich die Verkehrsbetriebe besser gegen Schwarzfahren schützen. Sie tun es nicht, sparen Geld; dann soll es letztendlich der Staat mit seiner Strafjustiz richten.”
Er halte das nicht für richtig, betonte Gnisa: “Die Berliner Justiz wird jährlich mit 40.000 Schwarzfahrten befasst, und gleichzeitig gibt es Personalknappheit. Die Dinge passen da nicht zusammen.”


Interview mit Jens Gnisa, Vorsitzende des Richterbundes, in: Spiegel, 33/2017 (S. 30)
Schwarzfahren könnte man zu einer bloßen Ordnungswidrigkeit zurückstufen. Bei U-Bahnen könnten die Verkehrsbetriebe ja Zugangssperren einrichten, so wie in Paris und London auch. Das tun sie nicht, um Geld zu sparen. Die Justiz darf das dann ausbaden und die Schwarzfahrer aburteilen, während an anderer Stelle Personal fehlt und Untersuchungshäftlinge, die Staftaten begangen haben, auf freien Fuß kommen, weil deren Prozesse zu lange dauern. Das kann man niemanden erklären.

Interview mit Jens Gnisa, Vorsitzende des Richterbundes, in: Neue Westfälische am 28.11.2017
Sie fordern eine Entfrachtung des Rechts. Welche Normen im Strafrecht sind entbehrlich?
Gnisa: Es gibt viele abgelegene Normen. Wenn eine Briefwaage im Büro nicht, wie vorgeschrieben, geeicht wird, ist das strafbar. Oder auch Schwarzfahren. Jedes Jahr gibt es wegen dieses Delikts 40.000 Verfahren in Berlin. Gleichzeitig gibt es eine Überlastung der Gerichte

Dabei ist Gnisa eher ein Hardliner unter den Richtern, siehe die Kritik an seinem Buch.

Aus Thomas Fischer*, "Sollte Schwarz fahren weiter bestraft werden?", auf: LTO am 23.5.2022
Frage: Was ist die Tathandlung?
Die Rechtsprechung sagt: Erschleichen ist "das Sich-Umgeben mit dem Anschein der Rechtmäßigkeit". Letzten Endes ist das Tathandeln also, sich so zu verhalten wie alle anderen. Das bedeutet dann umgekehrt, dass sich alle anderen so verhalten wie Täter, dass also alle Fahrgäste tun, was man "Erschleichen" nennt. Der Unterschied ist allein das Fehlen einer Berechtigung. Dagegen sagt die h.M. in der Literatur, seit Alwart (JZ 1986) und Fischer (NJW 1988) mit dem Mäkeln angefangen haben: "Sich durch Nichtstun Verhalten wie alle anderen" sei keine Handlungsbeschreibung im Sinn des Art. 103 Abs. 2 GG. Und das bloße Fehlen einer Berechtigung erzeuge keine abgrenzbare Tathandlung. Die Justiz hält am Gegenteil fest, weil es doch nun einmal so ist und man ja auch wirklich nicht schwarzfahren sollte. ...
Warum sollte man, als "Kompromiss" zwischen Handlung und Nichthandlung, ein Verhalten mit Geldbuße sanktionieren, das darin besteht, sich "wie alle anderen" zu verhalten? Es ist klar: Wer in die U-Bahn einsteigt, schließt konkludent einen entgeltlichen Vertrag. In den vergangenen 50 Jahren haben die Verkehrsbetriebe alle Schranken, Sperren, Zugangshindernisse und Kontrollen abgeschafft; man erinnert sich kaum noch, dass es sie einmal gab. Die Unternehmen beschränken sich darauf, den Kunden schriftlich anzudrohen, dass diese eine Vertragsstrafe zahlen müssen, falls sie nicht vorab zahlen. Das rechnet sich auch wirtschaftlich; sonst wäre die Vertragsstrafe ja höher. Die Geldstrafen wegen § 265a StGB sind also kein Schadensausgleich, sondern ein Zuschlag der Rechtsgemeinschaft wegen Sozialschädlichkeit. Jeder, der nach § 265a verfolgt wird und eine Geldstrafe zahlen muss, ist zusätzlich auch das "erhöhte Beförderungsentgelt" schuldig.
Antwort, im Ergebnis:
Schwarzfahren sollte nicht weiter bestraft werden. Es ist in der Substanz nur das Nichtzahlen einer Schuld. Das reicht für keine der anderen Varianten des § 265a StGB. Die geschädigten Unternehmen können sich zivilrechtlich wirksam wehren. Das Unrecht des bloßen Schwarzfahrens ohne Zugangserschleichung rechtfertigt weder eine Verfolgung als Straftat noch eine solche als Ordnungswidrigkeit. Wenn das die Rechtsprechung nicht einsieht, muss der Gesetzgeber es ihr ins Strafgesetzbuch schreiben.

