Offener Raum

EINSCHRÄNKUNGEN DES DEMORECHTS: VERBOTE, AUFLAGEN, STRAFEN

Versammlungen verbieten oder auflösen


1. Überblick über Beschränkungen
2. Versammlungen verbieten oder auflösen
3. Was Polizei und Versammlungsbehörden dürfen - und was nicht ...
4. Gegen das Versammlungsrecht
5. Strafandrohungen und -verfahren
6. Kritik an Einschränkungen
7. Verwaltungsklagen gegen Verbote und Auflagen
8. Links zu Infoseiten zum Demorecht

VersammlG § 15 (ehemaliges Bundesgesetz, inzwischen in den meisten Ländern durch Landesgesetze ersetzt)
(1) Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.
(2) Eine Versammlung oder ein Aufzug kann insbesondere verboten oder von bestimmten Auflagen abhängig gemacht werden, wenn
1. die Versammlung oder der Aufzug an einem Ort stattfindet, der als Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschenunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft erinnert, und
2. nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass durch die Versammlung oder den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird.
Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin ist ein Ort nach Satz 1 Nr. 1. Seine Abgrenzung ergibt sich aus der Anlage zu diesem Gesetz. Andere Orte nach Satz 1 Nr. 1 und deren Abgrenzung werden durch Landesgesetz bestimmt.
(3) Sie kann eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemeldet sind, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen zuwidergehandelt wird oder wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot nach Absatz 1 oder 2 gegeben sind.
(4) Eine verbotene Veranstaltung ist aufzulösen.


Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil am 27. März 2024 (Az. BVerwG 6 C 1.22) eine Ausnahme festgelegt, bei der eine Auflösung einer Versammlung nicht nötig ist, um wieder Polizeirecht (Platzverweise usw.) anwenden zu können:
Leitsatz Nr 2
Jedenfalls solche unfriedlichen Versammlungen, die von Beginn an und dann durchgehend einen unfriedlichen Charakter haben, bedürfen vor einer Anwendung des Landespolizeirechts keiner Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG.

Wann darf eine Versammlung verboten oder aufgelöst werden?
Verbot oder Auflösung einer Versammlung sind nur möglich, wenn deren Gesamtcharakter bzw. Gesamtziel zu Gefahrenlagen führt, Straftaten fördert oder billigt, z.B. zu Gewalt oder Straftaten aufgerufen wird usw. Das kommt auch vor, ist aber eher der Plumpheit politischer Bewegung zuzuordnen. Denn in der Regel gibt es geschicktere Mittel als offiziell aus einer Demonstration heraus solche Handlungen zu machen.

Aus Hesselberger, Dieter (2003): Das Grundsetz, Wolters Kluwer in München (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung)
Jedoch hat der Gesetzgeber wie bei der Meinungsfreiheit die in Art. 8 verkörperte verfassungsrechtliche Grundentscheidung zu beachten; er darf die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen (BVerfGE 69, 348 f.).
Steht nicht zu befürchten, daß eine Demonstration im ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt oder daß der Veranstalter und sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, bleibt für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten, wenn mit Ausschreitungen durch einzelne oder eine Minderheit zu rechnen ist. In einem solchen Fall setzt ein vorbeugendes Verbot der gesamten Veranstaltung strenge Anforderungen an die Gefahrenprognose sowie die vorherige Ausschöpfung aller sinnvoll anwendbaren Mittel voraus, welche den friedlichen Demonstranten eine Grundrechtsverwirklichung ermöglichen (BVerfGE 69, 359 ff.)
Auch wenn "Sitzblockaden" grundsätzlich unter Art. 8 Abs. 1 fallen, führt dies nach Ansicht des BVerfG nicht dazu, sie als rechtmäßig einzustufen. Zu den grundrechtsbeschränkenden und verfassungsrechtlich zulässigen Einschränkungen gehöre es, daß die Versammlung in diesen Fällen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aufgelöst werden dürfe. Behinderungen Dritter, die von Versammlungen ausgehen, würden durch Art. 8 nur so weit gerechtfertigt, wie sie als sozial-adäquate Nebenfolge mit rechtmäßigen Demonstrationen verbunden seien und sich auch durch zumutbare Auflagen nicht vermeiden ließen. Hieran fehle es, wenn die Behinderung Dritter beabsichtigt sei, um die Aufmerksamkeit für das Demonstrationsanliegen zu erhöhen.


