Offener Raum

AKTUELLE THEORIEANSÄTZE: WORÜBER ANARCHISTINNEN NACHDENKEN, WENN SIE DENKEN

Das Menschenbild im Anarchismus


1. Einleitung
2. Zu wenig: Das traditionelle Verständnis von Herrschaft
3. Verschlafen oder vergessen: Moderne Herrschaftsanalyse
4. Das Menschenbild im Anarchismus
5. Links

Ein blinder Fleck vieler Theorien oder Debatten im Anarchismus ist die Frage nach dem Menschen selbst. Dass sie nicht wirklich klar beantwortet wird, liegt auch daran, dass sich viele scheuen, den Menschen in irgendeiner Weise zu definieren. Dafür gibt es gute Gründe, denn in der Vergangenheit führte der Versuch immer wieder zu autoritären Sichtweisen, wie Menschen zu behandeln, sprich zu erziehen, zu lenken und zu bestrafen seien. Tatsächlich sind aber sowohl Ausstattung wie auch Sozialisation eines jeden Menschen so komplex und vielfältig, dass es unmöglich ist, "den" Menschen zu beschreiben und typisieren zu wollen.
Doch ergibt sich daraus notwendig, gar nicht dazu zu sagen? Wie lässt sich dann mit Menschen umgehen, die fragen:
  • Müssen Menschen kontrolliert werden? Sind sie gut oder schlecht?
  • Ist der Mensch des Menschen Wolf?
  • Treibt der Egoismus den Menschen gegen seine Mitmenschen?

Antworten auf diese und ähnliche Fragen sind schon deshalb wichtig, weil sie vielen Menschen im Kopf herumspuken und für herrschaftsförmige Gesellschaftsformen beanwortet werden - zwar als Propaganda für diese. Denn vielen Menschen sind schlechte Antworten und unangenehme Optionen lieber als offene Situationen. Wer Letztere will, kann auch nicht einfach schweigen, sondern braucht Gründe dafür, dass das Nicht-Verregelte der bessere Weg ist. Demokratien werben damit, dass Menschen kontrolliert werden müssen und demokratische Legitimation absichert, dass Kontrolle auch Qualität schafft. Das ist zwar in sich widersprüchlich, muss aber eben erklärt werden, damit das auch sichtwar wird.


Außerdem ist die Frage nach dem Menschenbild ohnehin Teil anarchistischer Debatte, wenn auch oft unterschwellig. Denn entsprechend der Unterschiedlichkeit oder Unklarheit bei dieser Frage entwickelten sich verschiedenen Richtungen des Anarchismus, vor allem die beiden scheinbaren Gegensätze des Sozial- und des Individualanarchismus.

Auszug aus Diefenbacher, Hans (Hrsg., 1996): "Anarchismus", Primus Verlag in Darmstadt (S. 11)
Sehr unterschiedliches Gewicht hat die Rolle des Individuums. Das hängt natürlich damit zusammen, wie das Wesen der Individualität des Menschen theoretisch gefaßt wird. Das reicht von der radikalen Sicht des Individuums als Einzelnem bei Stirner - ein Wesen, von dem es schwerfällt, es überhaupt als "politikfähig" zu begreifen - über die Varianten des individualistischen Anarchismus, bei dem die Individuen den Staat durch freiwillige Zusammenschlüsse ad absurdum führen, bis zu - implizit oder explizit dargelegten - Vorstellungen einer revolutionären Individualität, die im Grunde in Kollektiven aufgeht. Gerade die anarchistische Pädagogik setzt sich immer wieder und an zentraler Stelle mit diesem Spannungsverhältnis auseinander.

Künstlicher Gegensatz Eigennutz - Gemeinnutz auch in anarchistischer Literatur
Aus Fuchs, Christian (2001): „Soziale Selbstorganisation im informationsgesellschaftlichen Kapitalismus“, Selbstverlag (S. 207)
Der Anarchismus geht davon aus, daß diese Normen und Werte darin bestehen, daß die Menschen in einer anarchistischen Gesellschaft verantwortungsvoll, solidarisch und altruistisch handeln und daß sie die Eigennutzenmaximierung zu Gunsten der Berücksichtigung allgemeiner Interessen aufgeben. Durch eine Sozialisierung in einem gesellschaftlichen System, das auf Werten wie Kooperation, Solidarität und Altruismus an Stelle von Konkurrenz, Eigennutzenmaximierung und Egoismus basiert, sei dies sehr wohl möglich.


Zum nächsten Text über Anarchie und Moral, dem zweiten im Kapitel "Theorien, Lücken und blinde Flecken"

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