*Prof. Dr. Thomas Fischer ist Rechtsanwalt in München und Rechtswissenschaftler. Er war von 2011 bis 2017 Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof.

Oberste Staatsanwältin von Berlin gegen Strafen für Schwarzfahren
Aus Generalstaatsanwältin: Schwarzfahren soll straffrei werden, in: Berliner Morgenpost, 29.12.2018
Generalstaatsanwältin Margarete Koppers hat sich für eine generelle Straffreiheit des Schwarzfahrens ausgesprochen. Im Interview der Berliner Morgenpost sagte sie, dass der Straftatbestand abgeschafft werden müsste. „Und zwar völlig abgeschafft“, so Koppers. Mit ihrem Vorstoß geht Berlins Generalstaatsanwältin noch einmal einen Schritt weiter als der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD), Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) und Innensenator Andreas Geisel (SPD). Geisel hatte zuletzt dafür plädiert, dass Schwarzfahren zumindest ordnungswidrig bleibe.
Koppers sagte der Berliner Morgenpost, dass eine Einstufung als Ordnungswidrigkeit keine echte Entlastung der Justiz wäre. „Denn ansonsten müssten die Amtsgerichte sich doch noch mit den Einspruchsverfahren herumschlagen“, so Koppers weiter. Zudem müsste sich die Amtsanwaltschaft weiter mit den Verfahren befassen, und auch die Polizei müsste sich weiter mit diesen Verfahren beschäftigen. „Wenn wir das Strafrecht auf alles ausrollen, was als abweichendes Verhalten wahrgenommen werden kann, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Justiz nicht mehr hinterherkommt“, sagte Koppers. Sie plädierte für eine gesellschaftliche Debatte. Es gebe Kernbereiche, in denen man das Strafrecht zwingend brauche, um die Gesellschaft zu ordnen. „In anderen Bereichen können wir auf den Zivilrechtsweg verweisen“, so Koppers weiter.
Die Berliner Polizei hat vergangenes Jahr 12.000 Strafanträge zu notorischen Schwarzfahrern bearbeitet. Bislang ist das „Erschleichen von Leistungen“, wie das Schwarzfahren eigentlich heißt, eine Straftat. Eine Abschaffung des Paragrafen 265a würde neben der Justiz auch die Polizei entlasten, so die Hoffnung. Dann könnten die Kräfte besser auf die Fälle konzentriert werden, die die Sicherheit der Stadt gefährdeten, heißt es etwa aus der Innenverwaltung. Auch die Gefängnisse könnten laut Justizverwaltung entlastet werden. Mehr als 300 Menschen sitzen in Berlin pro Jahr vorübergehend in Gefängnissen, weil sie Geldstrafen wegen Schwarzfahrens nicht zahlen wollen oder können.