Aus dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Magdeburg am 22.6.2021 (Az. 3 B 150/21 MD)
Unter Berücksichtigung der Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG sind bei Erlass beschränkender Verfügungen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose zu stellen, die grundsätzlich der vollständigen gerichtlichen Überprüfung unterliegt. Eine das verfassungsrechtlich gewährleistete Versammlungsgrundrecht beschränkende Verfügung darf nur ergehen, wenn bei verständiger Würdigung sämtlicher erkennbarer Umstände die Durchführung der Versammlung so wie geplant mit Wahrscheinlichkeit eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit verursacht (vgl. VGH Baden-Württemberg, B. v. 16.05.2020 - 1 S 154/20 -, juris, Rdnr. 4).
Weil der Antragsgegner in seiner Allgemeinverfügung zu Unrecht davon ausgeht, das „Protestcamp“ im Waldgebiet bei Losse unterliege nicht der Versammlungsfreiheit, hat er der Bedeutung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG nicht das gebotene Gewicht beigemessen. Auch lässt die Allgemeinverfügung des Antragsgegners nicht erkennen, dass zur Abwehr der aus Sicht des Antragsgegners vorliegenden Gefahren (Brandgefahr, unzureichende Entsorgung der Abwässer und Abfälle, keine ausreichende Versorgung mit Wasser und Löschwasser, mangelnde Hygienestandards, unzureichende Erschließung, Beeinträchtigung des Landschaftsschutzgebietes sowie Freihaltung der Versorgungs- und Rettungswege) nicht versammlungsrechtliche Auflagen als gegenüber der Auflösung der Versammlung mildere Mittel in Betracht kommen.


Aus dem Beschluss des OVG Sachsen-Anhalt vom 2.7.2021 (Az. 2 M 78/21)
Allein der Verstoß gegen bauordnungsrechtliche und/oder bauplanungsrechtliche Bestimmungen genügt nicht, um auf bauordnungsrechtlicher Grundlage eine Beseitigung von dem Schutz des Art. 8 GG unterfallender baulicher Anlagen anordnen zu können, solange die Versammlung nicht aufgelöst ist. …
Art. 8 GG schützt die Freiheit kollektiver Meinungskundgabe bis zur Grenze der Unfriedlichkeit. Die Unfriedlichkeit wird in der Verfassung auf einer gleichen Stufe wie das Mitführen von Waffen behandelt. Unfriedlich ist eine Versammlung daher erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 - 1 BvR 1190/90 - juris Rn. 47). Steht jedoch kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, dass eine Versammlung im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, dann muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 - juris Rn. 92; Beschluss vom 2. November 2016 - 1 BvR 289/15 - juris Rn. 13). …
Der Senat weist im Übrigen darauf hin, dass wegen des hohen Rangs der durch Art. 8 GG geschützten Versammlungsfreiheit eine Auflösung der Versammlung nur in Betracht kommt, wenn eine konkrete Gefahr für elementare Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit von Menschen vorliegt, etwa bei einer hohen Brandgefahr am Ort der Versammlung (vgl. VGH BW, Urteil vom 12. Juli 2010 - 1 S 349/10 - juris Rn. 60 ff.). Allein der Verstoß gegen bauordnungsrechtliche Bestimmungen genügt hingegen nicht (VGH BW, Urteil vom 12. Juli 2010, a.a.O., Rn. 70). … Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Auflösung einer Versammlung das letzte und äußerste Mittel zur Abwehr der von ihr ausgehenden Gefahren darstellt; ist die Auflösung hierzu nicht erforderlich oder unverhältnismäßig, so kann die zuständige Behörde sich der ihr nach geltendem Recht zustehenden polizeilichen Befugnisse zur Abwehr unmittelbarer Gefahren bedienen und im konkreten Fall das Mittel anwenden, das zur Beseitigung der Gefahr geeignet, erforderlich und nicht unverhältnismäßig ist (BVerwG, Urteil vom 8. September 1981 - I C 88.77 - juris Rn. 36 f., m.w.N.).


