Offener Raum

CHRISTOPH SPEHR

Die Uhr vom Lund

Die mächtige mittelalterliche Uhr in Lund
zeigt den Planetengang und Tag- und Nachtgleichen an
sie tickt wie ein sehr langsames Herz.
Einmal täglich gehen ihre Türen auf.
Zwei kleine mechanische Bläser spielen dünn
In Dulci Jubilo.
Aus Holz geschnitzt, ziehen Könige
und die Diener von Königen
an der Muttergottes vorüber
und alle verneigen sich vor ihr, bis auf den letzten.
Er ist der letzte, und er verneigt sich nicht.

Bis hierhin aus: Lars Gustafsson: Die Uhren haben mich lange krank gemacht (in: Die Stille der Welt vor Bach, München 1984, S. 50 ff.)

Ihr wart lange genug Figuren in einem Uhrwerk, das ihr nicht gebaut habt.
Hört auf damit.
Ihr lebt in einer Welt, in der es keinen erhöhten Punkt gibt, von dem aus man besser sehen könnte als durch eure Augen. Ihr seid die einzigen: es wird niemand anders kommen, der für euch sorgt. Ihr seid so gut wie jeder andere; also könnt ihr so gut wie jeder andere Einfluss auf die Regeln nehmen. Hört auf, euch auf das zu verlassen, was euch weder frei noch gleich machen wird. Seid unzufrieden mit euch und mit anderen. Verliert den Respekt.
Nehmt euch die Regeln vor. Rüstet ab: euch und andere. Verhandelt; respektiert euch und alle anderen als Menschen, die verhandeln. Lernt das, was notwendig ist, um Vorschläge zu machen. Begreift, dass ihr Privilegien habt und akzeptiert, dass es notwendige Kompensationen gibt. Organisiert euch. Wo immer ihr geht und steht und was immer es heißt: organisiert euch!
Wenn eine Kooperation euch nicht zusagt, verhandelt. Wenn die Verhandlung nicht zu einem Ergebnis führt, mit dem ihr zufrieden seid, trennt euch. Wenn ihr euch nicht trennen könnt, trennt euch so weit als möglich. Wenn das Ergebnis euch nicht
zusagt, verhandelt neu.
Wenn man euch nicht verhandeln lässt, übt Druck aus: schränkt eure Kooperation ein, oder stellt sie unter Bedingungen. Wenn man euch zwingt, wendet Gewalt an. Wendet so wenig und so reversible Gewalt an wie möglich, aber so viel wie nötig. Denkt daran, dass Gewalt vielerlei bedeuten kann, und dass sie nur dazu dient, dem Zwang zu begegnen, mittels dessen man euch weder verhandeln noch fair gehen lässt.
Achtet keinen Besitz, keine Verfügung, keine Regeln, nur weil sie bestehen. Verlangt das auch nicht von anderen. Respektiert den Fakt, dass ihr immer irgendeine Struktur vorfinden werdet, aber nicht das Recht, das darin angeblich liegt. Ordnet alle eure Beziehungen – alle privaten, politischen, gesellschaftlichen, die zu Einzelnen, zu Gruppen, zum Ganzen – nach dem Bild von Beziehungen zwischen Menschen, die sich als frei und gleich betrachten. Menschen, die gehen können; die verhandeln; die sich weigern, aufkündigen, zurückziehen, einschränken, Bedingungen stellen. Die das nicht immer erklären können müssen. Menschen, die das auch wirklich tun, immer wieder.
Lernt das zu schätzen, auch wenn es nicht bequem ist. Es ist das Tor zur Welt, zu einer Welt, die mehr ist als ihr selbst. Ändert Besitz, Verfügung, Regeln so, dass der Preis für alle vergleichbar und vertretbar ist, die Kooperation zu verlassen oder einzuschränken. Erwartet nicht, dass das über Nacht geht. Wartet nicht darauf, dass es irgendwann geht. Lasst euch nicht abspeisen damit, es werde von allein geschehen.
Organisiert euch. Übt Druck aus. Und immer wieder: verhandelt. Es gibt nichts anderes. Glaubt niemand, der euch Regeln aufschwatzen will, die das überflüssig machen sollen.
Räumt alles weg, was zwischen euch und der Möglichkeit steht, so zu leben. Tut es nicht blindlings. Aber tut es gründlich. Tut es nicht allein. Wenn ihr es allein tut, seid vorsichtig. Seid radikal: Spart keine eurer Beziehungen aus. Lasst euch nicht frustrieren. Geht den Weg bis zum Ende.
Seid die Letzten. Verneigt euch nicht.

Weitererzählung durch Christoph Spehr in "Gleicher als andere" (S. 113 f.), Karl Dietz Verlag Berlin.

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