O-Ton aus dem Interview dazu:
Wir sollten keine Ressourcen für die Verfolgung von Straftaten verschwenden, deren Strafwürdigkeit höchst fraglich ist. Mein Anliegen ist es, das Strafgesetzbuch etwas zu entschlacken.
Wo denn?
Ein kleiner Baustein ist das Schwarzfahren. Der entsprechende Straftatbestand gehört abgeschafft. Und zwar völlig abgeschafft.
Schwarzfahren sollte nicht mal als Ordnungswidrigkeit gelten?
Genau. Denn ansonsten müssten die Amtsgerichte sich doch noch mit den Einspruchsverfahren herumschlagen. Das wäre keine Entlastung für die Justiz. Auch die Amtsanwaltschaft würde weiter mit den Verfahren befasst werden. Und die Polizei müsste die ordnungsbehördlichen Aufgaben wahrnehmen, sodass auch sie nicht entlastet würde.
Wenn der Staat es nicht mehr schafft, sagt er einfach, ist ja nicht so schlimm, und wir verfolgen es gar nicht mehr?
Das ist doch nicht die Frage. Es geht vielmehr um das gesellschaftspolitische Thema: Wo brauchen wir wirklich den starken, strafenden Staat? Ich meine, es gibt Kernbereiche, in denen wir das Strafrecht zwingend brauchen, um unsere Gesellschaft zu ordnen. In anderen Bereichen können wir auf den Zivilrechtsweg verweisen.
Das heißt, die BVG und die S-Bahn sollen zwar Gebühren fürs Schwarzfahren verhängen dürfen, die sie dann auch einklagen können. Aber der Staat bestraft das Schwarzfahren nicht mehr?
Wenn wir das Strafrecht auf alles ausrollen, was als abweichendes Verhalten wahrgenommen werden kann, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Justiz nicht mehr hinterherkommt.


Aus "Bislang droht bis ein Jahr Knast Debatte: Wird Schwarzfahren bald straffrei?", in: Berliner Kurier, 29.11.2017
Was Juristen als Straftat werten, ist für viele Berliner bloß ein Kavaliersdelikt: In einer Umfrage gaben jüngst 18,3 Prozent aller Hauptstadt-Fahrgäste zu, dass sie selbst zumindest gelegentlich ohne Ticket in Bus oder Bahn unterwegs sind. ...
Obwohl die Zahl der Anzeigen von BVG und S-Bahn laut Polizeilicher Kriminalstatistik seit Jahren leicht zurückgeht, stöhnen Richter und Ermittlungsbehörden unter der Schwemme von Kontrolldelikten, mit denen sie sich herumplagen müssen: 50.000 Verfahren wegen „Erschleichen von Leistungen“ haben sich bei Berlins Strafgerichten angehäuft.
Die Mehrzahl der erwischten Schwarzfahrer kommt in Berlin mit einem „erhöhten Beförderungsentgeld“ davon – derzeit 60 Euro. Wer das Geld nicht zahlt oder aus Armut gar nicht zahlen kann, den trifft die ganze Härte des Gesetzes: § 265a des Strafgesetzbuches sieht eine Höchststrafe von bis zu einem Jahr vor. Für die allermeisten der jährlich rund 600.000 erwischten Schwarzfahrer ist das graue Theorie: Sie zahlen die Strafe und verbuchen die 60 Euro als Lehrgeld.
Wer nicht rechtzeitig zahlt, riskiert hingegen eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe: Bundesweit 5000 Menschen sitzen im Knast, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt haben – die meisten davon derzeit wegen „Beförderungserschleichung“. In der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee gab es vor einigen Jahren die kuriose Situation, dass jeder dritte Häftling wegen notorischen Schwarzfahrens einfuhr.
Bis zu 135 Euro kostet ein Knasttag den Steuerzahler – ein Argument, dass auch den konservativen NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) zum Umdenken veranlasst: Gefängnisstrafe dafür, dass man eine 1,50 Euro teure Kurzstreckenkarte nicht gekauft habe? Das sei eine Fehlentwicklung, so Biesenbach in der „Rheinischen Post“: Ausschließlich „hartnäckige Wiederholungstäter“ sollen einsitzen – ansonsten solle Schwarzfahren als Ordnungswidrigkeit, also wie Falschparken oder leicht überhöhter Geschwindigkeit bei Autofahrern, behandelt werden.


Erläuterung im Extratext: Welche Strafe droht Schwarzfahrern?
Nach derzeitiger Rechtssprechung ist Schwarzfahren keine Ordnungswidrigkeit, sondern eine Straftat. Wird der Schwarzfahrer angezeigt, droht ihm eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Wer eine Geldstrafe nicht bezahlt, dem droht eine Ersatzfreiheitsstrafe.
Unabhängig von der Strafverfolgung verlangen die Verkehrsbetriebe ein "erhöhtes Beförderungsgeld" von 60 Euro.
Zeigt ein Schwarzfahrer bei einer Kontrolle einen falschen, ungültigen oder manipulierten Fahrschein vor, kann dies von Strafbehörden unter Umständen als Betrug bzw. Urkundenfälschung gewertet werden.