Aus Lepa, Manfred (1990): Der Inhalt der Grundrechte, Bundesanzeiger Verlag in Köln
Art. 8 GG gewährleistet in erster Linie ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. ...
Für die Auslegung der Grundrechtsschranken durch Behörden und Gerichte gelten dieselben Grundsätze wie für die Auslegung von Vorschriften über die Beschränkung der Meinungsfreiheit: Die Rechtsanwendungsorgane haben die grundrechtsbeschränkenden Gesetze stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung des Art. 8 GG im freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist. Dabei ist zu beachten, daß keineswegs jedes beliebige Interesse eine Grundrechtseinschränkung rechtfertigt. Dies bedeutet beispielsweise, daß Belästigungen, die sich zwangsläufig aus der Massenhaftigkeit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Veranstaltungszweck nicht vermeiden lassen, Dritte im allgemeinen ertragen müssen (BVerfGE 69, 315 [349/353]).


Zum Begriff der öffentlichen Ordnung, die geschützt werden soll
Aus dem Urteil des BVerfG, 1 BvQ 32/03 vom 5.9.2003
Unter öffentlicher Ordnung wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (vgl. BVerfGE 69, 315 (352)).
Bezug: § 15 Versammlungsgesetz: (1) Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.

Bevor eine Versammlung aufgelöst oder verboten wird, muss die Polizei bzw. Versammlungsbehörde schauen, ob es sich dabei um das mildeste Mittel handelt. Ist die Gefahr auch mit niedrigschwelligeren Mitteln abwendbar, z.B. einer Auflage wie der Wahl eines anderen Weges, der zeitlichen Verschiebung oder was auch immer, so muss zunächst das versucht werden.

Aus dem Urteil des BVerfG, 1 BvQ 32/03 vom 5.9.2003
Ein Versammlungsverbot scheidet aus, solange das mildere Mittel der Erteilung von Auflagen nicht ausgeschöpft ist. ...
Vom Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters ist grundsätzlich die Entscheidung über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst. Die Verwaltungsbehörde hat im Normalfall lediglich zu prüfen, ob dadurch Rechtsgüter anderer beeinträchtigt werden. Ist dies der Fall, kann der Veranstalter die Bedenken durch Modifikation des geplanten Ablaufs ausräumen oder es kommen versammlungsrechtliche Auflagen in Betracht. Dem Art. 8 GG und dem aus ihm abgeleiteten Grundsatz versammlungsfreundlichen Verhaltens der Versammlungsbehörde (vgl. BVerfGE 69, 315 (355 ff.)) entspricht es, dass auch bei Auflagen das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters im Rahmen des Möglichen respektiert wird. Soweit versammlungsrechtliche Bedenken durch die Veränderung der Durchführung, insbesondere der Örtlichkeit der Versammlung ausgeräumt werden können, ist es im Regelfall ausgeschlossen, dass die Versammlungsbehörde dem Veranstalter die Möglichkeit nimmt, selbst einen anderen Versammlungsort auszuwählen.


Aus: BverfGE 69, 315 am 14.5.1985 – Brokdorf, Aus den Leitsätzen
2. Die Regelung des Versammlungsgesetzes über die Pflicht zur Anmeldung von Veranstaltungen unter freiem Himmel und über die Voraussetzungen für deren Auflösung oder Verbot (§§ 14, 15) genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wenn bei ihrer Auslegung und Anwendung berücksichtigt wird, daß
a) die Anmeldepflicht bei Spontandemonstrationen nicht eingreift und ihre Verletzung nicht schematisch zur Auflösung oder zum Verbot berechtigt,
b) Auflösung und Verbot nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen dürfen.


