Offener Raum

POLITISCHE ERKLÄRUNG IM PROZESS GEGEN JÖRG B. (21.5.2002) IN STUTTGART

Politische Erklärung zur Aktion gegen das Atomforum

Prozeß wegen Hausfriedensbruch, siehe auch: Aktionen gegen Atomforum +++ Bericht Hauptverhandlunghaft

Ich möchte eine Erklärung abgeben zu den Motiven, die hinter Handlungen stehen, wiesie mir vorwerfen. Ich möchte damit auch meine Sympathie und Unterstützungfür solche Aktionen und Beweggründe zeigen. Vorweg möchteich aber einige Bemerkungen zur Situation machen, in der wir hier stehen.Sie sind mir wichtig, weil sie den Rahmen des Prozesses aufzeigen und auchviel mit meinen Motiven, vor allem meinem starken Haß auf herrschaftsförmige Beziehungen zwischen Menschen zu tun haben.

Wir sitzen hier unfreiwillig im gleichen Raum. Und wir sind nicht gleichberechtigt. Ich bin hier mit Handschellen hereingeführt worden – das zeigt bereits, welchen Rahmen ein solcher Prozeß hat. Doch es geht weiter. Schon bei den Fragen, wer ich bin, äußert sich mehrfach die Fremdbestimmung. Daß ich als Mann zu gelten habe, wurde ich nie gefragt. Daß ich Deutscher bin, ist ein Zwangsverhältnis, zu dem ich nie befragt wurde. Daß die Gesetze des absurden Herrschaftskonstrukts Deutschland für mich gelten sollen – auch dazu habe ich meine Zustimmung nie erteilt. Was hier im Raum herrscht, ist Ihr Regime, das Sie „Bundesrepublik Deutschland“ oder auch „Demokratie“ nennen. Meine Welt ist, zumindest als Wille und Versuch, die der „Freien Menschen in Freien Vereinbarungen“, der direkten und sozialen, in jedem Fall aber gleichberechtigen Entscheidung, Diskussion und Intervention im Fall von Streit und Dominanz. Ihre und meine Welt sind unvereinbar, aber sie akzeptieren meine nicht, sondern unterwerfen mich ihrem Regime – so wie Sie es mit alle anderen angeklagten Menschen auch tun.

Hier vor Gericht zeigt sich das. Hier besteht keine gleichberechtigte Situation. Hier gibt es nur einseitige Macht. Ein Gerichtsprozeß ist ein Vorgang der Herrschaftsausübung. Sie richten über mich – so wie sie tagtäglich über Menschen richten. Es ist die Arroganz der Macht, daß sie dasitzen und jeden Tag das soziale Leben mehrerer Menschen zerstören – Sie persönlich. Alle Gerichte zusammen schaffen weit mehr: Hunderte sind es jeden Tag in Deutschland, Tausende weltweit. Ihre Entscheidungen killen soziale Beziehungen, errichten Mauern zwischen Freundschaften und zerstören viele Menschen. Sie tun das für Geld und mit dem Selbstbetrug, zu glauben, daß ihre Tätigkeit im Dienste der Gerechtigkeit steht. Aber das tut sie nicht, sie ist unmenschlich, brutal, kalt, herrschaftsförmig.
Ich habe die Wirkungen in den letzten acht Tagen erlebt: Gefangen, ohne jeglichen Kontakt zu meinem sozialen Umfeld, ich durfte nicht telefonieren – nichts. Dieser Prozeß wird keine Ausnahme sein. Sie werden wieder den Daumen senken und diesmal mich treffen, aber später, morgen, immer wieder werden sie viele Menschen als soziale Wesen zu zerstören versuchen, viel härter als es mich erwartet.