Aus "Schwarzfahrer raus aus dem Gerichtssaal", auf: jetzt.de (Süddeutsche Zeitung) am 8.6.2011
Berliner Jugendrichter fordern die Entkriminalisierung. Die enorme Zahl der Strafverfahren legt die Justiz lahm. ... Jugendrichterin Dietlinde Biesterfeld. Sie fordert, dass Schwarzfahrer künftig nicht mehr vor Gericht gezerrt werden können. „Die Bürger fassen sich doch an den Kopf, womit sich Richter beschäftigen müssen“, sagte sie auf einer Veranstaltung in Berlin. Sie schätzt, dass sich nahezu jedes vierte Gerichtsverfahren im Jugendrecht auf die „Erschleichung von Leistungen“ bezieht.
Es wird unverhältnismäßig viel Zeit und Arbeit in Schwarzfahrer-Verfahren investiert, während anderswo die Hütte, beziehungsweise der Gerichtssaal brennt. Es gäbe genug Bereiche, in denen die Richter ein bisschen mehr Zeit gebrauchen könnten. Ein Richter aus Marzahn-Hellersdorf berichtet zum Beispiel, dass man bei Betrug im Internet, den Delikt mit den größten Zuwachsraten nicht mehr hinterher komme. ...
Biesterfeld forderte jetzt eine politische Lösung. Schwarzfahren und Falschparken sei vom Unrechtsgehalt ähnlich, werde jedoch völlig unterschiedlich behandelt.


Bis zu einem Drittel aller Fälle vor Strafgerichten drehen sich um "Schwarzfahren" ... selbst Richter_innen genervt!
Aus "Gerichte überlastet - Richter plädieren Entkriminalisierung", in: Tagesspiegel, am 8.6.2011
Berliner Jugendrichter kommen mit ihrer Arbeit kaum hinterher – weil sie sich um angeklagte Schwarzfahrer kümmern müssen. Nach Schätzungen der Neuköllner Jugendrichterin Dietlind Biesterfeld beziehen sich etwa 25 bis 30 Prozent aller Gerichtsverfahren gegen Erwachsene auf Leistungserschleichung, im Jugendrecht seien es 15 bis 20 Prozent. „Das ist ein unglaublicher Personalaufwand. Die Bürger fassen sich doch an den Kopf, womit sich Richter beschäftigen müssen“, sagte die langjährige Richterin auf einer Veranstaltung mit Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD). An manchen Tagen habe sie „sieben oder acht Fälle hintereinander“. Damit die Justiz nicht weiter von den Schwarzfahrer-Fällen blockiert wird, fordert sie „eine politische Lösung“. Ähnliche Klagen hört man auch von dem für Marzahn-Hellersdorf zuständigen Richter Stephan Kuperion. „Das macht unglaublich viel Arbeit“, sagt er. Bei dem Delikt mit den größten Zuwachsraten – Betrug im Internet – komme man deswegen schon „nicht mehr hinterher“. Dietlind Biesterfeld schlug vor, Schwarzfahren nur noch als Ordnungswidrigkeit zu behandeln oder Hartz-IV-Empfänger gratis fahren zu lassen. Dies würde in der Justiz „unglaubliche Kräfte freisetzen“. ...
Schwarzfahrer füllen auch Gefängnisse. Wer seine Strafe nicht bezahlen kann oder will, wird zu einer „Ersatzfreiheitsstrafe“ verurteilt. In der JVA Plötzensee sind unter den knapp 500 Gefangenen bis zu einem Drittel Schwarzfahrer. Das kostet den Steuerzahler etwa 80 Euro pro Tag und Gefangenen. 2008 waren 8511 Menschen in Berlin verurteilt worden wegen Beförderungserschleichung. Der Großteil – nämlich 7700 – kam mit einer Geldstrafe davon. Es wurden aber auch 480 Haftstrafen verhängt. Im ersten Quartal 2011 waren es 3309 Verfahren.