Aus: BverfGE 69, 315 am 14.5.1985 – Brokdorf
Bei allen begrenzenden Regelungen hat der Gesetzgeber die erörterte, in Art. 8 GG verkörperte verfassungsrechtliche Grundentscheidung zu beachten; er darf die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen. ...
Verbot oder Auflösung setzen zum einen als ultima ratio voraus, daß das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft ist (so auch BVerwGE 64, 55). Das beruht auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser begrenzt aber nicht nur das Ermessen in der Auswahl der Mittel, sondern ebenso das Entschließungsermessen der zuständigen Behörden. Die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit hat nur dann zurückzutreten, wenn eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechts ergibt, daß dies zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist. Demgemäß rechtfertigt keinesfalls jedes beliebige Interesse eine Einschränkung dieses Freiheitsrechts; Belästigungen, die sich zwangsläufig aus der Massenhaftigkeit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Veranstaltungszweck nicht vermeiden lassen, werden Dritte im allgemeinen ertragen müssen. Aus bloßen verkehrstechnischen Gründen werden Versammlungsverbote um so weniger in Betracht kommen, als in aller Regel ein Nebeneinander der Straßenbenutzung durch Demonstranten und fließenden Verkehr durch Auflagen erreichbar ist.
Die behördliche Eingriffsbefugnis wird zum anderen dadurch begrenzt, daß Verbote und Auflösungen nur bei einer "unmittelbaren Gefährdung" der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung statthaft sind. Durch das Erfordernis der Unmittelbarkeit werden die Eingriffsvoraussetzungen stärker als im allgemeinen Polizeirecht eingeengt. Erforderlich ist im konkreten Fall jeweils eine Gefahrenprognose.


Aus: VG Frankfurt am 15.2.1990, Az: V/1 H 350/90
§ 15 VersammlG ist im Lichte von Art. 8 GG auszulegen, d.h. Auflösung und Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel dürfen nur zum Schutz von mit Art. 8 GG gleichwertigen Rechtsgütern, nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen, dies sind Tatsachen, Sachverhalte und sonstige Einzelheiten, nicht jedoch bloßer Verdacht und Vermutungen - herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen ("Brokdorf-Beschluß" des BVerfG).

Aus: OLG Karlsruhe 3. Strafsenat am 19.6.1974, Az. 3 Ss (B) 5/74

  1. Gegen Teilnehmer eines als friedlich geplanten und begonnenen, waffenlosen Aufzugs kann nur dann nach StrRG 3 Art. 2 vorgegangen werden, wenn der Aufzug vorher vom Versammlungsleiter beendet (VersammlG § 19 Abs. 3) oder von der zuständigen Behörde (VersammlG § 15 Abs. 2) aufgelöst wurde. Die Auflösungserklärung nach VersammlG § 15 Abs. 2 und die erste Aufforderung zum Auseinandergehen nach StrRG 3 Art. 2 müssen voneinander getrennt abgegeben werden, wobei die Aufforderung nicht nur logisch, sondern auch zeitlich erkennbar abgesetzt der Auflösung des Aufzugs nachzufolgen hat.
  2. Auflösungserklärungen nach VersammlG § 15 Abs. 2 sind Verwaltungsakte und müssen den an diese zu stellenden inhaltlichen Anforderungen genügen. Dazu gehört, daß sie in tatsächlicher Hinsicht den behördlichen Willen bestimmt, unzweideutig und vollständig zum Ausdruck bringen (vergleiche Bay0bLG München, 1968-11-26, RReg 4a St 138/68, NJW 1969, 63). Darauf, daß das Erklärte dem Gewollten entspricht, dürfen die Adressaten vertrauen. Fehler oder Unklarheiten gehen zu Lasten der erlassenen Behörde.
  3. Zuständig zur Auflösung nach VersammlG § 15 ist in Mannheim grundsätzlich die örtliche Polizeibehörde (Polizeiverwaltungsbehörde), nicht der Polizeivollzugsdienst. Der Polizeivollzugsdienst darf diese polizeiliche Verwaltungsaufgabe nur im Notfall vornehmen, dh wenn bei Gefahr im Verzug ein rechtzeitiges Tätigwerden der Polizeibehörde nicht erreichbar erscheint.

