Offener Raum

WAS IST ANARCHIE? BEGRIFF UND WIRKLICHKEIT ZWISCHEN AUFSTAND & LEBENSGEFÜHL

Anarchie - der Begriff für alles, auch völlig Verwirrtes


1. Definitionen
2. Anarchie - der Begriff für alles, auch völlig Verwirrtes
3. Was bleibt an zentralen Definitionspunkten?
4. Varianten des Anarchismus
5. Links und Lesestoff

Anarchie erscheint als Containerbegriff für alles Mögliche - angefangen von rosaroten Welten, in denen alle sich lieb haben, bis hin zum Inbegriff von triefenden Blut, Chaos oder wahlweise Terror. Dazwischen wird die Anarchie kurzentschlossen auch für die Demokratie vereinnahmt und soll deren Reinstform oder höchste Entwicklung darstellen. Offenbar löst der Begriff starke Gefühle wie Hoffnungen, Angst oder Sehnsüchte aus, ohne dass er auf eine eigene Geschichte der Praxis zurückblicken könnte wie beispielweise der Kommunismus (falls mensch die peinlich personenzentrierten Versuche hochaufgeblähter Staatsapparate, die ihre BürgerInnen noch mehr fürchteten als den Kapitalismus, als gelebten Kommunismus ansehen will). Unter dem Banner des Kommunismus wurden Kriege geführt, Länder erobert und Heldengeschichten geschrieben. Das nährt Emotionen - aber der Anarchismus? Die kleinen Versuche in der Ukraine oder, wegen des antifaschistischen Glanzes wenigstens etwas bekannter, in Spanien fristen auf den Nebenplätzen der Geschichte ein Randdasein. Kleinste Ansätze libertärer Republiken auf deutschem Boden hat es gegeben, aber die Münchener Räterepublik dürfte es regelmäßig nicht einmal in den Schulunterricht schaffen. Noch trauriger fristet die Republik Schwarzenberg ihr Dasein im Land des Vergessens. Hätte nicht Stefan Heym per Roman die Erinnerung wachgerufen, gäbe es wahrscheinlich kaum jemanden, der mit ihr etwas anfangen könnte.
Es mag dahinstehen, ob die kleinen oder ganz kleinen Versuche überhaupt schon so etwas wie Anarchie, also herrschaftsfreie Gesellschaft, hervorbringen konnten. Unklar ist, ob sie auch längerfristig hätten erhalten und entwickeln können, denn sie sind alle durch äußere Gewalt beendet worden und auch deshalb schnell in Vergessenheit geraten.

Vielleicht aber gibt es noch einen anderen Grund, warum anarchistische Experimente verschwiegen werden und gleichzeitig der Begriff so voll Elend und Abschau gepumpt wird, nämlich die Angst vor einem Eingeständnis: Wäre Anarchie nicht die konsequente Form dessen, was all die Moralapostel der besseren Welt, von Urkirchen bis Bionade, so predigen? Um diesen Gedanken nicht zuzulassen, bedarf es eines Diskurses, dessen Ziel auch der eigene Kopf ist. Und so wütet eine unfassbare, zerstörerische Wucht in dem kleinen Wörtchen, welches damit zum Tabu aufgebaut wird - zum absoluten No-Go eines jeden aufgeklärten, zivilisierten Geistes. Schauen wir einmal in diese Abgründe der Definitionen von Anarchie, die von der alten "Welt" bis zur "Jungen Welt" durch den Blätterwald, Parteitagsreden und demokratischer Verblendung rauschen.

An dieser Stelle als Einschub: Das Kapitel über "Hetze gegen Anarchie"

Sympathie für die Anarchie - oft absurd wie die Hetze
Neben all der Hetze taucht der Begriff "Anarchie" selten, aber eben doch immer mal wieder, an überraschenden Orten ganz positiv auf - und das sogar aus der Mitte der Gesellschaft, von den GralshüterInnen der Demokratie. Wie tickt eine Parlamentszeitschrift, die allen Ernstes behauptet, das heutige Indien biete wegen der vielen Machtzentren (u.a. Armee), die sich gegenseitig in Schach halten, "das Bild ... einer funktionierenden Anarchie"? Was muss in Attac-FunktionärInnen gefahren sein, die - "zutiefst fasziniert" - im Layout des drögen Wochenblattes ZEIT "viel Anarchie" entdecken? Anarchie wandelt sich hier in einen sympathischen Begriff. Doch vielleicht ist auch das nur eine weitere Methoden, wie die Idee der Herrschaftslosigkeit zum Tabu gesellschaftlicher Debatte gemacht wird: Sie wird zu einer Art Kunstwerk erklärt, inhaltlich dabei entleert und dann nicht mehr ernst genommen.

Im Original: Anarchie als Bild, Layout, Kunstwerk
Behauptung, Indien sei aktuell eine Anarchie, in: Das Parlament Nr. 32 - 33 vom 7.8.2006
Alle wichtigen Akteure haben die formellen und informellen Spielregeln des demokratischen Wettbewerbs akzeptiert. Somit gibt es keine bedeutsamen Gruppen wie zum Beispiel die Armee, welche die indische Demokratie in Frage stellen. Diese gegensätzlichen Aspekte bestimmen das Bild Indiens als einer funktionierenden Anarchie.