Schwarzfahrprozesse so teuer wie die entgangenen Fahrgeldeinnahmen
Aus "Wer zu arm ist, kommt in den Knast" in: taz am 7.9.2018, auch auf 'torial am 15.7.2019
Jährlich sitzen etwa 7.000 Schwarzfahrer im Gefängnis. ...
Schwarzfahren - das Wort soll vom Jiddischen shwarz = arm abgeleitet sein und der sprachlichen Herkunft nach also „arm fahren" bedeuten - ist eine Straftat und wird nach Ermessen der Verkehrsunternehmen meist ab dem dritten Mal angezeigt. Dann droht zusätzlich zum erhöhten Beförderungsentgelt von 60 Euro auch eine Geldstrafe. Wer die nicht begleicht, muss mit Haft rechnen.
Laut Verband Deutscher Verkehrsunternehmen verbüßten deutschlandweit zuletzt etwa 7.000 von 230.000 angezeigten Schwarzfahrern eine Ersatzfreiheitsstrafe. Allein in Berlin laufen pro Jahr etwa 40.000 Ermittlungsverfahren wegen Beförderungserschleichung. In der Justizvollzugsanstalt Plötzensee saß zeitweise ein Drittel der Insassen Ersatzfreiheitsstrafen ab, meist wegen Schwarzfahrens. Ist diese Strafe angemessen? Löst man so das Problem?
Das WDR-Politikmagazin „Monitor" hat bei den Bundesländern nachgefragt, wie viel die Verfahren den Staat jährlich kosten. Ergebnis: 200 Millionen Euro. Selbst der Deutsche Richterbund spricht sich für die Abschaffung des Straftatbestands aus. Durch die strafrechtliche Ahndung von Schwarzfahrvergehen kämen die ohnehin schon überlasteten Gerichte an ihr Limit. ...
Die Gefängnisstrafen fürs Schwarzfahren - im Juristendeutsch „Ersatzfreiheitsstrafen" genannt - sind eine Blaupause des Zustands der Gesellschaft. Paul Z. bringt das mit einem einfachen Satz auf den Punkt: „Mit der jetzigen Gesetzeslage wird Armut kriminalisiert."
Die Soziologin Nicole Bögelein findet das auch: „Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft nur die sozial Schwachen, da die Zahlungsunfähigkeit quasi Voraussetzung zur Verhängung der Strafe ist", sagt die Mitarbeiterin des Instituts für Kriminologie der Universität Köln am Telefon. Sie hat ein Buch über die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen geschrieben.
Tatsächlich zeigt eine Studie aus Nordrhein-Westfalen von 2018: Das Delikt ist ein Prekariatsproblem. 58 Prozent der Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe in NRW verbüßen, sind langzeitarbeitslos, 21 Prozent obdachlos, 13 Prozent alkoholabhängig, 32 Prozent drogenabhängig. Bei 17 Prozent ist eine Suizidgefährdung doku mentiert. Wenn sich daraus kein politischer Handlungsbedarf ableitet, woraus dann? ...
Dass das Fahren ohne Ticket eine Straftat sein soll, Verkehrsdelikte wie Falschparken aber nur eine Ordnungswidrigkeit, verstehen viele nicht. Selbst der Deutsche Richterbund sieht in Sachen Schwarzfahren nicht den Gesetzgeber, sondern die Verkehrsbetriebe in der Pflicht. Sie sollten mehr tun, damit weniger schwarzgefahren wird.
Beim Verband Deutscher Verkehrsbetriebe wiederum zeigt man kein Verständnis für die Überlegung, Schwarzfahren auf eine Ordnungswidrigkeit herabzustufen: „Der zu erwartende finanzielle Schaden für die öffentliche Hand ist aufseiten der betroffenen Verkehrsunternehmen ungleich größer als die Entlastung im Justizapparat", schreibt die Pressesprecherin. Der öffentliche Nahverkehr werde zu 50 Prozent aus Ticket einnahmen finanziert. Derzeit entgingen den Verkehrsunternehmen durch Schwarzfahren Einnahmen in Höhe von 250 Millionen Euro im Jahr.


