Offener Raum

GRUNDSÄTZLICHE GEDANKEN: SELBSTORGANISIERUNG IST EINE LEBENSKULTUR

Generation Wurfzelt? Selbstorganisierung ist "out"


1. Möglichkeiten und Grenzen im Gratisleben
2. Aktion statt Rückzug
3. Ein Tag in der Großstadt - möglichst ohne Geldausgeben
4. Planung, Strategie, organisiertes Vorgehen
5. Generation Wurfzelt? Selbstorganisierung ist "out"
6. Mehr Quellen, Links und Materialien

Der Wandel der Gesellschaft in den imperialen Ländern und Regionen (also solchen Ländern wie Deutschland, besonders stark aber in den reichen und bürgerlichen Vierteln der Metropolen und ihrer Speckgürtel) hat eine Lebenskultur hervorgebracht, die stark von ständigen Materialflüssen aus anderen Teil der Welt und der billigen Arbeitskraft anderer Menschen lebt. Das bezieht sich auf das Materielle (vom "Coffee to go" bis zum selbstaufbauenen Wurfzelt, welches nach einmaliger Benutzung einfach stehen gelassen wird), aber auch auf die Frage, wieviele Entscheidungen über den Verlauf des Lebens mensch noch selbst trifft und wieviel durch Stundenpläne, Arbeitsaufträge oder die Meldung auf dem Smartphone fremdgesteuert ist.

Schuld an immer geringerer Selbstorganisierung ist vor allem der Vollversorgungskapitalismus, d.h. dass Menschen immer häufiger voll umsorgt aufwachsen und sich alles scheinbar wie von selbst regelt. Das aber basiert auf einer patriarchalen Rollenverteilung oder einem gnadenlosen Imperialismus, wie er für Deutschland und ähnliche Nationen üblich ist. Arbeitskraft, Rohstoffe und Produkte werden unbegrenzt zugeführt und können deshalb auch ständig genutzt werden. Solche Orientierung führt zu:
  • führt zu gedankenlosem Umgang mit Ressourcen (kein Bock auf Geräte ausschalten, Müll trennen, Wasserspartasten drücken, Bausubstanz schonen, haltbare Lebensmittel schonen, Fahrräder reparieren, Autofahrten vermeiden ...)
  • Erwartungshaltung fördert Hierarchien und geldorientierte Organisierung
  • fehlender Selbstorganisierung und vergrößert die Distanz zu selbstorganisierten Projekten
  • Abhängigkeiten und Rückkehr zu Erwerbsarbeitsleben

Die folgenden Listen beschreibt reale Geschehnisse - etliche davon wiederholen sich ständig. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Wenn der Kopf nicht arbeitet, passieren viele Dinge, die sich von der Logik her ähneln. Beispiele können das illustrieren, aber auch den Irrtum aufkommen lassen, die Einzelhandlung sei das Problem. Das Problem ist das grundsätzliche Unvermögen oder der Unwille, aktiv wahrzunehmen und über das eigene Handeln und die eigene Lage innerhalb der sozialen Zusammenhänge und der Umwelt nachzudenken. Handlungen sind dann keine Folge von Abwägungen, sondern geschehen ohne bewusstes Nachdenken - also ähnlich reinem Instinkthandeln. Das Menschliche am Menschen geht damit verloren.

Beispiele für Handlungen, ohne nachzudenken (endlos erweiterbar - es geht ums Prinzip):
  • Mensch läuft mit Hund oder Kind auf Feldweg, beide auf verschiedenen Seiten. Dann kommt ein Fahrrad von hinten und klingelt. Mensch ruft Kind oder Hund anstatt selbst die Seite zu wechseln. Radler*innen muss bremsen.
  • Bücher lesen und irgendwo wieder ins Regal schieben (vorzugsweise gerne nahe dem Leseort)
  • Wasserkocher immer (fast) voll machen, auch für nur eine Tasse
  • Waschen bei Regen und dann Wärme und Trocknen per Strom (oder Aufhängen in Innenräumen, was zu Schimmelbildung führen kann)
  • Fürs Kochen einfach verarbeitbare, haltbare Produkte verwenden, während anderes dann vergammelt. Neue Packungen aufreißen statt schon geöffnete durchgucken.
  • Asche und Kippe beim Rauchen in irgendein Gefäß, was in der Nähe steht, hineinwerfen.
  • Fenster bei Frost oder Regen offen stehen lassen, Sachen im Regen stehen lassen ...