Aus: BverwG, 1 . Senat am 8.9.1981, Az: 1 C 88.77
Die Auflösung einer ordnungsgemäß angemeldeten und nicht verbotenen Versammlung stellt das letzte äußerste Mittel zur Abwehr der von ihr ausgehenden Gefahren dar. Ist die Auflösung hierzu nicht erforderlich oder unverhältnismäßig, so kann die zuständige Behörde sich der ihr nach geltendem Recht zustehenden polizeilichen Befugnisse zur Abwehr unmittelbarer Gefahren bedienen und im konkreten Fall das Mittel anwenden, das zur Beseitigung der Gefahr geeignet, erforderlich und nicht unverhältnismäßig ist.

Aus: Bundesverfassungsgericht 1 BvR 699/06 vom 22.2.2011
Eine Untersagung einer Versammlung kommt nur in Betracht, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefahr für mit der Versammlungsfreiheit gleichwertige, elementare Rechtsgüter vorliegt. Für das Vorliegen der „unmittelbaren“ Gefährdung bedarf es einer konkreten Gefahrenprognose. Bloße Belästigungen Dritter, die sich aus der Gruppenbezogenheit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Versammlungszweck nicht vermeiden lassen, reichen hierfür nicht. Sie müssen in der Regel hingenommen werden. Sind unmittelbare Gefährdungen von Rechtsgütern zu befürchten, ist diesen primär durch Auflagen entgegenzuwirken. Die Untersagung einer Versammlung kommt als ultima ratio nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen anders nicht verhindert werden können (vgl. BVerfGE 69, 315 (353)).

Aus: OLG Braunschweig 2. Zivilsenat am 20.10.2006, Az. 2 W 93/06
Der Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes beschränkt sich auch nicht etwa auf Versammlungen, die angemeldet oder friedlich verlaufen. Vielmehr ist auch eine verbotene oder zu verbietende Versammlung zunächst nach Maßgabe von § 15 ABS. 3 oder 4 VersG aufzulösen. Der Umstand des Verbotenseins führt nämlich weder 4n sich aus zu deren Beendigung, noch läßt er das Erfordernis einer Auflösungsverfügung entfallen (OLG Celle NdsRpfl. 2005, 193, 194). Auch §§ 2 Abs. 3; 5 Nr. 2, 3; 13 Abs. 1 Nr. 2, 3; 15 Abs. 1, 2 VersG ist schließlich zu entnehmen, dass auch verbotene, unangemeldete oder unfriedliche Versammlungen erfasst werden. Das Versammlungsgesetz ist daher auch in Fällen anwendbar, in denen die Versammlung nicht in den Schutzbereich des Art. 8 GG fällt (BVerwG NVwZ 1988, 250, 251). ...
Auflösung ist die Beendigung einer bereits durchgeführten Versammlung mit dem Ziel. die Personenansammlung zu zerstreuen (OLG Celle NVwZ-RR 2006, 254; BVerfG NVwZ 2005, 80, 81). In der Aufforderung einen bestimmten Ort zu verlassen, liegt indes keine Auflösung einer Versammlung insgesamt (BverfG NVwZ 2005, 80; 81 OVG Berlin N~WZ-RR 2003, 896, 897). sondern lediglich deren räumliche Verschiebung. Die in dem Vermerk des PD Häring erwähnten Lautsprecherdurchsagen konnten daher aus der Sicht der Versammlungsteilnehmer nur als Aufforderung, sich von der Örtlichkeit Küchenstr/Meinhardshof/ Alte Waage zu entfernen, nicht aber als Aufforderung, die Versammlung aufzulösen, verstanden werden. Im Übrigen hätte eine Auflösungsverfügung ohnehin ausdrücklich und eindeutig erklärt werden müssen (BVerfG NVwZ 2005, 80, 81), da sich aus der Auflösungsverfügung für jeden einzelnen Versammlungsteilnehmer unmittelbare Rechtsfolgen ergeben, weil er sich gem. § 18 Abs. 1, 15 Abs. 2 VersG sofort zu entfernen hat und § 125 StGB an das Nichtentfernen strafrechtliche Folgen knüpft. Aus diesem Grund wäre eine lediglich konkludente Auflösungsverfügung zudem nicht mit dem gerade auch für polizeiliche Eingriffe geltenden Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar. Schließlich lässt auch die Einkesselung der Versammlungsteilnehmer weder ausdrücklich noch konkludent auf den Willen der Polizei schließen, die Versammlung aufzulösen. Unter der Auflösung einer Versammlung wird vielmehr ein Auseinandergehen der Teilnehmer und nicht das Gegenteil, nämlich eine Zusammenballung, die einem Zerstreuungswillen gerade entgegensieht, verstanden (OLG Celle NdsRpfl. 2005, 193, 194; VG Hamburg NVwZ 1987, 829).