Text "Berliner Richter haben Schwarzfahrer satt", auf: LawBlog am 7.6.2011
Schwarzfahren – Straftat oder Kavaliersdelikt? Berliner Richter stehen jedenfalls vor einem Berg von Verfahren gegen Schwarzfahrer. Bis zu jeder dritte Prozess gegen Erwachsene soll sich in der Hauptstadt um dieses Delikt drehen, bei Jugendlichen jeder Fünfte. Einige Richter wollen jetzt die Notbremse ziehen. Sie fordern nach einem Bericht des Tagesspiegel, Schwarzfahren nur noch als Ordnungswidrigkeit zu ahnden und Hartz-IV-Empfänger kostenlos fahren zu lassen.
Wäre Schwarzfahren kein Fall mehr für die Strafgerichte, würde das nach Auffassung eines Richters “unglaubliche Kräfte freisetzen”. Derzeit seien viele Ressourcen mit der Verfolgung von Ticketsündern gebunden. Das gilt auch für die Gefängnisse. Schon länger ist bekannt, dass in der Berliner Justizvollzugsanstalt Plötzensee ein Drittel der Gefangenen wegen Schwarzfahrens einsitzt. Das kostet den Steuerzahler laut Tagesspiegel rund 80 Euro pro Tag.
Mutig finde ich den Vergleich des erwähnten Richters, wonach Schwarzfahren auch nichts anderes ist, als wenn ein Autofahrer sein Auto parkt und keinen Parkschein zieht. Jedenfalls führt das zum Kern der Frage, der schon seit jeher diskutiert wird: Wieso sorgt der Staat für “Abschreckung”, bloß damit Verkehrsbetriebe weitgehend auf Eingangskontrollen in den Bahnhöfen oder sonstige effektive Ticketsysteme verzichten können?
Diese offensichtlich gewollte Quersubvention stellt Juristen seit jeher vor Probleme. Der Straftatbestand selbst sah so was nämlich gar nicht vor. Er heißt “Erschleichen von Leistungen”. Dass heute jeder Fahrgast einfach so in Busse und Bahnen einsteigen und mitfahren kann, passt schon nicht zum Begriff des Erschleichens. Denn dieser hat mit Tricksen, Tarnen und Täuschen zu tun. Generationen von Richtern haben sich damit beholfen, dieses Erfordernis auszuhebeln. Sie gingen und gehen nach meiner Meinung über die Grenze des Wortlauts hinaus, indem sie postulieren, es genüge für ein Erschleichen auch, wenn sich jemand “den Anschein des Ordnungsgemäßen” gebe.
Man müsste sich eigentlich nur darauf besinnen, dem Gesetz die gewollte Bedeutung zuzugestehen. Schwarzfahren wäre dann nur möglich, wenn jemand funktionierende Kontrollen aktiv umgeht. In Zeiten der “Near Field Communication” müssten das ja auch keine Drehkreuze mehr sein.
Der Ball läge dann im Spielfeld der Verkehrsbetriebe. Und die Justiz hätte mehr Zeit, sich um die wirklich wichtigen Fälle zu kümmern.


Aus "Debatte über Entkriminalisierung: Schwarzfahrt in den Knast", auf: Spiegel Online, 29.12.2018
Barbara Stockinger ist Richterin am Oberlandesgericht München. Sie ist auch Mitglied im Präsidium des Deutschen Richterbunds, dem größten Verband für Richter und Staatsanwälte in Deutschland. Im November war sie eine der Sachverständigen, die im Rechtsausschuss zum Thema befragt wurden.
"Nichtstun zu bestrafen, ist schwierig", sagt Stockinger nun am Telefon. "Und ich tue ja nichts, wenn ich bloß in den Bus oder die Straßenbahn einsteige und mich hinsetze. Ich täusche kein Gegenüber, ich umgehe keine Zugangssperren. Das ist einfach zu niederschwellig, um strafrechtlich sanktioniert zu werden."