Selbstorganisierung ist nicht ...
Viele Menschen halten sich für autonom und selbstorganisiert, weil sie die "unsichtbaren Hände" hinter ihrem Leben mangels eigener Erfahrung mit Reproduktionsarbeiten gar nicht wahrnehmen. Doch das Scheitern geschieht sehr früh ...

Aus der Praxis der Projektwerkstatt:
  • Mensch lässt immer mal wieder (halbvolle) Tassen irgendwo stehen, aber spült eine plötzlich mal einzeln ab (eventuell mit viel Wasser und Spüli). Fortan herrscht das Gefühl, sich beteiligt zu haben.
  • Ein Fahrrad ausleihen und dann, wenn es einen Defekt hat, das nächste nehmen.
  • Ankündigen, am dafür günstigen Tag containern zu wollen, aber dann doch vor Youtube hängen bleiben, die Fahrt beim Kuscheln vergessen, am Ortsrand wegen der Kälte umkehren und sich plötzlich irgendwie so unwohl/krank fühlen oder denken "es ist doch noch genug da".
  • Sich um gar nichts kümmern bei der eigenen Abfahrt oder es gerade noch hinbekommen, die Bettwäsche nach der Nacht abzuziehen und auf den Boden vor dem Bett zu werfen - wie im Hotel.
  • Am Computer sitzen, der nicht das allerneueste Top-Modell ist, und wegen einigen Sekunden Wartezeit genervt sein, irgendwelche So-wird-ihr-PC-schneller-Downloads anklicken und dann einfach den nächsten Computer nehmen, wenn der erste gar nicht mehr geht.
  • Sich selbst zu loben, geldfrei zu leben, wenn einfach andere die Kosten für Internet, Telefon, Strom, Mülltonne, Wasser, Gas ... tragen - und auch alle anderen Materialien organisieren.
  • Wenn mensch die Auskunft anruft, um eine Nummer wählen zu lassen, die mensch kennt (aber zu faul ist, die Zahlen einzutippen) ... oder wenn mensch sich verwählt, dann den irrtümlich Angerufenen um die richtige Nummer bittet und sauer reagiert, wenn der nicht weiß, wenn mensch denn eigentlich anrufen wollte (was ja nicht anders sein kann).
  • Wenn mensch Bücher ausleiht und nie zurückbringt. Oder welche liest und dann irgendwo hinlegt (zur Not mit den Worten "Ich weiß nicht mehr, wo das gestanden hat" - andere sollen das wissen?). Oder einfach da ins Regal stellt, wo der Lesesessel steht.

Symbole der Instant-Lebenskultur

Das Wurfzelt
Wurfzelte nach Festival (aus: fluter)
Wurfzelte (Abb. aus fluter Herbst 2014, S. 25)

Das Smartphone
Der Effekt ist schon optisch zu sehen - "Kopf-runter"-Generation wird das mitunter genannt. Mindestens zwei zentrale Folgen hat der ständige Blick auf das Handy. Erstens nimmt die Außenwahrnehmung ab, d.h. viele Menschen laufen durch den Alltag, ohne von dem noch viel mitzubekommen. Aufmerksame Wahrnehmung ist aber die Basis für selbstorganisiertes Handeln. Wenn ich die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Alltags gar nicht mehr bemerke, kann ich auch nicht steuernd eingreifen, d.h. mein Umfeld ist nicht mehr von mir geprägt.
Zum zweiten bietet das Smartphone Orientierung: Der Navigator sagt, wie ich wohin komme. Irgendwelche anderen Apps sagen, wo ich jetzt sein sollte. Und wieder andere, was ich kaufen, angucken oder denken soll. Wird das zum prägenden Einfluss, hört der Wille, das Leben selbst zu planen und eigene Handlungsmöglichkeiten zu suchen einfach auf. Das Denken gerät in eine Abhängigkeit zur Fremdsteuerung. Diese tritt nicht in Form von harten Regeln, Uniformen und Befehlen auf, sondern in Form einer kaum spürbaren, aber totalen Beeinflussung von außen. Vielleicht heißt das Smartphone auch deshalb so, weil es smart beherrscht. Aber sehr, sehr gründlich.