Stellungnahme des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.6.2006 (Az. 1004 E - 583/06) zur Verfassungsklage wegen Demorechts


Aus dem "berühmten" Fraport-Urteil des BVerfG, 1 BvR 699/06 vom 22.2.2011
Wenn die staatlichen Organe versammlungsbeschränkende Gesetze gemäß Art. 8 Abs. 2 GG auslegen und anwenden, haben sie diese stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit im freiheitlich demokratischen Staat auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist (vgl. BVerfGE 69, 315 (349)). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist hierbei strikt zu beachten. Die angegriffenen Entscheidungen halten diesen Anforderungen nicht stand.
a) Eingriffe in die Versammlungsfreiheit bedürfen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eines legitimen Zwecks. Ein Verbot, sich auf dem Flughafengelände zu versammeln, kann nicht schlichtweg auf ein dem Belieben der Beklagten unterliegendes privatautonomes Bestimmungsrecht über die Nutzung ihres Privateigentums gestützt werden. Die Grundrechtsbindung der Beklagten und die ihr fehlende Befugnis, sich im Verhältnis zu anderen Privaten auf ihr Eigentumsgrundrecht zu berufen, bedingen, dass § 903 Satz 1 BGB hier nicht wie zwischen Privaten als Ausdruck einer privatautonomen, grundsätzlich im Gutdünken stehenden Entscheidungsfreiheit des Eigentümers Anwendung findet, sondern als Ermächtigungsnorm zur Verfolgung legitimer Zwecke des gemeinen Wohls in Ausfüllung der Schranken der Versammlungsfreiheit. Der Rückgriff auf § 903 Satz 1 BGB bedarf deshalb einer auf solche Aufgaben bezogenen funktionalen Einbindung und ist nur dann gerechtfertigt, wenn er zum Schutz individueller Rechtsgüter oder zur Verfolgung legitimer, hinreichend gewichtiger öffentlicher Zwecke des gemeinen Wohls dient. ...
Versammlungsbeschränkungen müssen zur Erreichung dieser Zwecke nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit weiterhin geeignet, erforderlich und angemessen sein. Dabei haben die auf der Grundlage des Hausrechts ergehenden Maßnahmen der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit im freiheitlich demokratischen Staat Rechnung zu tragen. Es gelten grundsätzlich die für die Schranken der Versammlungsfreiheit auch sonst geltenden verfassungsrechtlichen Maßgaben. Diese ermöglichen es, der besonderen Gefährdungslage eines Flughafens wirksam Rechnung zu tragen. Versammlungsbeschränkende Maßnahmen können zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des komplexen logistischen Systems eines Flughafens im Einzelfall unter weniger strengen Bedingungen erlassen werden, als dies für entsprechende Versammlungen im öffentlichen Straßenraum möglich wäre. ...
Eine Untersagung einer Versammlung kommt nur in Betracht, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefahr für mit der Versammlungsfreiheit gleichwertige, elementare Rechtsgüter vorliegt. Für das Vorliegen der „unmittelbaren“ Gefährdung bedarf es einer konkreten Gefahrenprognose. Bloße Belästigungen Dritter, die sich aus der Gruppenbezogenheit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Versammlungszweck nicht vermeiden lassen, reichen hierfür nicht. Sie müssen in der Regel hingenommen werden. Sind unmittelbare Gefährdungen von Rechtsgütern zu befürchten, ist diesen primär durch Auflagen entgegenzuwirken. Die Untersagung einer Versammlung kommt als ultima ratio nur in Betracht, wenn die Beeinträchtigungen anders nicht verhindert werden können (vgl. BVerfGE 69, 315 (353)).