Aus „Solche Menschen haben im Gefängnis nichts zu suchen“, in: Welt am 21.3.2017
50.000 Menschen verbüßen jährlich Ersatzfreiheitsstrafen. Doch es gibt gute Gründe, warum Warenhausdiebe und Schwarzfahrer nicht im Gefängnis sitzen, sondern anders bestraft werden sollten.
Die deutliche Zunahme der Ersatzfreiheitsstrafer in den vollen Hamburger Gefängnissen ist nach Einschätzung des Strafvollzugsexperten Bernd Maelicke eine Fehlbelegung. „Solche Menschen haben in einem Gefängnis nichts zu suchen“, sagt Maelicke im Gespräch mit der „Welt“. Dabei handele es sich um Straftäter mit leichter Kriminalität wie Warenhausdiebe, Schwarzfahrer und Versandhausbetrügerinnen. Ersatzfreiheitsstrafen werden von Menschen angetreten, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen können oder wollen. ... In Deutschland gibt es jährlich etwa 50.000 Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. „Wenn wir genau hinschauen, sind das sozial Schwache, Kranke, Drogenabhängige“, betont der Kriminal- und Sozialpolitikexperte. Es komme also ein Armutsproblem zum Ausdruck, kein Kriminalitätsproblem. Diese 50.000 Zu- und 50.000 Abgänge pro Jahr belasteten den Vollzug schon bürokratisch extrem. So kostet ein Haftplatz mehr als 100 Euro täglich.


Aus einer Presserklärung der Gewerkschaft der Polizei (GdP) im Januar 2015
„Kleine“ Straftaten sollen künftig nur noch als Ordnungswidrigkeit geahndet werden. Polizeikräfte müssen dann nicht mehr zum Einsatz kommen. Mit dieser Forderung reagiert die Gewerkschaft der Polizei (GdP) auf neue personelle Belastungen durch Terror und Kriminalität, aber auch durch drohende Pensionierungen. GdP-Bundesvize und NRW-Landeschef Arnold Plickert sagt der WAZ, Delikte wie Beleidigung, Sachbeschädigung oder Schwarzfahren könnten dazu zählen.

Aus der Stellungnahme von Prof. Andreas Mosbache, Richter am Bundesgerichtshof
Nach Auffassung der Oberlandesgerichte wird der Anschein ordnungsgemäßer Benutzung – im Einklang mit den historischen Vorstellungen des Gesetzgebers – schon bei jeder unauffälligen Nutzung des Beförderungsmittels erweckt. Kein Erschleichen soll danach nur vorliegen, wenn der Fahrgast in offener und unmissverständlicher Weise nach außen zum Ausdruck bringe, die Beförderungsbedingungen nicht erfüllen und den Fahrpreis nicht entrichten zu wollen Findige Fahrgäste haben in Folge dieser Rechtsprechung mehr oder weniger große Hinweise auf Kleidungsstücken angebracht, wonach sie den Fahrpreis nicht entrichten wollen. Die Rechtsprechung hat dies unter Verweis auf die mangelnde Sichtbarkeit oder Eindeutigkeit der entsprechenden Hinweise zur Erschütterung des Anscheins ordnungsgemäßer Benutzung indes nicht ausreichen lassen. Im Ergebnis wird also jede vorsätzliche Nutzung eines Verkehrsmittels ohne gültigen Fahrausweis unter den Begriff der Beförderungserschleichung subsumiert. ...
Für die Justizpraxis hat das einfache „Schwarzfahren“ erhebliche Bedeutung. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik für 2017 wurden knapp 250.000 Fälle des Erschleichens von Leistungen erfasst (nahezu ausschließlich Fälle des „Schwarzfahrens“), nach der Strafverfolgungs-statistik 2016 gab es deshalb über 61.000 Verurteilte. In Berlin sollen nach Auskunft des Justizsenators Behrendt derzeit ca. 37 % der verbüßten Ersatzfreiheitsstrafen Verurteilungen wegen Beförderungserschleichung betreffen. ...
Faktisch scheint die flächendeckende strafrechtliche Ahndung des „Schwarzfahrens“ ganz überwiegend zu einer Bestrafung sozial Schwacher zu führen, die sich das S-Bahn-, Straßenbahn- oder Bus-Fahren vielfach nicht leisten können, während Personen mit höheren Einkommen von der Strafverfolgung durch Zahlung des erhöhten Beförderungsentgelts praktisch ausgenommen sind. Gerade in der heutigen Zeit hat die Teilhabe am öffentlichen Personennahver-kehr eine grundlegende soziale Dimension. Allen Bürgern, auch solchen mit niedrigen Einkom-men, muss die regelmäßige Nutzung öffentlicher Nahverkehrsmittel ohne weiteres möglich sein, etwa durch besonders kostengünstige „Sozialtickets“. Nur wenn dies flächendeckend ge-währleistet ist, erscheint die Bestrafung des einfachen „Schwarzfahrens“ überhaupt legitim. ...
Bei einer behutsamen Entkriminalisierung ist auch nicht zu befürchten, dass das Normvertrauen der Bevölkerung Schaden leidet. Wie das Beispiel europäischer Nachbarn (etwa Österreich) zeigt, kann eine Gesellschaft es ohne weiteres aushalten, wenn einfaches „Schwarzfahren“ ohne Täuschung einer Kontrollperson nur als Ordnungswidrigkeit verfolgt wird. Dies unterscheidet die Entkriminalisierung der Beförderungserschleichung von derjenigen etwa des Ladendiebstahls. Der Vermögenschutz ist strafrechtlich nicht lückenlos gewährleistet, sondern das Ver-mögen wird nur vor bestimmten Arten von Angriffen von außen geschützt, etwa vor irrtums-bedingten Vermögensverfügungen (§ 263 StGB) oder pflichtwidrigen Minderungen besonders zum Vermögensschutz aufgestellter Dritter (§ 266 StGB). Anders verhält es sich beim Schutz des von Art. 14 GG in den Grenzen der Sozialpflichtigkeit garantierten Eigentums, der umfassend strafrechtlich garantiert wird. Die Entkriminalisierung einfacher Fälle des Diebstahls erschiene vor diesem Hintergrund, anders als die Entkriminalisierung der Beförderungserschleichung, aus generalpräventiven Gründen als bedenklich.


