Offener Raum

BLICKE VOR UND HINTER DIE KULISSEN: WIE SIEHT DIE PRAXIS DER ANARCHISTINNEN AUS?

Projekte und Keimzellen


1. Einleitung
2. Anarchistische Aktion
3. Anarchistische Organisierung
4. Projekte und Keimzellen
5. Wir sind gut, weil alt - Anarchie als Selbstzweck

Anarchistische Praxis zeigt sich nicht nur in politischer Organisierung und Alltag (falls sie sich zeigt), sondern in Projekten, die - nach ihrer Selbstwahrnehmung und/oder Außendarstellung - als Keimzelle für etwas Neues betrachtet werden. Leider ist aber auch hier das Zeitalter gegenkultureller Versuche - falls es das je in ausgeprägter Form gab - vorbei. Heutige Projekte, z.B. "alternative" Wohnhäuser, werden von Beginn an in einer beeindruckenden Spießigkeit organisiert, sowohl von den Wohnungszuschnitte wie auch von den Finanzierungsmodellen her. Zwar werden dabei durchaus kreative Verwirklichungsstrategien angewendet (wie z.B. die Idee im Mietshäusersyndikat, Häuser als GmbH zu organisieren). Die praktische Ausführung aber lässt im praktischen Leben kaum noch Unterschiede zu beliebigen Wohnkasernen im Kapitalismus erkennen. Das gilt selbst für Bauwagenplätze. Einstmals geradezu als Aushängeschild alternativer Wohnkultur gepriesen oder - je nach Standpunkt - angefeindet, verkommen sie mehr und mehr zu legalisierten Kleingartenkolonien mit Willen zu geordnetem Erwerbs- und Familienleben.

Das große Scheitern alternativer Betriebe ist indes schon Geschichte. Vor allem in den 70er und 80er Jahre suchten Oppositionelle und AussteigerInnen ihr Heil in der Gründung chefloser Betriebe. Kollektive Organisierung oder, von Anfang an seltsam verklärt dargestellt, die Gründung von Genossenschaften sollten den Wandel bringen. Mag damals noch Blauäugigkeit ein wesentlicher Grund gewesen sein, zu übersehen, dass fehlende ChefInnen den Zwang zu Verwertung und Profitabilität nicht außer Kraft setzten, so bleibt heute beim Festhalten an solchen Irrtümern nur das Kopfschütteln übrig. Es ist aber nur in seltenen Ausnahmen nötig. Die meisten der Versuche alternativen Wirtschaftens sind längst gescheitert oder in hochprofitable Akteure im kapitalistischen Konkurrenz gewandelt worden - gerne weiter ohne ChefIn.

Gescheitert sind auch die wenigen großen Versuche, praktische Anarchie als gegengesellschaftliche Entwürfe zu entwickeln. Viel Stoff für eine Analyse von Versuch und Scheitern bietet das "Projekt A", in dessen Rahmen - nach einem schnell aufgegebenen ersten Versuch in Alsfeld (Vogelsberg) - in Neustadt (Weinstraße) mehrere Kombinationen zwischen Betrieben und gemeinnützigen Projekten entstanden, die eng vernetzt Stück für Stück die Stadt verändern sollten. Viele der einzelnen Projekte existieren auch heute noch, bilden aber keinen festen Zusammenschluss mehr und sind nicht mehr als Versuch einer weitergehenden gesellschaftlichen Umwerfung zu verstehen. Die Abnutzung früherer Ideale, interne Zerwürfnisse und Entfremdungen sowie die Spaltung dann an einem Punkt, der im bildlichen Sinne ein Fass zum Überlaufen brachte, beförderten das Projekt ins Reich der Geschichte.
Ein weiterer Versuch, noch zu Lebzeiten der Neustädter Utopie, wurde in Verden aus der sogenannten "Großraumkommune" heraus gestartet. Das war ein Zusammenhang von über einhundert nach anarchistischen und alternativen Lebensideen strebenden Personen der unabhängigen Jugendumweltbewegung Anfang der 90er-Jahre. Doch das Verdener Projekt wandelte sich nach kurzer Anfangsphase zu einem modernen, ökokapitalistischen Zentrum und wurde schließlich zur Keimzelle der modernen Bewegungsagenturen und ersten Bundesgeschäftsstelle von Attac.
Noch größer waren die Ideen und Entwürfe von P.M., Autor des Buches bolo'bolo, der im experimentellen Schreibstil eine Welt ohne zentrale Leitung und Steuerung entwarf - einer der wenigen konsequenten Versuche anarchistischer Zukunftsromantik, auch wenn sich um seine konkreten Vorhersagen und Vorschläge leidenschaftlich streiten lässt. Aber er verzichtete auf die sonst üblichen Gutmenschen-Räte und PräsidentInnen, wegen derer großen Weisheit in anderen libertären Romanen alles besser wird. P.M. formulierte in seinen Büchern immer den Anspruch, dass auch mal umgesetzt werden müsste, was an Ideen in seinen Büchern steht - und sei es nur als Versuch.
Weniger extrem, aber von der Richtung her ähnlich entwickelten sich einige (Öko-)Kommunen, von denen viele mit anarchistischer Attitüde gestartet waren, zu Schöner-Wohnen-Projekten oder ökologischen Gewerbehöfen mit marktwirtschaftlicher Orientierung.

Interessanter sind da schon solche Versuche alternativer Ökonomie, die die zentralen Wirkungsmechanismen kapitalistischer Wirtschaft in Frage stellen oder überwinden wollen. Dazu gehört die "Community supported agriculture". Das sind landwirtschaftliche Höfe, die nicht für den Markt, sondern für konkrete Bedürfnisse produzieren. Offene Werkstätten, in denen Menschen selbst produktiv sein können. Freie Software und freies Wissen, die niemanden mehr gehören, aber von allen weiterentwickelt und -verwendet werden können.


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