Verbotsgründe
Da das Versammlungsrecht über den meisten anderen Gesetzen und Verordnungen steht, kann ein Verbot in der Regel nur über den Gefahrenbegriff des Versammlungsrechts selbst verboten oder eingeschränkt werden. Dabei müssen die Gefahren aber konkret benannt oder zumindest aus einem gleich- oder höherrangigen Recht abgeleitet werden (Grundgesetz, Strafrecht usw.).

Aus: BVerfG 1. Senat 3. Kammer am 6.4.1990, Az: 1 BvR 958/88
1. Im Hinblick auf die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das demokratische Gemeinwesen kommt ein Verbot oder die Auflösung einer Versammlung gern § 15 VersammlG nur in Betracht, wenn eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechts und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ergibt, daß sie zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter bzw Gemeinschaftsgüter notwendig sind und daß sie nur - aufgrund konkreter Gefahrenprognose - bei einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung statthaft sind.

Aus: BVerfG, 1 BvQ 32/03 vom 5.9.2003
Art. 8 GG schützt Versammlungen unter Einschluss von Aufzügen. Der Schutz der Freiheit kollektiver Meinungskundgabe umfasst nicht nur das gewählte Thema der Versammlung, sondern auch die Entscheidung, welche Maßnahmen der Veranstalter zur Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit für sein Anliegen einsetzen will (vgl.BVerfGE 104, 92 (111) ). Sein Selbstbestimmungsrecht ist aber beschränkt, soweit durch die geplante Versammlung Rechtsgüter beeinträchtigt zu werden drohen. Hinsichtlich der Modalitäten der Durchführung einer Versammlung ergeben sich Grenzen der Versammlungsfreiheit aus § 15 VersG, der neben dem Schutz der öffentlichen Sicherheit auch den der öffentlichen Ordnung vorsieht (vgl.BVerfGE 69, 315 (352 f.)). ...
Ein Versammlungsverbot scheidet aus, solange das mildere Mittel der Erteilung von Auflagen nicht ausgeschöpft ist. Reichen Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht aus, kommt allerdings ein Verbot in Betracht, wenn es unter Berücksichtigung des Art. 8 GG zum Schutze elementarer Rechtsgüter angemessen ist. Eine bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung rechtfertigt im Allgemeinen ein Versammlungsverbot nicht (vgl.BVerfGE 69, 315 (352 f.) ; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 2001, S. 1409 (1410); NJW 2001, S. 2069 (2071); stRspr). Diese Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Fachgerichte gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG. ...
Vom Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters ist grundsätzlich die Entscheidung über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung umfasst. Die Verwaltungsbehörde hat im Normalfall lediglich zu prüfen, ob dadurch Rechtsgüter anderer beeinträchtigt werden. Ist dies der Fall, kann der Veranstalter die Bedenken durch Modifikation des geplanten Ablaufs ausräumen oder es kommen versammlungsrechtliche Auflagen in Betracht. Dem Art. 8 GG und dem aus ihm abgeleiteten Grundsatz versammlungsfreundlichen Verhaltens der Versammlungsbehörde (vgl.BVerfGE 69, 315 (355 ff.) ) entspricht es, dass auch bei Auflagen das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters im Rahmen des Möglichen respektiert wird. Soweit versammlungsrechtliche Bedenken durch die Veränderung der Durchführung, insbesondere der Örtlichkeit der Versammlung ausgeräumt werden können, ist es im Regelfall ausgeschlossen, dass die Versammlungsbehörde dem Veranstalter die Möglichkeit nimmt, selbst einen anderen Versammlungsort auszuwählen.


Aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, 1 BvR 1423/07 vom 6.6.2007
Die bloße Gefährdung der öffentlichen Ordnung kann ein Versammlungsverbot jedoch grundsätzlich nicht rechtfertigen (vgl. BVerfGE 69, 315 (353)).

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