Das ist der Rahmen. Ich möchte einige Bemerkungen hinzufügen, die für den ganzen Prozeß wichtig sein werden.
1. Ich gebe eine politische Erklärung ab, aber ich werde mich nicht zur Sache äußern.
2. Ich werde mich bemühen, eine geschlechtsneutrale Sprachform zu nutzen. Das bedeutet, daß ich weder in der üblichen männlichen noch in einer weiblichen oder einer männlich-weiblichen Form sprechen werde – also auch nicht z.B. „Richterinnen und Richter“. Es ist nämlich in der Regel überflüssig, ständig Menschen einem oder zwei Geschlechtern zuzuordnen. Ich habe mich entschieden, ein „is“ zu verwenden. Gewöhnen Sie sich also an Begriffe wie „Richtis“ oder „Polizistis“.
3. Ich werde immer wieder Beispiele aus den vergangenen acht Tagen benennen. Knast ist die härteste Form staatlicher Gewaltausübung. Meine Erlebnisse sind entsprechend intensiv.

Ich möchte zwei Punkte benennen, warum ich Aktionen, wie Sie die für den 14. Mai am Vormittag auf dem Dach des Max-Kade-Hochhauses beschreiben, für richtig und notwendig halte. Es geht um die konkrete Sache sowie um die dahinterstehenden Herrschafts- und Verwertungsstrukturen. Diese Überlegungen sind auf andere Aktionsformen übertragbar – auch auf diesen Prozeß und mein Verhalten heute.

Der Protest gegen die Atomenergie ist gerechtfertigt. Atomenergie ist unbeherrschbar, auch im Normalbetrieb stark umweltbelastend, z.B. beim Uranabbau und wegen der mit Großkraftwerken durch Abwärme und Leitungsverluste verbundenen Energieverschwendung. Der Einwand, es gäbe ja schon ein Ausstiegsgesetz, kann nicht überzeugen, da es erstens die Restlaufzeit im Rahmen der bereits baulich zu erwartenden Lebenszeit eines Kraftwerkes festgesetzt wurde, also nichts verkürzt. Zum anderen hat dieselbe Regierung, die ihr Gesetz zwecks Wahlkampfs als Atomausstieg feiert, die Vervielfachung der Kapazität der Urananreicherungsanlage Gronau, wo die Brennstäbe produziert werden, genehmigt. Das deutet auf andere Pläne hin.

Hinter dem Betrieb der Atomkraft stehen zudem Herrschaft und Verwertung als Ganzes. Diesen Grund halte ich für noch entscheidender. Daß die Menschen in den Uranabbaugebieten verstrahlt werden, ihre Lebensgrundlagen zerstört werden, ist schlimm genug. Entsetzlich ist aber die Tatsache, daß sie keinerlei Chance der Mitbestimmung haben. Die Gier und Notwendigkeit zum Profit sowie die absichernden Herrschaftsstrukturen setzen den Abbau durch. Sie tun das auch bei den Atomanlagen, bei den Atommülltransporte. Und hier im Gerichtssaal. Kein Atomkraftwerk würde laufen, wenn es die Regierungen, die Polizei, die Behörden, die Gesetze und Standards und die Justiz, als Sie, nicht gäbe. Die Existenz dieser Herrschaftsstrukuren ist der eigentliche Skandal. Ob Atomkraft, die Abschiebung oder Gefangennahme von Menschen, Psychiatrisierung oder Bevormundung – alles folgt der gleichen Logik: Herrschaft.

Darum ist dieser Prozeß absurd. Denn ich bin nicht der, der angeklagt ist und sich verteidigen muß. Ich greife an, ich klage an. Das Herrschaftssystem und vielen kleinen Herrschaftsverhältnisse müssen weg – so wie Ihre Funktion als Justiz hier und heute. Statt eines Prozesses gegen den Widerstand gegen Macht wäre die Macht selbst auf die Anklagebank zu setzen. Deutschland – und die anderen Staaten -, Demokratie, Marktwirtschaft ... all diese Formen der Herrschaft gehören angeklagt. Und nur ein Urteil hilft: Todesstrafe gegen Deutschland! Weg mit Staat, Nation, Rassen, Geschlechtern, Bevormundung, Knast, Psychiatrie, Markt, Verwertung, weg mit aller Herrschaft! Übrig blieben die Menschen – und das wäre gut so!

Jörg Bergstedt, 21.5.2002, im Prozeß vor dem Amtsgericht Stuttgart (anschl. verurteilt zu 30 Tagessätzen)

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