Aus einem Brief von Attac an die Herausgeber der Zeit am 21.3.2009
Unsere Layouterin lässt übrigens ausrichten, dass es sie zutiefst faszinierte, wie viel Anarchie in dem für den unbedarften Betrachter so klaren Layout der Zeit versteckt ist.

Es gibt weitere Ausnahmen von der anti-anarchistischen Verklärung der Herrschaftsfreiheit als Werk des Teufels. Ein, die oft wie ein Versehen wirkt, ist der stilistische Rückgriff auf anarchistische Bilder, die als Symbol für Kreativität und Brillanz stehen. Sie beschreiben dabei aber immer nur Einzelhandlungen, so wie ausgerechnet die deutsche Fußballnationalmannschaft. Schon 2006 galt ihr Erfolg dem "anarchischen" Konzept. Und 2010, als der Mannschaftsführer kurzfristig wegen Verletzung passen musste, aber die zur deutschen Nation gerechneten Kicker ungewöhnlich erfolgreich auftraten, überstürzten sich die Medien mit ihren Analysen, dass der gleichberechtigte Tanz Aller das Geheimnis des Erfolgs sind. Aber niemand kam auf die Idee, das mal auf die Gesellschaft zu übertragen - und die meisten Anarch@s verpassten diese Chance auch, weil sie, um ihren Anarch@-Coolnessfaktor nicht zu gefährden, Zimmer oder Laptoptaschen mit Anti-WM-Aufkleber dekoriert hatten und nur heimlich Fußball guckten.
Wobei Zweifel bleiben, ob die Balltreter denn wirklich so außerhalb der DFB-Hierarchien und Deutschtümelei standen ...

Rechts: Positiver Anarchiebegriff in England (zur Fußball-WM 2006), gefunden in: FR, 26.6.2006

Mit einer weiteren Ausnahme von der allgemeinen Hetze erweitert sich der Fanblock anarchistischer Gedanken und erreicht beeindruckend seltsame Kreise. "Anarchie an der Börse" sei eine unverschämte Verdrehung zu Propagandazwecken, befanden ausgerechnet die Ultra-Marktradikalen und Ex-Ökos Maxeiner und Miersch. Sie schimpften über die Hetze gegen die Anarchie und meinten damit nicht, wie ihre KollegInnen von Manager-Magazin und n.tv, den Sturm blutüberströmter, feuerlegender Teufel in Menschenkörpern, sondern ganz positiv eine Art von Freiheit. Beide warben offen für die Anarchie, die mit ihnen und einigen anderen teils aus bürgerlichen, teils aus marxistischen, teils aus rechten politischen Lagern stammenden Personen die Strömung der AnarchokapitalistInnen bilden. Spätestens diese Wortschöpfung beweist, dass Anarchie einfach alles sein kann und nur eines sicher ist: Ein Containerbegriff für große Gefühle.

Im Original: Anarcho-Kapitalismus
Überraschende Pro-Anarchie-Positionen von den Marktradikalen Dirk Maxeiner und Michael Miersch
Der schlimmste Feind des Anarchisten ist der Journalist. Ihm verdankt er seinen schlechten Ruf. Was steht in der Zeitung, wenn Drogenbosse und Clanführer in Afghanistan aufeinander los gehen? Anarchie am Hindukusch! ... Wie heißt es, wenn die Kurse mal verrückt spielen: Anarchie an der Börse! Und wenn irgendwo Bombe unbekannter Herkunft explodiert, werden garantiert Anarchisten dahinter vermutet. Der Leser lernt: Anarchie heißt Chaos. ... Über dem ersten RAF-Steckbrief in den siebziger Jahren prangten die Worte "Anarchistische Gewalttäter", obwohl die Baader-Meinhof-Bande sich als kommunistischer Guerillatrupp verstand. ... Freiwillige Zusammenschlüsse ohne Hierarchie und größtmögliche Freiheit des Individuums: So stellen sich Anarchisten die ideale Gesellschaft vor. Das müsste eigentlich jedem einleuchten, der sich aus seiner "selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) befreien möchte. Nur möchte das gar nicht jeder: Aus verständlicher Bequemlichkeit und Verantwortungsscheu ziehen es viele Menschen vor, ihre Interessen zu delegieren, anstatt andauernd für sich selbst haftbar zu sein. Und deshalb ist der Anarchismus immer ein Minderheitenprogramm geblieben. Zu schön um wahr zu sein. Und vor allem viel zu anstrengend, um Mehrheiten dafür begeistern zu können. ... Anarchisten halten uns den Spiegel vor: So könnte die Welt aussehen, wenn wir wirklich aufgeklärt, mündig und frei wären! Dafür sollte man ihnen ein bisschen dankbar sein und sie nicht ständig als Terroristen oder Chaoten missverstehen. Also, liebe Kollegen in den Medien, wenn das nächste mal irgendwo Chaos herrscht und ihr wollt einen Wiederholungsfehler vermeiden: Nehmt "Durcheinander", "Wirrwarr", "Unordnung" - aber bitte nicht "Anarchie".

Beispielhafte Seiten der AnarchokapitalistInnen und Umfeld:

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