Automation macht dumm
Aus Nicholas Carr (2014), „Abgehängt“ (S. 74 und 76)
Wenn Bordcomputer nicht ordnungsgemäß funktionieren oder unerwartete Probleme bei einem Flug auftreten, müssen die Piloten das Flugzeug manuell steuern. Sie sind das inzwischen nicht mehr gewohnt und machen daher in dieser Situation häufig Fehler, mit möglicherweise katastrophalen Folgen, wie die Abstürze der Continental-Connection- und Air-France-Maschine gezeigt haben. …
Die Analyse zeigt, dass „manuelle Flugfertigkeiten ohne relativ häufige Anwendung schnell auf gerade noch ‚tolerables‘ Niveau sinken“.


Internet auch ...
Aus Nicholas Carr (2014), „Abgehängt“ (S. 100ff)
Google gibt zu, dass man dort einen Verdummungseffekt in der breiten Bevölkerung beobachtet hat, je entgegenkommender die Suchmaschine wurde, je besser sie voraussagte, wonach die Menschen suchten. Google korrigiert nicht nur Schreibfehler; es schlägt beim Eintippen Suchbegriffe vor, löst Mehrdeutigkeiten bei Suchanfragen auf und sieht unsere Wünsche voraus, basierend auf unserem Standort und unserem Verhalten in der Vergangenheit. Nun könnte man glauben, dass wir uns ein Beispiel an Google nehmen, je besser es unsere Suche präzisiert, würden unsere Suchbegriffe sorgfältiger formulieren und unsere Online-Suchen anderweitig verfeinern. Doch nach Aussage des leitenden Suchmaschinenentwicklers des Unternehmens, Amit Singhal, ist das Gegenteil der Fall. Im Jahr 2013 führte ein Reporter der Zeitung The Observer in London ein Interview mit Singhal über die vielen Verbesserungen an der Google-Suchmaschine im Laufe der Jahre. »Wir sind wohl bei der Auswahl der Suchbegriffe präziser geworden, je mehr wir Google benutzt haben«, vermutete der Journalist. Singhal seufzte und widersprach dem Reporter »ziemlich resigniert«: »Leider ist es genau anders herum. Je präziser die Maschine wird, umso nachlässiger werden die Fragen.«
Doch möglicherweise wird mehr als nur unsere Fähigkeit, gut durchdachte Anfragen zu formulieren, durch den Komfort der Suchmaschinen beeinträchtigt. Mehrere Experimente, über die in Science im Jahr 2011 berichtet wurde, deuten darauf hin, dass die einfache Verfügbarkeit von Informationen im Netz unser Wissensgedächtnis schwächt. Bei einem Experiment lasen Probanden ein paar Dutzend einfache, wahre Aussagen - »das Auge eines Straußes ist größer als sein Gehirn« etwa - und tippten sie dann in einen Computer. Der Hälfte der Testpersonen wurde gesagt, der Computer speichere, was sie tippten; die andere Hälfte glaubte, die Sätze würden gelöscht. Danach sollten die Teilnehmer alle Aussagen aufschreiben, an die sie sich erinnerten. Die Probanden, die geglaubt hatten, die Informationen würden gespeichert, erinnerten sich an signifikant weniger Fakten als jene, die davon ausgegangen waren, dass die Aussagen gelöscht würden. Allein das Wissen, dass Informationen in einer Datenbank verfügbar sind, verringert anscheinend die Wahrscheinlichkeit, dass unser Gehirn sich die Mühe macht, Erinnerungen zu bilden. »Suchmaschinen sind heute immer verfügbar, daher glauben wir häufig, wir müssten die Informationen nicht intern enkodieren«, schlossen die Forscher. »Wenn wir sie brauchen, schlagen wir sie nach.« …
Google und andere Software-Unternehmen arbeiten natürlich daran, uns das Leben zu erleichtern. Das erwarten wir von ihnen, und dafür lieben wir sie. Doch je mehr ihre Programme für uns denken, umso mehr verlassen wir uns natürlich auf die Software und weniger auf unseren eigenen Verstand. Wir leisten immer weniger Erzeugungsarbeit. Wenn das geschieht, lernen wir immer weniger und wissen immer weniger. Wir werden unfähiger. Der Informatiker Mihai Nadin von der Universität Texas bemerkte in Bezug auf moderne Software: »Je mehr die Schnittstelle menschliche Arbeit ersetzt, umso schlechter kann sich der Nutzer an neue Situationen anpassen.« Die Automatisierung durch Computer führt zum Gegenteil des Erzeugungseffekts: dem Degenerationseffekt.

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