Aus "Justizminister will Schwarzfahren weniger hart bestrafen", in: Trierer Volksfreund, 15.1.2019
Der Koblenzer Generalstaatsanwalt und ehemalige Trierer Leitende Oberstaatsanwalt Jürgen Brauer ist denn auch dafür, die Beförderungserschleicherung nur dann zu bestrafen, wenn Eingangskontrollen umgangen worden seien. Mit anderen Worten: Wo keine ausreichende Kontrolle, da hat der Schwarzfahrer auch keine Straftat begangen. Allenfalls eine Ordnungswidrigkeit.

Rechtsanwalt erklärt, warum Schwarzfahren mit auffälliger Kennzeichnung keine Straftat ist

Aus dem Plädoyer von Kai Guthke und Lefter Kitlikoglu "Die Ersatzfreiheitsstrafe muss weg!" (die Autoren arbeiten als Strafverteidiger in Frankfurt/Main und sind Mitglieder im Vorstand der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger)
Zum Stichtag 31. März 2014 verbüßten in deutschen Justizvollzugsanstalten bei insgesamt 47.660 im Vollzug von Freiheitsstrafe befindlichen Menschen 4.460 Personen – darunter 353 Frauen – eine Ersatzfreiheitsstrafe,|1 obwohl das erkennende Gericht der Auffassung war, dass Freiheitsentzug als Sanktion rechtlich nicht zulässig oder zumindest nicht angebracht sei. Diese Zahl entspricht 9,36 Prozent der Inhaftierten zum genannten Stichtag.
Bei den Inhaftierten handelt es sich fast ausnahmslos um Menschen mit ganz erheblichen persönlichen und sozialen Problemen. In einer Vielzahl von Fällen spielen Alkohol– und/oder Betäubungsmittelabhängigkeit sowie psychische Auffälligkeiten oder gar psychische Störungen eine Rolle. Eine erhebliche Anzahl ist ohne Arbeit und überschuldet, zum Teil wohnungslos. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diejenigen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen haben, nicht – oder nicht mehr – die Fähigkeit besitzen, Probleme anzugehen, problematischen Situationen zu begegnen.

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